Christentum für alle

Christentum für alle

Joachim Otto Mahrer


EUR 14,90
EUR 8,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 108
ISBN: 978-3-903271-21-0
Erscheinungsdatum: 01.04.2019
Viele Kirchen abseits der Touristenströme bleiben heute leer. Joachim Otto Mahrer analysiert die Gründe dafür und entwirft ein Gegenkonzept, das das religiöse Christentum stärkt und dem säkularen handfeste Rahmenbedingungen bietet.
I Einleitung

1
Christ sein oder nicht, das ist hier die Frage

Die Frage nach dem Christsein ist nicht neu. Die wohl berühmteste Antwort darauf finden wir bei Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) in der Tragödie „Faust“. Margarete, genannt Gretchen, will es von Doktor Heinrich Faust genau wissen: „Nun sag, wie hast du’s mit der Religion? Du bist ein herzlich guter Mann, Allein ich glaub, du hältst nicht viel davon.“ Faust weicht der Frage aus. Für Gretchen ist damit klar: „Denn du hast kein Christentum.“
Hat Gretchen recht? Wer nicht religiös ist, hat kein Christentum, ist kein Christ, obwohl er möglicherweise ein herzlich guter Mensch ist? Gretchen würde auch mich als Nichtchristen bezeichnen. Ich bin nicht religiös und gehöre keiner Kirche an. Aber wen interessiert schon Gretchens Meinung? Mich kümmerte sie jedenfalls nicht, bis meine Mutter im Sterbebett lag und in letzter Minute eine überraschende Kehrtwende machte. Und plötzlich ließ mich die Frage nach dem Christsein nicht mehr los. Die christlichen Kirchen sind sich mit Gretchen einig und beantworten die Frage nach dem Christsein schnell und selbstbewusst: Christ ist, wer sich zu Jesus Christus bekennt. Der Begriff „Christentum“ ist ein Bekenntnisbegriff. Die Begründung der Kirchen: Christentum kommt von Jesus Christus und von nirgendwo sonst. Jesus Christus und Christentum bilden eine Einheit, die untrennbar ist. Der bekannte Theologe Hans Küng (geb. 1928) bringt es auf den Punkt: „Das unterscheidend Christliche ist der Christus Jesus selbst.“
So weit so gut! Die kirchliche Doktrin ist einleuchtend und verständlich, aber sie schafft Probleme, welche das gesamte Christentum in seiner Existenz bedrohen.


Das erste Problem:
Nichtreligiöse Kirchenmitglieder sind keine Christen

Die Zahl ist gewaltig: Die Hälfte aller Mitglieder der römisch-katholischen Kirche und der evangelisch-reformierten Landeskirche in der Schweiz glaubt heute gar nicht mehr an einen Gott. Jedes zweite Kirchenmitglied, und ich wiederhole, jedes zweite Kirchenmitglied ist der kirchlichen Doktrin folgend kein echter Christ mehr. Jetzt aber einmal Hand aufs Herz! Welchem Kirchenmitglied käme es je in den Sinn, sein eigenes Christsein in Frage zu stellen? Vermutlich keinem einzigen. Auch nichtreligiöse Kirchenmitglieder bezahlen Kirchensteuern in der festen Gewissheit, echte Christen zu sein. Die Gewissheit ist aber, wie wir sehen, eine falsche. Und was machen die Kirchen? Nicht das, was sie tun sollten. Sie müssten den nichtreligiösen Mitgliedern die Augen öffnen und die Wahrheit sagen. Tatsache ist: Die Kirchen haben Angst, noch mehr Mitglieder zu verlieren, schweigen das Problem lieber tot und halten die Steuerhand weiter offen.


