(Un-)Ausgesprochen Ich

(Un-)Ausgesprochen Ich

Julia Kraft


EUR 15,90
EUR 12,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 78
ISBN: 978-3-99146-025-1
Erscheinungsdatum: 17.05.2023
Eine klare Sprache für das vermeintlich Unaussprechliche finden: Ein Jahr Depression, der Verlust des Lebenswillens, zerstörerische Selbstzweifel und bitterer Selbsthass. Am Ende die unverhoffte Erkenntnis, dass es doch gelingen kann, ins Leben zurückzufinden.
Vorspann

Soweit ich mich erinnern kann, begann alles vor drei Jahren. Sommer 2019. Ich hatte einen anstrengenden Schulschluss gehabt. zwei Maturaklassen, 22 KandidatInnen bei der schriftlichen Matura, neun bei der mündlichen, einen Diplomarbeitskandidaten. Ich hatte zig Stunden in die Vorbereitung der Prüfungen gesteckt, ohne Zweifel hatte ich meine SchülerInnen an Gewissenhaftigkeit um Längen überboten. Ich wollte nicht nur, dass meine KandidatInnen bei den Prüfungen glänzten, sondern wollte auch selbst als kompetente Prüferin überzeugen. Was mir auch gelang.
Den Sommer danach nutzte ich für ausgiebiges Reisen. Zuerst ging es zwei Wochen mit meiner Freundin Karoline nach Kap Verde. Sommer, Sonne, Strand, gutes Essen, offene Menschen, gute Gespräche. Danach reiste ich mit meinen Eltern und meinem Bruder Philipp nach Seattle. Dort trafen wir meine Schwester Nina, die zu der damaligen Zeit in den USA lebte. Wir verbrachten eine überraschend harmonische und sehr spannende Woche in Seattle. Danach reiste ich mit meinem Bruder weiter. Wir besuchten San Francisco, Las Vegas, den Grand Canyon und L.A. Eine Reise der Superlative.
Als ich zurückkam, kämpfte ich mit dem Jetlag. Und es überkam mich eine merkwürdige Niedergeschlagenheit, die ich mir nicht erklären konnte. Ich hatte doch gerade den besten Sommer meines Lebens verbracht! Genau genommen hatte es schon auf dem Rückflug nach Wien begonnen, dieses Gefühl unendlicher Traurigkeit. Ich begann also wieder zu meiner Therapeutin Frau Stein zu gehen, die ich immer wieder mal aufgesucht hatte, wenn ich das Gefühl hatte, an einem Thema arbeiten zu müssen.
Ich erinnere mich noch ganz deutlich an eine Sitzung Anfang September. Ich hatte das Thema Tod angesprochen, es ging mir nicht mehr aus dem Sinn, aber ich wusste nicht, warum. Als ich aus der Therapie hinausging, sah ich, dass meine Mutter angerufen hatte. Ich rief sie zurück und sie erzählte mir, dass bei meinem Vater nach einer Blinddarmentzündung Dickdarmkrebs festgestellt worden war. Ich brach mitten auf der Straße in lautes Schluchzen aus. Eine Passantin legte mir tröstend ihre Arme um die Schultern.
Meine Gedanken an den Tod interpretierte ich nun als Vorahnung. Mein Vater war schwerkrank, und wie wir bald von seinem Arzt erfahren würden, waren die Aussichten schlecht. Er hatte Krebs im Stadium IV, und noch dazu einen sehr aggressiven. Das mit der Vorahnung war natürlich Unfug. Es war schlicht ein Zufall, dass sich die Krankheit meines Vaters mit meiner beginnenden Krise überschnitt. Zumindest sehe ich das heute so.
