Rückblicke auf eine Zeit der Umbrüche und Neuorientierungen

Rückblicke auf eine Zeit der Umbrüche und Neuorientierungen

Peter Fulde


EUR 24,90
EUR 19,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 284
ISBN: 978-3-99131-583-4
Erscheinungsdatum: 10.01.2023
Vom Zweiten Weltkrieg, der Zeit in der DDR und einer Republikflucht, die in die USA führte, über eine Rückkehr nach Deutschland bis hin zum Leben in Korea: Peter Fulde zeichnet seinen Weg nach, der von Umbrüchen geprägt ist – und seiner Liebe zur Wissenschaft.
An der Humboldt-Universität

In Berlin kam es zunächst darauf an, ein Zimmer zu finden. Vom Wohnungsamt wurde ich zu einem Bäckermeister und seiner Lebensgefährtin in der Bahnhofstraße in Köpenick verwiesen. Das Paar hatte damals eine kleine Wohnung, von der nun ein Raum abgegeben werden musste. Die beiden Vermieter waren in meinen Augen sehr ungleich. Der Bäckermeister war in jüngeren Jahren offenbar ein bekannter Radsportler gewesen. Die Frau war recht kultiviert und an Kunst interessiert, hatte jedoch ein schweres Schicksal erlitten. Während der Kämpfe um Berlin war ihr Mann vor ihren Augen erschossen worden. Nach kurzer Zeit merkte ich, dass sie Alkoholikerin war und sich zeitweilig völlig betrank. Anfangs hatte ich ein freundschaftliches Verhältnis zu ihr, das sich aber recht bald abkühlte. Schließlich musste ich ja in mein Zimmer gelangen können, wenn ich von der Universität kam. Das wurde allerdings oft schwierig, denn wenn die Frau Wirtin betrunken war, schloss sie die Wohnungstür von innen ab und ließ den Schlüssel stecken. So kam es mitunter zu recht kuriosen Situationen. Dennoch erhielt ich, davon unbeeindruckt, des Öfteren beim Frühstück eine Tüte mit dem Restgebäck des Vortags, welches ich gewöhnlich im Seminar verteilte. Nach nicht allzu langer Zeit gelang es dem Bäcker, das Wohnungsamt davon zu überzeugen, dass er das an mich vermietete Zimmer selbst benötigte. Das hatte zur Folge, dass ich ausziehen musste. Natürlich war es mein Wunsch, nahe dem Stadtzentrum ein Zimmer zu finden, denn die täglichen S-Bahn-Fahrten von Köpenick zur Friedrichstraße waren recht zeitaufwendig. Allerdings ergaben sich dabei auch ungewöhnliche Begegnungen. So nahm ich jeden Wochentag die S-Bahn um 7:05 Uhr zur Friedrichstraße und stieg auch immer in den gleichen Wagen ein. Dort sah ich dann einige Leute jeden Morgen wieder. Einmal traf ich während der Sommerferien in einem Café im Ostseebad Göhren eine Frau, die täglich im selben Berliner S-Bahn-Wagen wie ich fuhr. Obwohl wir nie zuvor ein Wort miteinander gewechselt hatten, begrüßten wir uns wie zwei alte Bekannte und freuten uns über das Wiedersehen.

