Im Winter gibt es keine Stachelbeeren mehr

Im Winter gibt es keine Stachelbeeren mehr

Sabine Mayr


EUR 18,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 192
ISBN: 978-3-99130-366-4
Erscheinungsdatum: 29.11.2023
Wann ist es zu spät, die schwarzen Löcher im Röntgenbild seines Lebens zu füllen? Im Winter gibt es keine Stachelbeeren mehr, müssen Sonja und Ronja erfahren, als sie viel zu früh mit dem Tod konfrontiert werden.
Prolog


Ich stelle mir vor: Am Ende schaut man auf sein Leben wie auf ein Röntgenbild. Die Stellen, wo die radioaktiven Strahlen nicht von etwas Wesentlichem, Dichtem absorbiert werden, erscheinen auf dem Filmabzug schwarz.
Ich glaube, die Frage ist letztendlich nicht: Was habe ich erreicht?, sondern eher: Was habe ich mich nicht getraut?
Und: Wann ist es zu spät, die schwarzen Löcher zu füllen?
Im Winter gibt es keine Stachelbeeren mehr …



Einblick


Hellgrelles Blenden wie die Scheinwerfer eines heranrasenden Autos, vor dem es kein Ausweichen mehr gibt. Schneidend wie ein Messer feuert mir das gleißende Photonenbombardement mitten ins Auge, sodass ich es beinahe reflexartig instinktiv schließe zum Schutz.
Stattdessen zwinge ich mich gehorsam, den Anweisungen des Arztes zu folgen: „Bitte nach oben schauen, nach rechts oben, nach rechts, rechts unten, links unten …“
Zum Abschied dann wieder dieser bekannte schlaffe Händedruck, der in mir schier körperliche Schmerzen hervorruft, dem ich diesmal aber keinen Gegendruck mehr entgegensetzen kann.
Alle Ärzte, die ich kenne, scheinen diesen kraftlosen Händedruck, oft auch noch feuchten zu haben. Ist es vielleicht eine Berufskrankheit? So quasi wie eine Art Lähmung, eine Ohnmacht aufgrund dessen, was sie beim Einblick in unsere Körper sehen müssen?
Draußen vor der Praxistür setzt wieder akut stechende Blindheit ein. Diesmal aufgrund des ungebremsten Eindringens der herzlosen Sonnenstrahlen in meine weitgetropften Pupillen. Kleopatra tropfte sich angeblich Tollkirschenextrakt in die Augen, um einen betörenden tiefschwarzen Blick durch die weitdilatierten Pupillen zu erzielen.
Ich taumele zurück. Als würde es mir den Boden unter den Füßen wegziehen. Halte mich eine Sekunde am metallkalten Türgriff der Augenarztpraxis fest. Die Leute um mich herum müssen denken, ich sei betrunken.
Ich schleiche verunsichert, vorsichtig mit der Fußspitze über das Pflaster tastend, wohin ich meine Schritte setzen soll, langsam durch die dichten Straßen der lauten, pulsierenden Münchener Innenstadt. Es ist noch ein weiter Weg bis zu Hause, aber den U‑Bahn-Plan kann ich unter dem Einfluss der Atropin-Augentropfen eh nicht entziffern.
Ich gehe zu Fuß. Allein. Unter lauter Menschen.
Der dröhnende Motorenlärm der vielen Autos und Busse, das forsche Klingeln der Straßenbahnen, die zielstrebigen Schritte und das sinnlose Reden der Menschenmasse um mich herum beginnen immer mehr zu einem Rauschen zu werden und zu verblassen.
So ähnlich wie bei einem Tinnitus oder unter Drogeneinwirkung ertönt leise anschwellend in meinem Kopf aus dem Nichts, ohne dass ich es will, die bekannte Melodie von „Hello darkness, my old friend, I’ve come to talk to you again“ …
Es heißt, Blinde lernen, ihre anderen restlichen Sinne zu schärfen.
Mich hat auf einen Schlag die visuelle Kontrolle der Welt um mich herum verlassen, und ich bin darauf zurückgeworfen, in mich allein hineinzublicken.
Dort sehe ich nur noch Angst.



