Kyttaro – Keim des Lebens

Kyttaro – Keim des Lebens

Christian F. Schultze


EUR 21,90

Format: 12 x 19 cm
Seitenanzahl: 304
ISBN: 978-3-99146-115-9
Erscheinungsdatum: 03.10.2023
Wem kannst du trauen, wenn die Regierung selbst regiert wird? In einer fulminanten Hetzjagd zwischen Verschwörung, Mafia, einem Exseal, einer Kryptologin und einer verschwundenen Tochter, hechtet Christian F. Schultze den Kernthemen unserer Zeit hinterher.
1. Gizeh


Über dreißig Jahre lag es nun zurück, seit sie dies hier das erste Mal gesehen hatte. Und wenn ihr damals jemand gesagt hätte, dass sie noch einmal hierher zurückkehren müsse, um einen neuen, noch schwierigeren und viel weiter reichenden Auftrag auszuführen, hätte sie es nicht geglaubt.
Doch nun stand sie tatsächlich hier. Und aufs Neue erfasste sie dieses unerklärliche, geradezu mystische Gefühl, welches sie schon damals heimgesucht hatte, als sie an jenem Septembernachmittag des Jahres 1989 mit ihrer Kommilitonin Jiang Ju von Kairo City herübergefahren war und sie beide ganz klein und ziemlich plötzlich vor ihnen gestanden hatten.
Die große, welche die orthodoxe Schularchäologie dem Pharao Cheops zuschrieb, stand jetzt übermächtig halbrechts vor ihr. Die mittlere, die den Namen des Chefren trug, nur weil sie in der Eingangshalle, die die meisten Ägyptologen für einen Totentempel ausgaben, ein paar Figürchen von ihm gefunden hatten, lag links der hinaufführenden Straße. Und die dritte, die von hier aus halbrechts dahinter befindliche Mykerinos-Pyramide, „die Kleine“, war im aufziehenden Abenddunst kaum noch auszumachen.
Ein kühler Schauer erfasste sie.
Man schrieb den 22. März des Jahres 2021. Die ganze Welt stand immer noch wegen dieser neuartigen Viruspandemie Kopf. Angeblich war der Prototyp, genannt SarsCov2-19, vor zwei Jahren ausgerechnet in ihrem Land ausgebrochen. Und so stark die alten Erinnerungen auch in ihr hochstiegen, sie ahnte, diesmal würde womöglich alles ganz anders ausgehen.
Wie damals hatte sie bis zum späten Nachmittag gewartet, ehe sie von ihrer neuen Herberge, die nahe des Tahrir Square lag, zum Plateau hinübergefahren war. Sie hatte das winzige, rote Mietauto auf einem der früher, vor der Pandemieausrufung, ständig überfüllten Parkplätze abgestellt. Heute standen hier nur ein halbes Dutzend PKW und ein paar abgenutzte Toyota Hilux herum. Vom Parkplatz war sie gemächlich zum Taltempel hinabgewandert, in dessen Nähe einige der renommierten Altertumsforscher einen früheren großen Nilhafen verorteten.
Sie verharrte eine Weile sitzend auf einem der riesigen Monolithen, welcher von der westlichen Mauer herabgestürzt war und nur vor diesem gigantischen Bauwerk lag. Und wie damals schon, erbebte sie auch diesmal wieder vor der monumentalen Wirkung der Jahrtausende alten Anlage des Plateaus.
Von hier aus links unten befanden sich die vorgelagerten Tempelanlagen und die Dutzende kleiner Grabstätten, um die sich nur wenige Altertumsforscher wirklich bekümmerten. Und einige hundert Meter rechts ragte die „Große Sphinx von Gizeh“ in den späten Märznachmittag.
Damals war die Sphinx für sie männlich gewesen. Doch inzwischen wusste sie es besser. Denn fast zweihundert Jahre vor dem berühmt-berüchtigten napoleonischen Ägyptenfeldzug hatte der deutsche Jesuit Oedipus Anthanasius Kircher ein Buch mit Zeichnungen über das Plateau herausgebracht, welche die Sphinx als einen Wolpertinger zwischen Löwin und Göttin mit freiem Oberkörper darstellte. Warum hätte Kircher die Sphinx als halbnackte Frau mit bloßen Brüsten in einem Löwenkörper und mit himmelwärts gerichtetem Blick darstellen sollen, wo doch in Europa freizügige und aufmüpfige Frauen zu dieser Zeit gelegentlich noch auf dem Scheiterhaufen landeten, wenn er es nicht genauso gesehen hätte?
Inzwischen hatte Li Hui unzählige andere diesbezügliche alte Schriften studiert. Auch in diesen war die Sphinx stets weiblich dargestellt worden. Erst nachdem Napoleon offenbar eine Umgestaltung der Gesichtszüge des Kolossal-Denkmals befohlen hatte, wurden auch deren Beschreibungen anders. Wie alt war die Sphinx also wirklich? Und wohin richtet sie ihren Blick? Darüber stritten sich die „Gelehrten“ nach wie vor!
Li Hui war sich mit Professor He Jungkiang und ihrer Freundin Jiang Ju einig, dass die Sphinx etwa 10 700 Jahre vor der christlichen Zeitrechnung zu Beginn des Zeitalters des Löwen zusammen mit den Tempelanlagen errichtet worden sein musste. Diese Auffassung schmiss natürlich alle Zeitfolgen der klassischen Ägyptologie über den Haufen. Doch Li Hui wollte einfach nicht glauben, dass es vor dem König „Fingerschnecke“, mit dem vor rund fünfeinhalbtausend Jahren die prädynastische Zeit im Nilland begonnen haben sollte, auf dem Plateau nichts gegeben habe.