Auf der Suche nach einem Zimmer im Stadtzentrum ergab sich die Gelegenheit, ein solches in der Köpenicker Straße in der Nähe des Alexanderplatzes zu mieten. Die Hausnummer war 75 oder 77. Als ich das Zimmer besichtigen wollte, stellte ich fest, dass das letzte intakte Haus eine Hausnummer unter 10 hatte. Nach diesem folgten nur ausgebombte Häuser beziehungsweise deren Ruinen, bis ab Nummer 71 die nächsten bewohnten Häuser folgten. Die Wirtin dort war schwerhörig und benutzte ein altes, großes Hörrohr, um mich zu verstehen. Das Zimmer dort führte zum Hinterhof und war so dunkel, dass man auch tagsüber ohne Beleuchtung nicht auskam. Als mir noch erzählt wurde, dass ein malachitgrüner Anstrich oft auf Wanzen deutete, für die ein solcher Anstrich giftig ist, verließ mich der Mut. Ich zog wieder aus und fand bei einem älteren Ehepaar in der Klarastraße in Oberschöneweide eine Bleibe. Die Wirtsleute waren ausgesprochen nett. Der Mann war früher Droschkenkutscher gewesen. In dem sehr kalten Winter von 1955 auf 1956 weckte er mich jeden Morgen mit der Mitteilung der täglich wechselnden Temperatur: „Guten Morgen, heute wieder minus 20 Grad!“ An solchen Tagen erreichte das Zimmer in der Nähe des Kachelofens Temperaturen von maximal 12 bis 14 Grad und in der Nähe des Fensters bis 5 Grad. All das störte mich jedoch wenig, denn alle Aufmerksamkeit galt dem Studieren. Die Vorlesungen über lineare Algebra und Differential- und Integralrechnung wurden von dem jungen Privatdozenten Kaiser gehalten. Auch Professor Kaluschnin hielt eine interessante Vorlesung in Mathematik. Die Lehrveranstaltung von Professor Rietschel über Experimentalphysik war dagegen wenig motivierend, da der Stoff ohne Rücksicht auf die Hörerschaft einfach abgespult wurde. Höhepunkt war eine Vorlesung von Professor Brauer über theoretische Physik. Der Stil der Vorlesung erschien uns neuartig, stellte er doch einen Übergang zur Moderne dar. Ein ganz besonderes Thema bildete die Pflichtvorlesung „Marxismus-Leninismus“. Der Dozent, ein Parteifunktionär, der allen akademischen Ansprüchen Hohn sprach, gab uns als Pflichtlektüre zahlreiche Kapitel aus den verschiedenen Werken Stalins zu lesen auf. Meine Frage, warum sich darin so viele Aussagen wiederholten, beantwortete er nach einigem Nachdenken mit: „Wichtige Dinge müssen öfters gesagt werden.“ Als er in einer anderen Vorlesung über Lenins Spruch „Kommunismus = Sowjetmacht + Elektrifizierung“ referierte, fragte ich, ob ich daraus schließen dürfe, dass „Sowjetmacht = Kommunismus – Elektrifizierung“ sei. Zuerst war er perplex, bevor dann ein Redeschwall auf mich niederprasselte.

Die Studienbedingungen von damals sind nicht mit den heutigen vergleichbar. Das hat uns aber nicht gestört, denn wir kannten ja keine anderen. In besagtem kaltem Winter waren die Hörsäle so wenig beheizt, dass wir manchmal in Mänteln und Handschuhen in den Vorlesungen saßen. Die Kartoffeln, die in der Mensa zum Mittagessen angeboten wurden, waren erfroren und schmeckten deshalb sehr süß. Ärgerlich war der Druck auf uns Studenten, der Gesellschaft für Sport und Technik beizutreten, wo man an Kleinkalibergewehren ausgebildet wurde. Inakzeptabel war für mich, dass Kommilitonen mit Propagandamaterial nach Westberlin geschickt wurden, um dieses in Briefkästen zu verteilen. Das war illegal, denn auch eine demokratische Gesellschaft mit Recht auf Meinungsfreiheit kann Einflussnahme von außen nicht akzeptieren. Als einer meiner Freunde das ganze Material in Westberlin in einen Papierkorb geworfen hatte, was von einem Spitzel in Westberlin der Universität gemeldet wurde, musste er erneut ähnliches Material in Westberlin verteilen und wurde dabei prompt verhaftet. Da es sich um einen Freund handelte, musste ich zusammen mit drei FDJ-Funktionären nach Westberlin in das Polizeipräsidium fahren, um eine Protestnote der Ostberliner Studentenschaft zu überreichen. Selten habe ich mich in solch einer unkomfortablen Situation befunden. Als wir im Präsidium eingetroffen waren, waren die Polizisten sehr freundlich, da sie zunächst dachten, wir wären Flüchtlinge aus dem Osten. Das änderte sich, als sie hörten, dass wir eine Protestnote abliefern wollten. Sie wurden sofort amtlich. Hinzu kam das agitatorische Gerede der FDJ-Funktionäre. Am liebsten wäre ich gleich in Westberlin geblieben.