Das zweite Problem:
Konfessionslose können keine Christen mehr sein

Viele Kirchenmitglieder stehen zu ihrer Nichtreligiosität und verlassen die Kirche. Sie wollen aber auch als Konfessionslose weiterhin Christinnen und Christen sein. Ihr Verständnis von Christsein ist ein ganz anderes als dasjenige der Kirchen: Nicht Jesus Christus ist das unterscheidend Christliche, sondern die vorbildliche Lebensführung in der säkularen Gesellschaft nach einem christlichen Menschenbild mit Werten wie Gerechtigkeit und Gleichheit. Der Begriff „Christentum“ ist in den Augen der Konfessionslosen nicht mehr nur ein Bekenntnisbegriff, sondern auch ein Kulturbegriff. Die Konfessionslosen stellen sich auf den Standpunkt, dass die Einheit von Christentum und Jesus Christus im 20. Jahrhundert auseinandergebrochen ist. Aber so sicher sind sich die Konfessionslosen halt auch nicht. Die Frage der Legitimität sitzt ihnen tief im Nacken, ein ganzes Bündel voller Widersprüche:

Christliche Kirchen, die ihre eigene Doktrin nicht ernst nehmen,

Mitglieder einer Kirche, die sich ungeniert als Christen bezeichnen, obwohl sie nicht religiös sind und

Konfessionslose, die Christen sein wollen, aber nicht wissen, ob sie das überhaupt sein dürfen.

Die Kirchen haben kein Interesse daran, die Widersprüche aufzudecken und einen Brandbeschleuniger in Gang zu setzen. Sie schließen zwar die Konfessionslosen vom Christentum aus, nicht aber ihre eigenen Mitglieder. Sie nehmen damit in Kauf, dass der Begriff „Christentum“ immer schwammiger und löchriger wird. Wer weiß heute noch, was Christentum genau bedeutet? Ein Bekenntnisbegriff steht in Feindschaft mit einem Kulturbegriff. Ich mache mich nach dem Studium an der Theologischen Fakultät der Universität Bern im Herbst 2017 selbst auf den Weg, eine Antwort zu finden. Schnell wird mir einmal klar, dass es nur zwei Lösungswege geben kann, die konsequente Durchsetzung der kirchlichen Doktrin oder einen offenen Zugang zum Christentum für alle Menschen, auch für die nichtreligiösen.


Der erste Lösungsweg:
Die kirchliche Doktrin wird konsequent umgesetzt

Die kirchliche Doktrin macht den strikten Ausschluss der nichtreligiösen Mitglieder vom Christentum notwendig, auch der Kirchenmitglieder, mit fatalen Folgen. Die Säkularisierung der westlichen Gesellschaften ist nicht mehr aufzuhalten. Immer weniger Leute sind religiös. Mit jedem Menschen, der aufhört zu glauben, verliert das Christentum eine Christin oder einen Christen. Der zunehmende Verlust an Christen führt zwangsläufig zu einem Aussterben des Christentums. Das Christentum darf aber nicht aussterben, vor allem nicht als eine kulturell fest verankerte Lebensform. Die strikte Umsetzung der kirchlichen Doktrin ist der Weg in die Sackgasse.


Der zweite Lösungsweg:
Das Christentum wird allen Menschen geöffnet, auch den nichtreligiösen

Ich kann das Thema „Christentum“ drehen und wenden, wie ich will: Die Öffnung des Christentums für alle Menschen, auch für die nichtreligiösen, ist der einzig gangbare Weg, um den Niedergang des Christentums zu stoppen und zugleich die Bedürfnisse aller an ihm interessierten Menschen zu erfüllen. Ich postuliere deshalb einen offenen Zugang zum Christentum. Jedermann soll Christin oder Christ werden können. Das hört sich vorerst einmal sehr schön an, aber ein offenes Christentum zu fordern, ist das eine, das Postulat praktisch umzusetzen, das andere, und das wird nicht einfach sein. Schnell türmen sich ein paar gewaltige Felsbrocken auf, zum Beispiel folgende Fragen:

Wie kann das Christentum neu gestaltet werden, damit religiöse und nichtreligiöse Menschen diesem beitreten können? Braucht es eine Aufteilung in einen konfessionellen und einen säkularen Teil?

Sind die christlichen Kirchen mit einer Aufnahme der nichtreligiösen Menschen in das Christentum überhaupt einverstanden? Haben die Kirchen einen Trumpf in der Hand, um die Aufnahme zu verhindern?