Von da an lautete die Parole: Durchhalten, stark sein – für Papa! Der Herbst brachte einige anstrengende Projekte in der Schule, und am Anfang der Herbstferien wünschte ich mir bereits, dass das Schuljahr vorbei wäre, so erschöpft war ich. Im Dezember hatte ich eine sogenannte Hinterhauptblockade, eine Folge von schweren Verspannungen. Mein Vater machte gerade seine erste Chemotherapie, es schien ihm gut zu gehen.
Zu Silvester lernte ich dann Ernst kennen. Das gab mir für eine Weile richtig viel Auftrieb. Es war schön, wieder verliebt zu sein. Wie lange hatte ich dieses Gefühl vermisst! Doch schon bald kam Corona und damit eine ziemlich herausfordernde Zeit für die Schulen, die SchülerInnen und die Lehrkräfte. Aber auch dieses Schuljahr ging zu Ende und ich freute mich auf die Sommerferien.
Nach einem Kurzurlaub in Kärnten mit meiner Freundin Petra wollte ich ein paar Tage im Burgenland bei meinen Eltern verbringen. Da erreichten uns gleich zwei schlechte Nachrichten: Die Bank, bei der mein Vater gearbeitet hatte, war pleite gegangen. Am selben Tag erfuhr mein Vater, bei dem leider nach der ersten Chemotherapie Metastasen festgestellt worden waren, dass er für eine innovative Spezialbehandlung nicht in Frage kam. Er war am Boden zerstört und mit ihm die gesamte Familie.
Wir bündelten unsere Kräfte und nutzten den Sommer, um meinem Vater dabei zu helfen, sich zu stabilisieren. Wir begleiteten ihn zu Arztbesuchen, insbesondere zu Besuchen bei einem sogenannten Immunologen, der meinem Vater allerlei Vitamine und Nahrungsergänzungsmittel empfahl. Es war eine unüberschaubare Menge an Informationen. Mein Vater sollte am Tag an die 30 verschiedene Medikamente einnehmen. Ich schrieb ihm einen liebevoll gestalteten Einnahmeplan, um ihn zu motivieren, las Bücher über die richtige Ernährung für KrebspatientInnen und meine Mutter kochte dann nach diesen Vorschlägen.
Es war kein schöner Sommer, aber ein sehr intensiver. Wenn ich nach Wien fuhr und mit Freundinnen ausging, hatte ich fast ein schlechtes Gewissen, dass ich mich amüsierte, Alkohol trank und rauchte, mich also eigentlich vergiftete, während mein Vater in jeder Hinsicht mit Entbehrungen konfrontiert war.
Dazu kam, dass Ernst sich ab Juni immer mehr zurückgezogen hatte. Woran es lag, wusste ich nicht. Den Sommer über sah ich ihn fast gar nicht, und ich litt sehr darunter, nicht mit ihm sprechen zu können und keine Erklärung für sein distanziertes Verhalten zu haben.
Im Herbst 2020 näherten wir uns wieder an. Was so viel bedeutete wie: Ich nahm ihn bereitwillig und überglücklich zurück, als er sich mit einem halbherzigen SMS meldete. Auch mit meinem Vater ging es bergauf. Er wurde nun in einem Spital in Wien behandelt, wo wir dank einem seiner Kollegen einen Platz bekommen hatten, und er schien gut auf die zweite Chemotherapie anzusprechen. Das wurde uns im Jänner 2021 von seinem Arzt bestätigt. Wir konnten erleichtert aufatmen und mein Vater bekam eine Pause von den Behandlungen.