All diese Fragen, die in den ganzen Jahren unbeantwortet geblieben waren, gingen ihr angesichts der drei Kolosse, der zahllosen uralten Bauwerke ringsum und des rätselhaften Sphinxmonumentes durch den Kopf. Was wusste man wirklich über diese prädynastischen Zeiten?
Heutzutage konnte man mit allen zugänglichen Computerprogrammen sicher berechnen, dass vor etwa 12 700 Jahren, von Gizeh aus gesehen, eine Wanderung der Himmelskörper durch die Ekliptik mit dem Frühaufgang des Sternbildes des Löwen begonnen hatte. Seither war, ausgehend von diesem Frühlingstag, jahrhundertelang ein Agrarkalender für das Nilimperium bestimmt worden.
Doch welches Antlitz die Sphinx ursprünglich auch gehabt haben mochte, bevor es im 2 600sten Jahr b.C. unter Pharao Chefren vermutlich zum ersten Mal verändert wurde und unter Napoleon zum zweiten Mal – darüber konnte weiter spekuliert werden. Hatte sich womöglich auch noch die große Königin Hatschepsut an der Sphinx verewigt? Und hatte die Löwin schon immer geradeaus nach Osten geblickt oder wenigstens noch bis zu Napoleons Besuch die zwölf Grad aufwärts in den Duat, den Frühlingspunkt des Jahres 10 700 vor Christus, wie es einige Gelehrte vermuteten. So war sie jedenfalls von Anthanasius Kircher dargestellt worden!
Wie passten die jetzigen männlichen Gesichtszüge zu den damals noch vorhandenen Brüsten der Löwin, und wenn es um eine Frau ging, wen stellte die Sphinx dann letztendlich dar? Und wo waren die in den alten Berichten beschriebenen Hieroglyphenstelen und der vierfach gehörnte hebräische Opferaltar verblieben, welche vor den Zeichnungen von Napoleons Cheflithographen Dominique Vivant Denon noch alle früheren Darstellungen zierten? Schließlich war auch die nach Li Huis Meinung wichtigste Frage immer noch offen: Wieso sollte Chefren am Ende des Großsternenjahres des Stieres eine derart kolossale Löwenskulptur errichten lassen?
Das Sternenjahr des Löwen hatte jedenfalls vor 12 700 Jahren begonnen!
Lange Zeit verharrte Li Hui reglos und ließ die archaischen Monumente auf sich einwirken. Am westlichen Firmament zog die Nacht schnell herauf. Nachdem sie eine Weile so mit ihren Gedanken gesessen hatte, musste sie plötzlich lächeln, weil sie daran dachte, wie wenig sie damals über altägyptische Geschichte gewusst hatte. Sträflich wenig geradezu! Doch auch Jiang Ju kannte zu jener Zeit nur Bruchstücke der Zusammenhänge, die sie später nach und nach gemeinsam entdeckten. Es war vor allem die Freundin gewesen, welche in ihr ein immerwährendes Interesse an der Geschichte der Pyramidenkomplexe, am ägyptischen Altertum und an den gewaltigen Anlagen aufwärts des Nils geweckt hatte. Später dann, als sie bereits etwas mehr über die Pyramidenzeit der Erde, die Texte des ägyptischen Totenbuches und über die Besucher herausgefunden hatten, schworen sie sich, so viele Beweise wie möglich über die Geschichte dieser „uralten“ Zeiten zu sammeln.
Uralt waren sie eigentlich gar nicht, fand Li Hui. Denn gemessen an der Entwicklungsgeschichte der Menschheit handelte es sich nur um einen Wimpernschlag der Zeit. Um so erstaunlicher und deprimierender war es doch, dass man über diese rund dreizehntausend zurückliegenden Jahre der Menschheitsgeschichte genau genommen immer noch so wenig Zusammenhängendes wusste.
Die Sonne war inzwischen bereits einige Minuten hinter dem Horizont der westlichen Wüste verschwunden. Der rötlich-gelbe Himmel hatte in rascher Folge ein unglaubliches Farbenspiel absolviert. Schnell ging er jetzt in ein massives, dunkles Blau über. Die markanten Dreiecke der Pyramiden zeichneten sich jetzt trotz der aufblitzenden Lichter des östlichen Highways als geheimnisvolle schwarze Schattenrisse gegen den westlichen Abendhimmel ab. In wenigen Minuten würde es Nacht sein. Das ging hier, am Nordostende Afrikas, beinahe ebenso schnell wie am Äquator.
Li Hui ließ diese geheimnisvolle südliche Dunkelheit eine Weile auf sich wirken. Als sich die ersten Sterne zeigten, schlenderte sie eher widerwillig zurück in Richtung des Parkplatzes. In ihrer Erinnerung zogen jetzt die Bilder ihres Studiums an der amerikanischen Universität zu Kairo Ende der 80er Jahre vorbei. Es war diese Zeit, in der sie ihre rotchinesische Freundin Jiang Ju kennengelernt hatte, welche heute die Chefin der Mittel-Nahostabteilung des Auslands-Nachrichtendienstes der chinesischen Volksrepublik war, und die seither ihr Leben immer wieder in so entscheidender Weise bestimmt hatte.
Natürlich musste sie auch an die romantischen Nächte mit ihrem amerikanischen Professor Roger Gilmor in den Wadis der westlichen Wüste denken. Er war es schließlich gewesen, der sie beide damals in das Wissen der Schularchäologie, die Geheimnisse des altägyptischen Totenbuches, jener Uraltschrift vom „Herausgehen in den Tag“, und an die ursprüngliche altägyptische Bilderschrift herangeführt hatte.