Ist der offene Zugang zum Christentum auch ein freier? Ist das Christsein in Zukunft ein Freipass für eine selbstbestimmte und moralisch fragwürdige Lebensführung oder die verbindliche und verantwortungsvolle Teilnahme an der christlichen Gemeinschaft mit roten Linien, die nicht überschritten werden dürfen?

Falls es uns gelingt, Antworten auf diese Fragen zu finden, steht der Gestaltung eines neuen und attraktiven Christentums nichts mehr im Wege. Dabei wird es zu einem großartigen Revival des Christentums kommen. Mit dem Einzug der nichtreligiösen Menschen finden endlich die liberalen Vorstellungen von Aufklärung und Französischer Revolution ihren festen Platz im Christentum. Und in der Schweiz sind plötzlich 90?% der Bevölkerung authentische Christinnen und Christen.
Auch die Kirchen erleben eine Renaissance. Die nichtreligiösen Mitglieder verlassen zwar die Kirchen, weil sie jetzt Christ sein können, ohne Kirchensteuern bezahlen zu müssen, sie reißen allerdings mit ihrem Weggang ein tiefes Loch in die kirchlichen Kassen. Das ist für die Kirchen aber keine Katastrophe, im Gegenteil: Mit dem Weggang der nichtreligiösen Mitglieder können sie sich endlich von allen Widersprüchen und überflüssigen Strukturen befreien und sich ganz auf die Bedürfnisse der religiösen Menschen konzentrieren. Meine Vision ist eine schlanke Kirche, welche ausschließlich der Verkündigung des Evangeliums dient. Der Isenheimer Altar in Colmar mit seinen großartigen Gemälden aus dem 16. Jahrhundert ist ein sehr schönes Beispiel dafür, wie man die Botschaft von Jesus Christus ohne komplizierte theologische Konstrukte einfach und verständlich vermitteln kann. Mit dem Isenheimer Altar im Auge werde ich aufzeigen, wie eine neue, auch betriebswirtschaftlich gesicherte Kirchenstruktur gelingen kann.
Der Fokus meiner Arbeit liegt auf dem Christentum in der Schweiz und den beiden großen christlichen Kirchen, der römisch-katholischen Kirche und der evangelisch-reformierten Landeskirche. Ich bin Schweizer, hier lebe ich, hier kenne ich die gesellschaftlichen Verhältnisse.