Gleichzeitig wussten wir aber, dass die Metastasen nur kleiner geworden und nicht verschwunden waren. Sie konnten also in der chemotherapiefreien Zeit wieder wachsen. Doch diesen Gedanken wischte ich erstmal weg. Im Februar und März hatte ich ein deutliches Hoch. Ich fühlte mich energiegeladen, dynamisch und sprühte vor Ideen. Es sollte leider das letzte Mal für eine lange Zeit sein.
Ab April ging es plötzlich bergab, ohne dass sich etwas Ausschlaggebendes in meinem Leben verändert hatte. Ich erinnere mich, dass ich am Ende der Osterferien so erschöpft war, als hätte ich gar keine gehabt. Meine letzte Reise lag gefühlte Ewigkeiten zurück und ich hatte die Ferien praktisch durchgearbeitet. Ich war zickig und unausgeglichen. Das bekam Ernst ab, der sich aber sehr geduldig und verständnisvoll zeigte.
Im Mai kam dann die Hiobsbotschaft: Die Metastasen meines Vaters waren wieder gewachsen, er stand nun vor seiner dritten Chemotherapie. Ich besuchte ihn am selben Tag im Krankenhaus und fand ihn in Tränen aufgelöst vor. Es brach mir das Herz, ihn so zu sehen. Er hatte keine Kraft mehr, zu kämpfen, und ich wusste nicht, wie und ob ich ihn überhaupt zum Durchhalten motivieren sollte. Als ich das Krankenzimmer verließ, blickte ich zurück und er sah aus wie ein hilfloser, schutzbedürftiger kleiner Junge. So gerne hätte ich ihm geholfen oder ihm gesagt, dass alles gut werden würde.
Dann kam die schriftliche Matura, und ich hatte den Vorsatz gefasst, in diesem Jahr nicht so genau wie sonst zu korrigieren. Ich verbrachte sonst immer enorm viel Zeit mit den Korrekturen, perfektionistisch wie ich eben war. Es gelang mir nicht, meinen Vorsatz umzusetzen. Da ich schon relativ ausgelaugt war, dauerte das Korrigieren noch länger. Ich zwang mich an den Schreibtisch und peinigte mich selbst mit den Korrekturen. Als ich es hinter mir hatte, feierte ich exzessiv und trank viel Alkohol, um in eine ausgelassene Stimmung zu kommen. Was nur dazu führte, dass es mir am nächsten Tag doppelt oder dreifach mies ging.
Einen Monat musste ich noch bis zu den Sommerferien durchhalten. Ich spürte bereits, dass mir die Kräfte ausgingen. Eigentlich müsste ich mich den gesamten Juni krankmelden, sagte ich einmal zu Ernst. In Wahrheit wusste ich also sehr wohl, dass es langsam eng wurde, aber ich gestand es mir einfach nicht zu. Außerdem stand die Pensionierung meiner langjährigen Mentorin und Freundin Petra vor der Tür. Und ich wollte dazu beitragen, sie gebührend zu verabschieden – bei einem kleinen Fest mit netten Überraschungen innerhalb der Fachgruppe und bei der offiziellen Verabschiedung vor dem gesamten Kollegium, wo ich gemeinsam mit der Direktorin eine Rede hielt.
Und dann waren endlich die Sommerferien da. Ich schlief viel, las, traf mich mit Freundinnen und besuchte meinen Vater im Krankenhaus. Ich spürte, dass ich nicht so entspannt war, wie ich eigentlich angesichts der Ferien hätte sein können oder sollen. In Gesellschaft von anderen fühlte ich mich oft merkwürdig, nicht ganz da, und ich brauchte viel Zeit für mich alleine.