Li Hui lächelte still vor sich hin, als sie an jenen Tag dachte, an welchem sie mit Jiang Ju den Plan gefasst hatten, den Gipfel der Großen Pyramide zu ersteigen. Leider war es damals nicht mehr dazu gekommen und sie beneidete den jungen Deutschen, der es kürzlich trotz aller Sicherheitsmaßnahmen geschafft hatte.
Neben all diesen Erinnerungen ging ihr unablässig das Schicksal ihres Sohnes Ning Sebastian durch den Kopf. Die Entscheidung der obersten Behörden der Volksrepublik war unangemessen hart, sie erneut von ihm zu trennen. Selbst das Telefonieren mit ihm war ihr aus den vorgegebenen Sicherheitsgründen verboten worden. Er würde sich jetzt, da er allmählich in das Erwachsenenalter eintrat, sicherlich allerhand Sorgen um sie machen. Auch diesmal durfte er nicht wissen, in welcher Mission sie unterwegs war.
Und vielleicht war es überhaupt sinnlos, dass sie sie hierhergeschickt hatten. Vielleicht lagen die Antworten auf die Fragen der Abteilung von Jiang ganz woanders.
Sie wartete sehnlichst auf die Ankunft jenes merkwürdigen Deutschen, der angeblich die halbe Welt vor der Pandemie von 2017 gerettet hatte. Vielleicht konnte sie mit seiner Hilfe eine Nachricht nach Zhengzhou absetzen. Denn dieser seltsame Bioinformatiker schien sich, ebenso wie sie, nach Freiheit zu sehnen. Vielleicht konnte sie mit seiner Hilfe doch irgendwie mit Ning Sebastian in Verbindung treten …
Das Argument eines erhöhten Sicherheitsrisikos war natürlich zutreffend. Mit Covid21, einer angeblich neuen Mutation des Coronavirus, hatte das allerdings gar nichts zu tun. Der internationale Informationskrieg zwischen nicht genau definierbaren Machtgruppen in China, Japan, den USA, Russland, Indien und Europa tobte immerhin schon seit Jahrzehnten und hatte mit der immer umfassenderen weltweiten Vernetzung und unablässig voranschreitenden Installierung von G4- und G5-Netzen beständig zugenommen. Die Kunst der Verschlüsselungstechnologien hatte daher immer weiter an Bedeutung gewonnen. Experten und Whistleblower wie Edward Snowden und die Veröffentlichungsplattform des Wikileaks-Gründers Julian Assange, die seinerzeit den Geheimdiensten Konkurrenz machen wollten, waren mittlerweile auf Abstellgleise geraten.
Damals, im Jahr 2006, als sie noch im California Institute of Technology angestellt war, hatten nicht einmal die dortigen Spitzenleute eine wirkliche Vorstellung davon gehabt, welche Bedeutung die Kryptologie einmal erlangen würde. Auch sie selbst hatte es in jenen Jahren noch nicht in vollem Umfang erfasst. Ihr war es auch gar nicht um Verschlüsselung von Informationen gegangen. Sie hatte umgekehrt lediglich eine vage Idee davon entwickelt, dass es möglich sein müsste, mithilfe mathematischer Methoden alte Schriften und Sprachen, besonders die altägyptischen Hieroglyphen oder das so genannte Transsanskrit, vielleicht sogar die Rongorongoschriften der Osterinseln, entschlüsseln zu können. Denn es war eine wissenschaftliche Tatsache, dass die Menschheit überwiegend nichts Umfassendes über ihre zurückliegende vieltausendjährige Kulturgeschichte wusste, geschweige denn über etwaige Zivilisationen wie der „Atlanter“, die angeblich in grauer Vorzeit „an einem einzigen Tag und in einer einzigen Nacht“ im Atlantik untergegangen sein sollten.
Seit ihrer Studienzeit in den USA hatte sich für Li Hui vieles gründlich geändert. Eigentlich war es wegen der modernen Computertechnologien heutzutage nahezu unmöglich, eine Nachricht unauflösbar zu chiffrieren und unaufspürbar über das Internet zu versenden. Die vielbeschworenen Quantencomputer würden möglicherweise neue Lösungen bringen, hofften vor allem die Geheimdienste. Aber die waren längst noch nicht weit genug entwickelt. Deshalb waren Kryptologen wie sie neuerdings wieder gefragt. Bereits während des Zweiten Weltkrieges hatte man bestimmte Spezialisten, sogar besondere Indianergruppen, rekrutiert, die hervorragende Leistungen auf dem Gebiet der Ver- und Entschlüsselung geheimer Botschaften erbringen konnten. Ähnliche Wunder erwartete man jetzt von den modernen Kryptologen.
Mittlerweile hatte sie ihren kleinen roten Peugeot erreicht, welcher jetzt fast mutterseelenallein auf dem riesigen Parkplatz des Plateaus stand, hatte dem gelangweilten Nachtposten noch einmal freundlich zugewinkt und startete unverzüglich in Richtung der brodelnden ägyptischen Metropole. Vielleicht sollten wir lieber Brieftauben oder Graugänse für die Nachrichtenübermittlung abrichten, dachte sie launig, während sie in den dichten Verkehr über die Qasr al-Nil-Brücke eintauchte und ihrer unauffälligen Pension zustrebte.