2
Einmal Christ, immer Christ

Meine Mutter liegt mit 94 Jahren im Sterben, aber sie kann offensichtlich nicht loslassen. Die Krankenpflegerin meint, sie habe noch „offene Rechnungen“ aus dem Leben. Dann der erlösende Anruf. Die Mutter sei jetzt friedlich gestorben, allerdings erst, nachdem sie den Pfarrer gerufen und die Krankensalbung von ihm erhalten habe. Der Schock in der Familie sitzt tief. Die Mutter verlässt in jungen Jahren die römisch-katholische Kirche, Kirchen und Pfaffen sind ihr ein Gräuel. Und nun das! Die Familie kann es nicht fassen, ist ratlos und überfordert. Was mögen die Motive gewesen sein? Hat etwa die Hoffnung auf ein ewiges Leben über die Vernunft gesiegt? Wir werden es nie erfahren. Ich will trotzdem versuchen, eine Antwort zu finden. Zwei Motive sind möglich: Ein religiöses oder Schuldgefühle.
Das erste Motiv: Die Mutter tritt formell aus der Kirche aus, ist aber immer noch religiös. Sie war eine pragmatische, rational denkende und handelnde Person. Wissen und Vernunft lagen ihr näher als religiöse Offenbarungen. Ich habe sie nie beten sehen, auch dann nicht, als ihre Eltern gestorben sind. Ich behaupte, dass die Mutter nicht religiös war. Das religiöse Motiv trifft aus meiner Sicht nicht zu.
Das zweite Motiv: Die Mutter ruft den Pfarrer, weil sie als Christin sterben wollte. Die Mutter wächst in engen, bürgerlichen Verhältnissen auf. Der Erste Weltkrieg ist vorbei, der Zweite steht vor der Tür. Die Grenzen werden geschlossen. Es wird still in der Schweiz. Die kirchlichen Autoritäten greifen immer noch rigoros in das Leben der Menschen ein. Wer die Kirche verlässt, wird gesellschaftlich ausgegrenzt. Er verliert den Status „Christ“ und wird zum Feind Gottes und damit auch der Menschen. Hier das Gute, dort das Böse. Die kirchliche Strategie ist ein voller Erfolg. Die Leute wollen nicht ausgegrenzt werden und gehören deshalb einer Kirche an.
Das zweite Motiv scheint mir zuzutreffen. Die Mutter hat unter Schuldgefühlen gelitten, weil sie keine Christin mehr sein konnte. Sie wollte die Schuldgefühle zum Lebensende hin loswerden und als Christin sterben, nicht als Atheistin, Anti-Christin, Nihilistin oder gesellschaftliche Außenseiterin. Sie wollte sich mit der Kirche versöhnen und in Frieden sterben. Es ist das Geschäft der Kirchen mit den Schuldgefühlen, es ist heute aber schwierig geworden. Die Person „Jesus Christus“ wird den modernen Menschen, vor allem den jungen, immer fremder und exotischer. Immer mehr Leute verlieren die Religiosität und verlassen die Kirchen. Die Leute wollen aber weiterhin Christinnen und Christen sein. Christsein ist kein Kleid, das man beliebig an- und ausziehen kann. Christsein bedeutet Heimat, Sicherheit, eine gute Lebensform und Identität. Einmal Christ, immer Christ.