Todessehnsucht, die erste

Ende Juli 2021 war der 65. Geburtstag meines Vaters. Er hatte zuvor schon ein paar Mal gesagt, dass das vermutlich sein letzter werden würde. Also sollte er großartig werden! Meine Schwester reiste aus den USA an und mein Bruder und ich holten sie vom Flughafen ab. Da merkte ich zum ersten Mal, dass ich kognitive Aussetzer hatte. Ich verwechselte gleich zwei fremde Frauen mit Nina. Philipp lachte mich aus, und ich dachte mir nicht viel dabei.
Meine Akne war wieder voll im Aufblühen, und das machte mir sehr zu schaffen. Ich fühlte mich unattraktiv und war frustriert. Gleichzeitig schämte ich mich, dass ich mir wegen solcher Kleinigkeiten Gedanken machte, während mein Vater immer dünner wurde und immer schlechter aussah. Dass ich mich unrund fühlte, merkte man auch daran, dass ich an den Tagen rund um seinen Geburtstag, an denen ich im Burgenland war, das Gefühl hatte, krank zu werden. Ich machte einen Coronatest, negativ. Dann glaubte ich, dass eine Blasenentzündung im Anmarsch war. Ich machte viele Nachmittagsschläfchen, mit dem Ziel, mich zu erholen. Dann wieder hatte ich die Hoffnung, dass ich mich besser fühlen würde, wenn ich mich einmal so richtig ausheulen würde. Leider war dem nicht so, und es würde bis auf eine Ausnahme das letzte Mal sein, dass ich weinen konnte.
Am Tag nach dem Geburtstag meines Vaters, es war ein Samstag, wollten meine Eltern und meine Geschwister zusammen grillen. Mein Bruder war bereits im Garten und bereitete den Grill vor. Meine Mutter bat mich, einen Tomatensalat zu machen, den ich im Vorjahr so gerne zubereitet hatte. Ich nahm die Tomaten und das Messer in die Hand, aber nach wenigen Minuten konnte ich plötzlich nicht mehr weitermachen. Ich schaffte es nicht einmal, die Tomaten zu schneiden. Ich war völlig unnütz! An diesem Tag realisierte ich es zum ersten Mal und sagte es auch zu meiner Mutter: Mit mir stimmt etwas nicht.
Meine Mutter reagierte sehr verständnisvoll und holte mir pflanzliche Beruhigungsmittel aus der Apotheke. Das sind nur die Nerven, sagte sie tröstend zu mir. Die Tabletten bewirkten genau gar nichts, außer, dass ich das Gefühl hatte, ein Bündel Lavendel geschluckt zu haben. Beim Mittagessen brachte ich kaum einen Bissen hinunter, während alle anderen genüsslich schlemmten. Mein Vater beobachtete mich und sagte mit einem Hauch Vorwurf und einem Hauch Sorge in der Stimme: Heute gefällst du mir gar nicht. Ich schämte mich, dass ich „es“, was auch immer es war, nicht besser verstecken konnte.
Ich hatte das Gefühl, dass es mir den Boden unter den Füßen wegzog. Meine Gedanken wirbelten durcheinander. Ich beschloss, alles, was mir durch den Kopf ging, aufzuschreiben, um in der nächsten Woche mit meiner Therapeutin darüber zu sprechen. So sahen meine Notizen aus:

Ich bin eigentlich nicht da, zumindest nicht da, wo die anderen sind – ich lebe in einer anderen Welt; vielleicht war das schon immer so?
Angst:
Angst, verrückt zu werden
Angst, zu sterben; aber gleichzeitig der Wunsch, dass „es“ aufhört
Angst, alles zu verlieren, was ich habe (Job, Freundinnen, Partner)
Alles, einfach alles macht mir Angst und ich kann mich nicht mehr selbst beruhigen
Ich habe so lange auf die Liebe gewartet und nun muss ich sie wieder hergeben!!! Ich kann ihm das nicht zumuten, ich kann mich selbst niemandem zumuten
Ich habe das Gefühl, alles verlernt zu haben: z.B. wie man Rad fährt, kocht, lacht
Ich habe mich selbst verloren – oder nie gefunden???
Schmerz, der zu groß ist für mich
Überall um mich ist Leid und Schmerz, andere Menschen können so viel tragen und ich nicht
Es passiert so viel wirklich Schlimmes und ich hatte immer so ein schönes Leben und wusste nicht, an welch seidenem Faden es hing
Scham, dass ich so egoistisch bin; dass ich meiner Familie das antue; ich fühle mich wie die größte Versagerin auf Erden, ich mache alles falsch, einfach alles; ich fühle mich wertlos und nicht liebenswert – ich liebe mich selbst nicht
Meine Gedanken kreisen nur noch um mich selbst! Und mein Vater merkt das langsam!
Ich kann nichts für meinen Vater tun, ich bin nutzlos wie ein Kind, das im Weg herumsteht
Ich staune darüber, dass und wie andere Menschen leben – warum kann ich das nicht? Warum bin ich so unfähig?
Ekel vor mir selbst
Das Gefühl, durch meine Akne entstellt zu sein (ich kann keinen Blick auf mir ertragen, ich möchte das Haus nicht mehr verlassen)
Das Gefühl, dass nichts je wieder gut wird; ich bin UNTRÖSTLICH
Antriebslosigkeit: jede Bewegung empfinde ich als anstrengend; ich warte darauf, dass es Nacht wird, damit ich schlafen gehen kann; ich will versinken in der Nacht
Appetitlosigkeit
Albträume
Teilweise Wahrnehmungsstörungen: ich sehe alles dunkler, als es normalerweise ist;
Auch Konzentrationsstörungen: ich kann (fast) kein zusammenhängendes Gespräch mehr führen, ich vergesse andauernd Dinge, die ich eigentlich weiß; ich kann einem Buch oder Film nicht folgen
WAS IST MIT MIR LOS??? ICH WILL, DASS ES AUFHÖRT!
ICH WEISS NICHT, WO ICH ANFANGEN SOLL
ICH KANN KEINEN KLAREN GEDANKEN FASSEN
Das ist das Ende meines Lebens, wie ich es kannte