2. Kairo


Als Li Hui vor wenigen Tagen in der ägyptischen Hauptstadt eingetroffen war, hatte sie versucht, wieder ihre frühere kleine Maisonettewohnung unweit des El-Tharir-Square zu mieten. Diese war damals, im Jahr 2011, als ihr die Flucht aus den Verliesen des koptischen Klosters gelungen war, einige Wochen ihr Unterschlupf gewesen. Dort hatte sie dann auf das Eintreffen John Redcliffs gewartet. Doch diesmal war diese Pension schon besetzt gewesen und so war ihr nichts Anderes übriggeblieben, als in die oberen Etagen einer ziemlich schäbig erscheinenden Herberge in der Altstadt einzuziehen.
Um ihre eigene Sicherheit machte sich Li Hui kaum Sorgen. Überraschenderweise hatte ihr die Abteilung wieder die Identität der amerikanischen Archäologin Du Chong gegeben, mit der sie seinerzeit ihr Freund und Abteilungsleiter des CIA, John Redcliff, kurz vor seinem Tod ausgestattet hatte. Unter dieser Legende hatte sie 2011 sogar Zugang zu den Katakomben des Ägyptischen Museums und zuletzt zum berühmten Grab 33 erlangt. Und diese merkwürdigen, abartigen Corona-Schutzmaßnahmen erleichterten ihr im Grunde alle weiteren und notwendigen Tarnungsmaßnahmen.
Sie hatte bereits herausgefunden, dass die damalige Direktorin des Museums, Wafaa al Saddik, mit der sie nach einigen Wochen gemeinsamer Arbeit Freundschaft geschlossen hatte, nicht mehr im Amt war. Seit den politischen Wirren Anfang der 2010er Jahre, die die Medien euphemistisch als „Arabischen Frühling“ bezeichnet hatten, waren auch in Ägypten tiefgreifende Veränderungen vor sich gegangen und es war noch viel schwieriger geworden, Zugang zu den Geheimnissen der ägyptischen Altertümer-Sammlungen, zu den Depots oder gar zu Genehmigungen für Grabungen und Forschungen sowohl rund um das Gizehplateau als auch weiter aufwärts des Nils zu erhalten. Das war kein Wunder, wenn man bedachte, dass während jener Aufstände ein Großteil der wertvollsten Artefakte der Museen geraubt worden waren.

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