3
Mit 70 nach der Wahrheit suchen

Weshalb schreibe ich dieses Buch über das Christentum? Der überraschende Entscheid der Mutter kurz vor dem Tod, die Dienste der Kirche wieder in Anspruch zu nehmen, ist sicher einer der Beweggründe. Zudem missfällt mir, dass sich nichtreligiöse Kirchenmitglieder Christen nennen können, Konfessionslose hingegen nicht. Das Alter spielt auch eine Rolle. Mit 70 Jahren kommen plötzlich Fragen zur Religion auf. Ich bin nicht religiös. Fragen über ein Leben nach dem Tod interessieren mich nicht, andere schon, zum Beispiel solche:
Zehntausende von Gläubigen aus aller Welt strömen tagtäglich in die Kathedrale von Toledo, in die Basilika Sagrada in Barcelona oder den Petersdom in Rom. Nein, nicht Gläubige, die zum Gottesdienst wollen, sondern Touristen. Die Besucherzahlen überraschen mich. Für einen kurzen Blick auf das Gemälde „Letztes Abendmahl“ von Leonardo da Vinci (1452–1519) in Mailand ist eine Reservierung mehrere Tage im Voraus notwendig. In Madrid fahren Reisecars lange Warteschlaufen vor dem Museo del Prado. Die riesigen Gemälde mit den religiösen Motiven ziehen nicht nur ältere Menschen, sondern auch junge Familien fest in ihren Bann. Tausende von Leuten machen sich jedes Jahr auf den Pilgerweg nach Santiago de Compostela. Und immer mehr Menschen entfliehen dem Alltag, um Ruhe und Spiritualität in einem Kloster zu finden. Ich verstehe es nicht. Immer weniger Leute gehen zu den Gottesdiensten und beten. Die normalen Kirchen sind am Sonntag fast leer. Und dann rennen dieselben Leute kopfüber in irgendwelche Prestige-Kirchen. Ich will ehrlich sein: Meine Frau und ich machen das auch. Wir haben nichts ausgelassen, weder die Kathedrale von Toledo noch die Heilig-Blut-Basilika in Brügge, die Portugiesische Synagoge in Amsterdam, die St Paul’s Cathedral in London, die Hagia Sophia in Istanbul, die Mezquita-Kathedrale in Cordoba, die buddhistischen Tempel und die shintoistischen Schreine in Kyoto und Nara. Weshalb machen wir das? Ist es die Architektur, die Geschichte, die mystische Atmosphäre? Oder weil es sonst nichts zu sehen gibt außer ein paar Shopping-Meilen mit den immer gleichen Megastores und Food-Courts?
Eine andere Frage beschäftigt mich auch. Haben Religionen eine Lizenz zum Töten? Die dunklen Seiten der religiösen Geschichtsbücher sind durchtränkt von Gewalt. Selbst die sonst als friedlich geltenden Buddhisten werden plötzlich aggressiv und vertreiben muslimische Minderheiten aus Myanmar. Was läuft schief mit den Religionen?
Die Fragen bleiben unbeantwortet, die Diskussionen im Familien- und Freundeskreis sind unbefriedigend. Ich will endlich mehr über die Religionen wissen. 2013 marschiere ich von zuhause los und beginne ein Studium an der Theologischen Fakultät der Universität Bern, Fachgebiet „Interreligiöse Studien“ mit den fünf großen Religionen: Christentum, Judentum, Islam, Buddhismus und Hinduismus.
Aufgewachsen bin ich in Rheinfelden. Die Jugendzeit am Wasser ist eine spannende und schöne, die erste Erfahrung mit der römisch-katholischen Kirche eine sehr bedrückende. Ich kann zum 6. und 9. Gebot des Dekaloges sagen, was ich will, die Beichtstrafe ist immer dieselbe: 30 Vaterunser und 30 Ave Maria. Und der Freitagnachmittag ist wieder einmal dahin. Im Alter von 19 Jahren befreie ich mich vom Elternhaus, studiere Ökonomie und heirate. Aus der Ehe stammen zwei Kinder und drei Enkelkinder. Nicht nur mein Privat-, auch mein Berufsleben ist erfüllt. Ich verbringe fünf Jahre in Venezuela und ein Jahr in Singapur.
Das Studium beginnt im Frühjahr 2013 mit dem Grundkurs „Umwelt des Neuen Testamentes“. Es geht um die jüdische und hellenistisch-römische Umwelt, um Politik, Gesellschaft und religiöse Bewegungen. Zwanzig junge Studierende, die Mehrheit Frauen, sitzen an den Tischen. In den Diskussionen halte ich mich zurück, lasse den Jungen den Vorrang. Ich will kein alter Besserwisser sein. Meine Kleidung ist bescheiden. Nichts soll auf meine Vergangenheit als langjähriger Chef eines bekannten Schweizer Unternehmens hindeuten. Ich bin den Dozenten und jungen Studierenden dankbar, dass sie mich trotz des fortgeschrittenen Alters schnell akzeptieren. Das Studium endet im Frühjahr 2017 mit dem Seminar „Gerechtigkeit und Traditionsbruch: Die religiöse Gleichberechtigung der Frau im modernen Judentum“. Die notwendigen 120 ECTS-Punkte des Bachelor-Studiums sind erreicht. Mein Studium an der Theologischen Fakultät Bern hat im Familien- und Bekanntenkreis einen hohen Stellenwert, einen viel höheren als das bereits in jungen Jahren absolvierte Betriebswirtschaftsstudium an der Universität St. Gallen. Die Leute sind interessiert und wollen sofort viel wissen. Eine Bekannte nimmt mich während einer Geburtstagsfeier zur Seite und fragt: „Glaubst du, dass Gott existiert?