Der letzte Satz hallt noch heute in mir nach. Das ist das Ende meines Lebens, wie ich es kannte. Er kam mir zwar theatralisch vor, als ich ihn noch einmal las, aber leider traf ich damit vollkommen ins Schwarze. Im kommenden Jahr sollte alles anders werden, kein Stein würde auf dem anderen bleiben.
Ich hoffte, dass es mir besser gehen würde, nachdem ich wieder zurück in Wien war, wenn ich ein wenig Abstand zu meinem Vater hatte, so egoistisch das auch klingt. Mein Bruder brachte meine Schwester und mich am Sonntag nach Wien. Nina musste am nächsten Tag zu einem Vorstellungsgespräch nach Deutschland fliegen und wollte die Nacht in meiner Wohnung verbringen. Auf dem Weg nach Wien schlief ich erschöpft auf der Rückbank ein. In Wien angekommen schlug Philipp vor, noch ein Eis essen zu gehen. Ein wundervoller Einfall – unter normalen Umständen. Ich hielt es fast nicht mehr aus, auch noch ein Eis essen zu müssen, als wäre es eine unendliche Belastung und nicht ein Luxus, am Sonntagnachmittag mit den Geschwistern durch die Stadt zu flanieren.
In meiner Wohnung angekommen, telefonierte ich mit meiner Therapeutin. Nina war so rücksichtsvoll und machte währenddessen einen Spaziergang im nahegelegenen Augarten. Frau Stein schaffte es, mich ein wenig zu beruhigen. Aber wirklich ruhig war ich nicht.
An die darauffolgende Woche kann ich mich nicht mehr im Detail erinnern, nur an einzelne Momente. Ich besuchte zwei Mal meine Therapeutin. Außerdem versuchte ich, laufen zu gehen, was mir sonst immer gutgetan hatte, aber ich musste schon nach wenigen Kilometern aufgeben, weil ich mich so kraft- und antriebslos fühlte. Ich führte ein Telefonat mit einer Bekannten, die im Bildungsministerium arbeitete und mir ein nebenberufliches Jobangebot machen wollte. Ich erinnere mich, dass ich ihren Worten kaum folgen konnte, meine Kehle fühlte sich ausgetrocknet an, ich schaffte es nur hin und wieder, ein Ja und Mhm zu stammeln. Am liebsten hätte ich ins Telefon geheult.
Einmal traf ich meine Freundin Karoline. Ihr erzählte ich, dass ich das Gefühl hatte, plötzlich sei alles anders, so als hätte sich ein Vorhang zwischen mich und die Welt geschoben und als könnte ich nicht mehr am Leben teilhaben. Sie versuchte, mich zu trösten, und sagte, dass es mir wieder besser gehen würde. Ich glaubte ihr nicht, weil ich spürte, dass ich es diesmal mit etwas viel Größerem als je zuvor zu tun hatte.
Mein Verhalten wurde immer abstruser. Einmal gab es ein Gewitter und mir waren die Zigaretten ausgegangen. Ich lief im Regen über die Straße und ließ mir aus dem Automaten eine Packung Camel heraus. Den Regen empfand ich als ultimative Bedrohung. Als ich in meiner Wohnung zurück war, hatte ich das Gefühl, dass ich gerade dem Tod entkommen war. Einmal streckte ich mich auf dem Boden aus und sagte zu mir in Gedanken: So, jetzt stirbst du. Es ist aus mit dir.