Trotz der großen wirtschaftlichen und politischen Unterschiede zwischen Ost- und West-Berlin war es nicht selbstverständlich, von Ost nach West zu wechseln. Es gab viele Diskussionen unter uns, ob man nicht verpflichtet sei zu bleiben, um zu einer Änderung der Verhältnisse in Ostberlin beizutragen. Das waren alles Argumente, die im Nachhinein naiv und wirklichkeitsfremd erscheinen.

Das Studium an der Humboldt-Universität, wo sich unter Gleichgesinnten ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelte, hatte eine eigene Faszination. Das Theater am Schiffbauerdamm mit Bert Brecht und Helene Weigel war in der Nähe der Uni, und die Aufführung der „Mutter Courage“ mit der Weigel als Marketenderin wird mir immer in Erinnerung bleiben. Dagegen fuhr man zu „Jazz in der Philharmonie“ in den Sportpalast am Potsdamer Platz oder ging, um Westfilme zu sehen, in eines der Kinos am Kurfürstendamm, wo lange Orphée von Jean Cocteau gezeigt wurde. Der Umtauschkurs von Ost- und Westmark betrug zwar 10:1, und mit dem Höchststipendium von 200 Ostmark pro Monat, welches ich damals bekam, konnte man gewiss keine großen Sprünge machen. Aber wir waren schließlich sehr genügsam, und ich hatte niemals das Gefühl, unter Geldmangel zu leiden. In der „Eierschale“ am Breitenbachplatz, einem beliebten Dixieland-Lokal, kostete eine Flasche Coca-Cola 0,20 DM (West), und damit konnte man einen ganzen Abend verbringen.

Im Sommer 1955 trampte ich mit zwei Kommilitonen zum Campen an die Ostsee nach Göhren. Einer der beiden war mein Freund Heinz Schulz (späterer Direktor der Bayerischen Mineraliensammlung und als solcher mit dem Bayerischen Verdienstorden geehrt). Damals war die Küste sogenanntes Sperrgebiet, in das man außer als Urlauber des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) nicht ohne weiteres kam. Deshalb schrieben wir an die Göhrener Bürgermeisterin und baten um die Erlaubnis, dort zelten zu dürfen, mit der Begründung, dass wir als Physiker die Wasserwellen studieren wollten. Zelte gab es nicht zu kaufen, und deshalb führten wir eine aus Textilien selbstgenähte, zeltähnliche Behausung mit uns. Dennoch wurde es ein sehr schöner Urlaub, zumal mein Bruder Klaus und eine Schulfreundin später noch hinzukamen. Das einzige Problem war die mangelnde Versorgung mit Lebensmitteln von der die FDGB-Hotels nicht betroffen waren. Heinz war sehr talentiert im Umgang und Flirten mit dem Küchenpersonal. Wenn Not am Mann war, dann war er in der Lage, von den Hotelküchen etwas Essbares zu organisieren, wie zum Beispiel einen Topf geschälter Kartoffeln.

Die positiven Aspekte des Studentenlebens wurden jedoch durch zunehmende politische Einflussnahme verdrängt. Die permanente Heuchelei und Spießigkeit gingen mir mehr und mehr auf die Nerven. So kam ich zu der Überzeugung, meinen ursprünglichen Plan, mit dem ich mich ja an der Humboldt-Universität beworben hatte, zu realisieren, das heißt, die DDR zu verlassen.



Republikflucht und Studium in Göttingen

An meinem 20. Geburtstag meldete ich mich im Flüchtlingslager Berlin-Marienfelde, wo zum damaligen Zeitpunkt täglich rund 1000 DDR-Flüchtlinge eintrafen. Zuvor hatte ich mit meinem Freund Reinhard, der ebenfalls nach dem Westen „rübermachte“, wie es auf Sächsisch hieß, ein paar Habseligkeiten mit der S-Bahn nach Westberlin zu Bekannten gebracht. Dabei mussten wir aufpassen, nicht in eine Kontrolle am Grenzbahnhof Friedrichstraße zu geraten.