Rückblick I


Mama mit den langen, seidenglatten blonden Haaren, dem jugendfeinen Gesicht wie Porzellan, einem leisen Lächeln um die Lippen, vorne aufgeknöpfter Jeansjacke, darunter die zarten Brustansätze in der Mitte, nackt unter der geöffneten Jacke. Im Hintergrund tiefblaugrün der Ammersee, im Wasser spiegelt sich der goldrote Sonnenuntergang, der sie von hinten erstrahlen lässt wie Botticellis Venus. Ist es nur die Erinnerung an das Polaroidfoto, das Papa von ihr macht, oder die wahre eigene Erinnerung an diesen gemeinsamen Urlaubsabend?
Mein eigenes kindliches Losheulen: „Hört auf! Mama, mach die Jacke zu, zieh dich an, ich will das nicht!“ Das Lachen meines Vaters, der nicht aufhört, weiter mit der Polaroidkamera Bilder von seiner Frau zu schießen, die Tochter und ihr Weinen ignorierend.
Bis die Mama sich mit schamvollem Blick auf mich die enge Jacke über der Brust zuknöpft, sich zu mir herunterkniet, mich in den Arm nehmen will und verlegen lacht. „Aber das sieht doch niemand außer dir und Papa.“
Aber ich winde mich trotzig aus ihrer Umarmung, die mir plötzlich zu intim ist, fremd, nicht meine Mama. Eine Fremde, Frau, Liebesobjekt, beschämend, bedrohlich, beeindruckend … beneidet?
Eifersucht. Mama und Papa ein Paar. Eine Liebe, die nichts mit mir zu tun hat. Brüste, von denen ich nie trank, die er aber küsste.



Sporttag


Vergeblich stelle ich mich in die allerhinterste Reihe, hoffe, sie sind dann bereits weg, wenn ich drankomme. Aber nein, falsch gehofft, ich muss an den Start und gefühlt recken noch mehr Jungs am Rand der 100‑Meter-Laufbahn ihre Hälse, um besser glotzen zu können.
Niederknien, Füße in die Startblöcke, Hände auf den roten Aschboden.
Frau H. kommandiert: „Drei, zwei, eins“, die Startpistole knallt.
Zeitlupe, zäh, honigschwer. Die Rücken und Sohlen der anderen vor mir. Die Glieder, schwer, scheinen zu kleben am Boden, ich versuche verzweifelt, sie abzustoßen und vorwärtszukommen. Noch schwerer wiegen die Brüste, die wackeln bei jedem Schritt, im billigen BH, deutlich sichtbar unter dem billigen Baumwoll-T‑Shirt. Sie wippen auf und ab, hin und her, synchron zu meinem Schnaufen.
13,9 Sekunden. Allerletzte nicht nur in meiner Startreihe, sondern wie immer insgesamt von der ganzen weiblichen Hälfte der Klasse. Die männliche Hälfte steht pfeifend am Laufbahnrand, laut grinsend, und lässt sich nur langsam und zögerlich von Herrn S. zurückrufen in ihre Weitsprung-Sandgrube. Dabei dreht man sich noch mehrmals nach mir um, ständig unverschämt lachend zurückstarrend.
Mein Kopf feuerrot, vor Scham und Anstrengung. Scham mehr noch als alles andere, der Busen, die Blicke, die Langsamkeit.
„Sonja, hast du Kaugummi an den Füßen, du trampelst wie ein Elefant, du musst vorwärtsrennen und nicht Löcher in den Boden stampfen. Eine Vier!“
Meine schlechteste Note, immer.



Schmerz I


Fibrozystische Mastopathie. Auf gut Deutsch heißt das: regelmäßig vor der Periode immer für mindestens zwei bis manchmal sogar drei Wochen im Monat dicke, heiß geschwollene Busen, schlimmer als der schlimmste Milchstau. Den hatte ich vor Jahren, so viel Milch, dass Florence nicht damit fertigwurde. Sie spritzte ihr so schnell und viel in den Mund, dass sie sich verschluckte. Mein mütterlicher Milcheinschuss-Reflex funktionierte im Übermaß.
Die neugierigen Blicke der südländischen Großfamilie. Täglicher fürsorglicher Besuch meiner Bettnachbarin auf der Wochenbettstation. Wie damals zur Schulzeit im verhassten Sport und Schwimmunterricht. Da half auch der von der Pflegefachfrau halbherzig vorgezogene Paravent-Vorhang vor mein Wöchnerinnenbett nichts. Ich kam mir vor wie eine fette Kuh im Kuhstall, die der Bauer vergessen hatte zu melken, mit überprallen, fast platzenden Eutern, die Haut darüber mit dick schlängelnden Venen bläulich übersät.
Die Hebamme versuchte erst Salbeitee, lächerlich, noch mehr Flüssigkeit. Dann erst eine halbe Tablette Dostinex, danach eine ganze, auch ohne Effekt. Sie meinte, ich dürfe maximal zwei nehmen, damit es nicht ganz abstillt. Am Ende beschaffte ich mir zu Hause noch mal eine Packung mit acht Tabletten, die ich einfach auf einmal schluckte, so satt hatte ich den Zirkus. Dann endlich wurde es besser.
Die Milch reichte am Ende problemlos und vollständig für ihr Gedeihen, bis Florence ganze 14 Monate alt war. Dann musste ich sie endgültig in der Krippe abgeben, weil ich endlich mal wieder arbeiten und nicht mehr nur den ganzen Tag stillen wollte. Erst ab diesem Zeitpunkt akzeptierte sie eine alternative Ernährungsform und stieg von einem Tag auf den anderen von Muttermilch und sonst nichts anderem direkt auf Pasta mit Parmesan um. Sie, die vorher keinen Löffel Joghurt und nicht mal abgepumpte Muttermilch aus der Flasche, von Egon offeriert, tolerierte.