Ich beschloss, zum Hausarzt zu gehen und eine Blutuntersuchung machen zu lassen. Irgendetwas musste doch mit mir sein! Das war doch nicht normal! Im Warteraum der Ordination sank ich in mich zusammen und wieder hatte ich das Gefühl, dass ich sterben müsste. Ich erzählte meinem Hausarzt, wie schlecht es mir ging, doch die Blutuntersuchung ergab nichts. Er vermutete, dass es sich um Depressionen handelte, gab mir aber auch eine Überweisung für ein Schädel-MRT. Ich wünschte mir regelrecht, einen Hirntumor zu haben, damit ich mir mein seltsames Verhalten erklären konnte.
Zum MRT schaffte ich es aber nicht mehr, zumindest nicht unversehrt. An einem Morgen fiel mein Blick auf ein Küchenmesser und ich fragte mich, wie es sich wohl anfühlen würde, wenn ich es mir ins Herz oder in den Arm bohren würde. Entsetzt schüttelte ich den Gedanken wieder ab. Ich erzählte meiner Therapeutin davon und sie sagte: Sie können stolz darauf sein, dass Sie es nicht getan haben. Stolz konnte ich nicht wirklich empfinden. Ich war eher ein Gefäß voller Scham.
Am Freitag, den 30. Juli, ging ich vormittags in den Biomarkt einkaufen. Als ich im Laden stand, fiel mir nichts ein, was ich kaufen könnte, nichts, was ich mir kochen könnte. Ich fragte mich, was ich dort zu suchen hatte. Ich ging nach Hause und beschloss: Jetzt ist Schluss. Ich schnappte mir ein Küchenmesser und legte es neben mich auf den Küchentisch. Ich weiß nicht, wie viele Zigaretten ich noch rauchte, nur um Zeit zu gewinnen. Gleichzeitig aber sagte ich zu mir selbst: Sei nicht so ein Weichei, zieh es durch! Du weißt, dass es keinen anderen Ausweg gibt.
Aus Angst vor Schmerzen warf ich vorsorglich noch ein paar Schmerztabletten ein und dann schritt ich zur Tat. Ich schnitt mir in beide Handgelenke. Es war eine Riesenüberwindung, aber ich war überrascht, dass ich keinen Schmerz spürte. Ich schnitt tiefer und tiefer, auf der Suche nach den Pulsadern. Dabei betrachtete ich mit interessierter Aufmerksamkeit das Fleisch, das zum Vorschein kam. So sieht also ein Arm von innen aus, dachte ich mir. Die Schneidegeräusche waren allerdings eher unschön. Als ich glaubte, die linke Pulsader getroffen zu haben, streckte ich mich auf dem Küchenboden aus und wartete darauf, dass ich mehr Blut verlieren und mir schwindlig werden würde.

5 Sterne
(UN) ausgesprochen ich - 20.08.2023
Anita Kienesberger

da ich selber nicht weiss, wie sich eine echte Depression anfühlt, hilft mir diese Buch sehr das besser zu verstehen. sehr mutig von der Autorin so schonungslos nieder zu schrieben, was sie durchleben musste, denn es ist nicht einfach, so ernsthaft sich all den vermeintlichen Schwächen und Untiefen zu stellen. Danke für die Veröffentlichung!

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