Das Flüchtlingslager Marienfelde funktionierte wie ein Betrieb. Man gab seinen DDR-Pass ab, bekam dafür Westpapiere, eine Unterkunft in Vielbettzimmern und wartete auf die Dinge, die da kommen würden. Zuerst gab es eine kurze medizinische Untersuchung, der die Befragung durch die Geheimdienste folgte. Die Hierarchie war dabei nicht zu übersehen. Zuerst schöpfte der amerikanische Geheimdienst die Kenntnisse der Flüchtlinge ab, dann folgten der britische, französische und zuletzt der deutsche Geheimdienst. Bei den Befragungen wurden Informationen abverlangt, die den Fragestellern zum Teil bekannt und zum Teil unbekannt waren. So wurde die Verlässlichkeit der Antworten der Befragten getestet. Geflüchtete Angehörige der Volkspolizei waren von den Detailkenntnissen der Geheimdienste besonders überrascht. Nach ein paar Tagen wurde ich in ein anderes Sammellager in Berlin-Kladow verlegt. Dort hatte sich bereits ein „Bodensatz“ an Flüchtlingen angesammelt, die, aus welchen Gründen auch immer, nicht gleich nach Westdeutschland ausgeflogen worden waren. Dazu zählten auch solche, die bereits mehrfach von Ost nach West und wieder zurück gewechselt waren. Diese Wanderer zwischen den beiden Welten fühlten sich nirgendwo für längere Zeit heimisch und konnten sich nicht entscheiden, wo sie leben wollten, manche waren wohl auch von Geheimdiensten angeheuert worden.

In Kladow wurde praktisch alles gestohlen, was nicht niet- und nagelfest war. Für die Mahlzeiten gab es aus Sicherheitsgründen lediglich Löffel, keine Messer und Gabeln. So blieb es mir nicht erspart, einen Bückling mit dem Löffel zu essen. Die Sprechweise im Lager war sehr vulgär. Gefiel etwa jemanden der Mantel, den man anhatte, dann fragte er sofort: „Was kostet die Kutte?“ Gott sei Dank dauerte der Aufenthalt in Kladow nur wenige Tage. Dann kam endlich der Flug nach Hannover, und von dort ging es in das Notaufnahmelager Sandbostel, ein ehemaliges KZ- und Kriegsgefangenenlager. Diesem und ähnlichen Lagern, unter anderem dem KZ Börgermoor bei Papenburg im Emsland, setzten politische NS-Häftlinge und mit ihnen solidarische Künstler wie zum Beispiel Ernst Busch ein bis heute bekanntes Denkmal. Es war das Lied „Wir sind die Moorsoldaten“. Inzwischen war das Lager Sandbostel in einen akzeptablen Zustand versetzt worden. Dort arbeitete ich für 1 DM pro Tag in der Kleiderkammer. Die gestifteten Kleidungsstücke, die zur Verteilung kamen, waren zum großen Teil Lumpen, Socken mit teilweise großen Löchern, verschlissene Hemden und ähnliches.

Da ich mein Studium in Göttingen fortsetzen wollte, wurde ich mit einem Fahrschein in der Tasche in die dortige Jugendherberge in Weende geschickt. Zuvor wurde ich zu meiner Verwunderung noch einmal vom Geheimdienst verhört. Der Grund dafür stellte sich am Ende des Gesprächs heraus. Aufgrund meiner etwas ungewöhnlichen Abiturzensuren war der Verdacht entstanden, dass ich von der DDR mit präparierten Zeugnissen in den Westen geschleust worden war. In der Göttinger Jugendherberge war dann auch der wirtschaftliche Tiefpunkt meines Lebens erreicht. Ich hatte genau 5 DM in der Tasche und sonst gar nichts. Als ich mich bei der Studentenbetreuung der Universität meldete, bekam ich, ohne darum gebeten zu haben, 50 DM von einem amerikanischen Spender, wie mir gesagt wurde. Ich freute mich sehr über die noble Geste eines mir unbekannten Amerikaners. Es folgte sehr bald die Gewährung eines Stipendiums. Von da an ging es, wie man so sagt, aufwärts! Die Zimmersuche stellte sich als schwierig heraus. Da ich höchstens 25 DM pro Monat ausgeben konnte, musste ich intensiv suchen. Schließlich fand ich ein Zimmer in der Reinholdstraße 10, wo eine ältere Dame zwei Zimmer an Studenten vermietete. Wie ich zu dem Zimmer kam, war allerdings filmreif.