Innsbruck


„Es wäre die Chance für mich, unter Alois Zielbauer zu forschen. Und du kannst in Innsbruck doch auch als Architektin arbeiten.“
Was wir damals noch nicht wissen konnten: dass Egon Jahre später Professor Zielbauer per Telefon zur Verleihung des Physik-Nobelpreises gratulieren würde.
Aus dem Vorhaben, in Innsbruck als Architektin eine Stelle zu finden, wird dann aber nichts. In Wahrheit suche ich gar nicht wirklich.
Meine Ausrede: Florence, zehn Jahre, will nicht umziehen. Sie spielt in München an der Schule die Hauptrolle beim Musical „Der kleine Tag“, der darum kämpft, in der ersten Reihe der wichtigen und großen Tage platziert zu werden.
Meine Rolle: die Familie zusammenhalten. Ich rede mir ein, aus diesem Grund erst mal zu Hause bleiben zu müssen.
Florence lernt dann als Einzige von uns dreien schnell den österreichischen Dialekt, übersetzt mir, wenn ich im Kaufladen um die Ecke oder am Telefon jemanden nicht verstehe. Sie findet an der neuen Schule auch eine Musicalgruppe und überhaupt rasch neue Freundinnen.
Ich freunde mich vor allem mit der österreichischen Küche an. Folge den Rezepten für Topfenpalatschinken, Kaiserschmarrn, Apfelstrudel, Kaspressknödel, Schlutzkrapfen … nur das Wiener Schnitzel sei in der Unikantine besser, als ich es zu Hause hinbringe, meint Egon.
Neben dem Kochen melde ich mich für einen Französischkurs an, auffrischen, was seit der Schulzeit einrostete. Einmal sollen wir in der Stunde das Aussehen von Personen beschreiben: „J’ai les cheveux longs.“
Mir fällt auf, ich hatte schon mein ganzes Leben lang lange Haare, wie meine Mutter, wie Florence.
Der Verlust der Haare wäre mir untröstliches Unglück. Eine komplette Brustentfernung hingegen beschließe ich, sei kein Problem bei Bedarf …



Großmütter


Meine Omas. Eine dick mit riesigem Busen, auf den sie jeden Mittag ihr Essen tropfte. Die andere hager wie meine Mama, mit vielleicht nur wegen dieser Hagerkeit, oder wegen der Erlebnisse während des Weltkriegs und danach, mit verkniffenem Gesichtsausdruck.
Während meine Mama im Hutladen als Verkäuferin arbeitete, war ich bei der dicken Oma. Meine jüngste Tante bei meiner Geburt erst sieben, mein jüngster Onkel nur fünf Jahre älter als ich. Von ihr durfte ich Bücher ausleihen. Mit ihm baute ich Lego.
Dort war ich kein Einzelkind.

Wenn ich einmal bei der dünnen Oma war, durfte ich immer ihren geblümten Friseur-Schulterumhang mit dem hübschen Spitzensaum zum Spielen haben. Er wurde mein Rock, mein Prinzessinnenkleid, mein Hochzeitsschleier.
Unter dem kleinen Küchentisch mit der lang herunterhängenden Tischdecke war mein Haus, mein Schloss. Warten auf den Märchenprinzen auf weißem Ross.
Auch gab es bei ihr regelmäßig trockenhart alte Semmeln oder Weißbrot in süß-gezuckertem Milchkaffee aufgeweicht. Ich löffelte diese Brotsuppe gern. Mit sechs.
Der Koffeingehalt war sicher nicht so schlimm hoch – wenn es überhaupt echter Kaffee und nicht Muckefuck, also Kaffee-Ersatz aus Malz, war –, als dass es meiner Hirnentwicklung zu viel geschadet haben könnte.
Immerhin schaffte ich das Gymnasium. Als Erster in der Familie.
5 Sterne
Im Winter wachsen keine Stachelbeeren  - 23.12.2023
Bernhard Härle

Ein sehr bewegendes Buch, dass auch selbst nachdenklich stimmt" Was war,was bleibt"Habe es gerne gelesen und werde es auch weiterreichen

Das könnte ihnen auch gefallen :

Im Winter gibt es keine Stachelbeeren mehr

Verena Schwarzer-Zaugg

JOYA auf Nordkurs

Buchbewertung:
*Pflichtfelder