“ Das ist für mich eine neue Erfahrung. Ich habe in der Wirtschaft gelernt, rational zu argumentieren. Nun bin ich plötzlich mit Fragen zum Glauben und zur Offenbarung konfrontiert. Der Weg von der Objektivität zur Subjektivität und Transzendenz ist ein steiniger und führt oft durch einen dunklen Wald. Eine Frage wird mir besonders häufig gestellt, nämlich ob ich zum „homo religiosus“ geworden bin und wieder in den Schoß der christlichen Kirche zurückkehre. Nein, ich bin nicht religiös geworden. Ich habe Paulus (vermutlich 5–64), Origenes (vermutlich 185–254), Augustinus (354–430), Thomas von Aquin (1225–1274), Luther (1483–1546), Calvin (1509–1564), Schleiermacher (1768–1834) und Karl Barth (1886–1968) gelesen. Ich habe mir Mühe gegeben, Platon (vermutlich 427–347 v. Chr.), Aristoteles (384–322 v. Chr.), Descartes (1596–1650), Kant (1724–1804), Derrida (1930–2004) und Agamben (geb. 1942) zu verstehen. Ich bin durch die geschichtlichen, philosophischen und dogmatischen Höhen und Tiefen der christlichen Theologie gegangen. Die Religiosität habe ich dabei nicht finden können. An einer Theologischen Fakultät erhält man viel Wissen, aber keinen Glauben. Die Trinitätslehre, das schwer verständliche Konstrukt aus dem 4. Jahrhundert mit der Ousia (dem Wesen Gottes) und den drei Hypostasen (Vater, Sohn und Heiliger Geist) ist mir fremdgeblieben, vor allem die Person des Heiligen Geistes. Ich bin wohl nicht der Einzige, der mit der Trinitätslehre Mühe hat. Eine Dozentin sagte es so: „Wenn wir den Jungen heute erklären wollen, was die Trinität ist, dann denken die, wir seien gaga.“ Andererseits habe ich gelernt, die Bibel in die Hand zu nehmen. Ich erinnere mich: Unser Dozent des Seminars „Einführung in das Alte Testament“ ist verärgert. Keiner der 20 Studierenden hat eine Bibel dabei. Nun muss er alleine die vielen Texte aus der Bibel vorlesen. Ich gehe am selben Tag in den Buchladen des Berner Münsters und kaufe die bekannte Zürcher Bibel. Die Gefühle beim Kauf sind allerdings beklemmend und ich komme fast ins Schwitzen. Ein Bekannter könnte mich im Münster zufällig sehen und falsche Schlüsse aus dem Bibelkauf ziehen. Ich sehe mich bereits dem Vorwurf der Bigotterie ausgesetzt. Weshalb diese Angst? Eine vernünftige Antwort darauf gibt es nicht. Das hat sich mit dem Studium geändert. Heute nehme ich die Bibel als literarische Schatzkammer für spannende und schöne Geschichten ganz selbstverständlich zur Hand.
Ich habe die Dozentinnen und Dozenten an der Theologischen Fakultät als hervorragende Lehrer und Pädagogen kennengelernt. Gewisse Sätze beschäftigen mich auch im Nachhinein noch, nämlich dass wir eine Krise der Institutionen hätten und keine Krise des Glaubens, und dass Ignoranz das wahre Problem der leeren Kirchen sei. Auch andere Dozentensätze, weniger ernste, sind mir in Erinnerung geblieben: Dass Platon geiler zu lesen ist als Aristoteles, das wusste ich allerdings schon vor dem Studium. Neu war mir, dass es nicht Aufgabe der Theologie sein kann, die Kirchen am Sonntagmorgen zu füllen. Bestätigt wurde mir der Verdacht, dass man das Alte Testament ohne ergänzende Kommentare nicht mehr verstehen kann. Das Überlebenskonzept aus dem alten Israel, die Feinde deiner Feinde sind deine Freunde, gilt wohl auch heute noch. Und dann ganz überspitzt: „Weshalb ist Jesus Christus zwischen Kreuzigung und Auferstehung ins Reich des Todes hinabgestiegen? Es war ihm in der Höhle wohl zu langweilig, und er hatte Hunger.“
Ich erinnere mich nur an Dozentensätze aus den Seminaren zum Christentum. Zu den Seminaren zum Islam, Buddhismus oder Hinduismus fällt mir außer Fakten nichts ein. Im Christentum lässt sich die eigene Person wohl problemlos mit Humor und Kritik einbringen. Kritik und Humor im Kontext des Korans? Wohl ein Ding der Unmöglichkeit!

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