Wie erwähnt, war das Angebot an preiswerten Zimmern äußerst knapp. Ich saß also eines Vormittags bei der studentischen Zimmervermittlung, hatte die Nummer fünf oder sechs gezogen und wartete auf hereinkommende Vermieter. Schließlich kam eine ältere Dame an und Nummer eins betrat hoffnungsvoll das Zimmer des Leiters der Vermittlung. Der Bewerber kam jedoch kurz darauf wieder heraus und sagte: „Die will einen Juristen.“ Dann kam ein Jurastudent an die Reihe, und als er wieder herauskam, sagte er: „Die will einen Agrarstudenten.“ Solch einer war jedoch nicht im Angebot, und so ging es der Reihe nach weiter, jeweils ohne Erfolg. Als ich an die Reihe kam, war der Leiter der Vermittlung bereits so genervt, dass die ältere Dame sich nicht mehr getraute, mich abzulehnen. Dennoch gab sie mir das Zimmer nicht, obwohl ich es sofort genommen hätte, sondern sagte, dass ich es mir am Nachmittag erst einmal ansehen sollte. Da ich vermutete, dass sie mich dann auch ablehnen würde, kaufte ich zuvor ein kleines Blumensträußchen, das ich zum Besichtigungstermin mitnahm. Es kam, wie erwartet. Bald wurde klar, dass die alte Dame auch mich als Mieter nicht wollte. Aber nachdem das Gespräch eine Weile gelaufen war, wurde sie zugänglicher und fragte, was ich für eine Religion hätte. Jetzt wähnte ich mich sicher, denn so kann nur eine Katholikin fragen, dachte ich. Als ich jedoch antwortete: „Katholisch“, merkte ich, dass das nicht die gewünschte Antwort gewesen war. Nun wollte sie mich aber wohl nicht wegen der Religion ablehnen und sie fragte: „Na, dann werden Sie wohl sicherlich viele Heiligenbilder aufhängen?“ Das war nun wirklich das Letzte, das ich im Sinn hatte. So bekam ich schließlich das Zimmer. Später stellte sich der Grund für ihr merkwürdiges Verhalten heraus. Sie hatte am Vormittag, bevor sie zur Zimmervermittlung kam, gerade meinen Vorgänger, einen Jurastudenten namens Oscar, zum Bahnhof gebracht und unter Tränen verabschiedet. Nun sollte der Nachfolger genauso sein wie Oscar, was natürlich unmöglich war. Nach meinem Einzug entpuppte sie sich als nette Studentenmutter, die zwar alle Briefe las, die ich offen liegen ließ, sich aber sonst sehr gut um alles kümmerte. Einmal die Woche traf sich ihr Damenkränzchen zum Kaffeeklatsch, um Neuigkeiten über ihre Studenten auszutauschen.

Auch mein Freund Reinhard war in der Zwischenzeit in Göttingen angekommen, um dort Geologie zu studieren. Die Umstellung von der Humboldt-Universität an die Georg-August-Universität Göttingen fiel mir sehr schwer. Zu unterschiedlich waren die beiden Universitätskulturen. Worüber sich die Kommilitonen in Göttingen unterhielten, war sehr verschieden von dem Gesprächsstoff der Berliner Studienkameraden. Vereinfacht ausgedrückt, war das Bestreben vieler Göttinger Studenten, bald zu einem Motorroller oder gar einem VW Käfer zu kommen oder die Nachbarländer im westlichen und südlichen Europa kennenzulernen. Dagegen hatten sich die Gespräche an der Humboldt-Universität hauptsächlich um Politik, um den Unterschied von Ost- und West-Berlin und darum, was man, (etwas naiv gedacht), zum Wohl der Menschheit beitragen könnte, gedreht.

Nach kurzer Zeit legte ich das Vordiplom ab, wobei es in der Prüfung in Experimentalphysik mit dem Prüfer Professor Hilsch zu einer hauptsächlich auf Missverständnissen beruhenden Interpretation von Zwangskräften kam. Auf seine Frage: „Aber haben Sie denn nicht den Pohl gelesen?“, die Bibel der Göttinger Experimentalphysiker, antwortete ich: „Den gab es bei uns nicht zu kaufen.“ Daraufhin ließ er mich, aus Nachsicht, wie es mir schien, die Prüfung bestehen. Die Experimentalphysik in Göttingen wurde von Robert Wichard Pohl und seiner Schule dominiert. Pohl selbst gilt als einer der Väter der Festkörperphysik. Der Entdeckung von Halbleiter-Transistoren kam er durch seine Entdeckung der Farbzentren sehr nahe. Hätte der Krieg diese Arbeiten, an denen auch Hilsch mitwirkte, nicht zunehmend behindert, wäre Göttingen ein Zentrum der Halbleiterentwicklung geworden. Während Pohl und sein Nachfolger Hilsch den Wiederaufbau der Experimentalphysik erfolgreich betrieben, betrat mit Werner Buckel die nächste Generation die Bühne. Ich erinnere mich gut an seine Antrittsvorlesung als Privatdozent, die noch ganz auf Farbzentren konzentriert war. Von ihm initiiert, fand in der Folgezeit eine wachsende Kooperation zwischen der Experimentalphysik und der theoretischen Festkörperphysik statt. Unter Hilsch war es den jungen Mitgliedern des Instituts noch untersagt gewesen, an Seminaren der Theoretiker teilzunehmen. Sie sollten messen und sich neue Messmethoden ausdenken und ihre Zeit nicht mit theoretischen Spekulationen verschwenden. Von dieser weit verbreiteten Denkart löste sich die Generation Buckel zunehmend. Später sollte Werner Buckel mir bedauernd erzählen, welch interessante Messdaten damals in ihren Schubkästen gelegen hätten. Ihre Bedeutung war ihnen entgangen, da sie nicht über das theoretische Rüstzeug verfügten, um zu erkennen, welche neuartigen Dinge sie beobachtet hatten. Das war insbesondere auf dem Gebiet der Supraleitung der Fall. Buckel hat diesen Wechsel im Verhältnis von Experimentalphysik zu Theorie nicht nur in Göttingen, sondern später in ganz Deutschland mit vorangetrieben.

Die Laborkurse zur Experimentalphysik gefielen mir nicht, und ich kann mich auch nicht an begeisterte Kommilitonen erinnern. Die Theorievorlesungen wurden damals von Privatdozent Leibfried gehalten, der später Direktor in Jülich wurde und eine eindrucksvolle Persönlichkeit war. Seine Darstellung der Theorie war stärker an Phänomenologie ausgerichtet als üblich und daher besonders interessant. Insgesamt entsprach Göttingen nicht den Hoffnungen, die ich bei dem Universitätswechsel gehegt hatte. Die Atmosphäre, die ich aufgrund der gelesenen Bücher über die Physik in den 1920er-Jahren erwartet hatte, war nicht vorhanden. All das mag dazu beigetragen haben, dass es mir gesundheitlich nicht besonders gut ging. Ich bekam ernsthafte Magenprobleme, wie übrigens mein Freund Reinhard auch, der sogar am Magen operiert werden musste. Wir beabsichtigten beide, uns politisch zu betätigen, und waren dicht daran, in den Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) einzutreten. Als wir jedoch einmal zu einem internen Treffen der Gruppe zugelassen wurden, wurden wir Zeuge, wie rabiat sich konkurrierende Fraktionen im SDS stritten. Das wirkte auf uns so abstoßend, dass wir unsere Pläne, diesem Verein beizutreten, aufgaben. Viele Jahre später stellte sich heraus, dass aus dem damaligen Göttinger SDS mehrere führende Sozialdemokraten hervorgegangen waren. Unter ihnen waren der spätere Bundesminister Ehmke und der Landespolitiker von Oertzen. In Göttingen hörte ich, dass es in Hamburg auf dem Gebiet der Physik den Feldtheoretiker Harry Lehmann gab, der Pionierarbeit in theoretischer Physik leistete. Diese wollte ich unbedingt kennenlernen, und deshalb entschloss ich mich 1957, das Studium in Hamburg fortzusetzen.

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