Ein Tag sagt es dem andern

Ein Tag sagt es dem andern

Rosalia Hardt


EUR 14,90
EUR 8,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 126
ISBN: 978-3-99038-702-3
Erscheinungsdatum: 03.02.2015
Durch ein anonymes Geschenk sieht sich ein erfolgsverwöhnter Rechtsanwalt mit unrühmlichen Ereignissen aus seiner Vergangenheit konfrontiert. Beunruhigt und verunsichert, beginnt sein Leben in neuen Bahnen zu verlaufen, und nähert sich immer mehr dem Weg, den er bislang darzustellen vermeinte.
Die Türe zum Arbeitszimmer öffnet sich weit genug, dass sich durch den Spalt behutsam und fragend ein Kopf schieben lässt.
„Kannst du dich von deinen Akten losreißen? – Wenn ja, so können wir jetzt essen!“
Die Frage bleibt unbeantwortet, möglicherweise wurde sie nicht einmal gehört. Sandra stößt die Türe vollends auf. Keine Reaktion. Sie bleibt im Türrahmen stehen und sieht aus wie ein Gemälde, denn im Raum, aus dem sie tritt, ist es beinahe dunkel und das starke Deckenlicht im Arbeitszimmer ihres Mannes lässt sie erstrahlen wie ein wertvolles Kunstwerk. Sie wartet. Außer dem schleifenden Geräusch von hin- und hergeschobenem Papier bleibt es still. Sandra steht bewegungslos in der Türe, wie in einem Bilderrahmen. Sie möchte, dass Albert sie ansieht. Sie hat sich besonders hübsch gemacht, um dem in letzter Zeit immer seltener vorkommenden Ereignis eines gemeinsamen Abendessens ein wenig Würde zu verleihen. Nach einer langen leeren, mit Geduld ertragenen Minute hebt er endlich den Kopf, dreht ihn ein wenig in Sandras Richtung, um anzuzeigen, dass er dort irgendetwas bemerkt hat, doch unverändert bleibt sein Blick am über und über mit Papierkram, Büchern und Zeitschriften beladenen Schreibtisch kleben.
„Ja“, sagt er schließlich in fragendem Ton, „was ist?“ Und da sie schweigt, sieht er sie endlich an.
„Du siehst sehr elegant aus! Haben wir Gäste?“
„Manchmal glaube ich, du selbst bist Gast in deinem eigenen Haus. Wenn du da bist, arbeitest du oder es ist Nacht und du schläfst. Ich hingegen, ich wohne und ich genieße das Wohnen, vor allem genieße ich deine Anwesenheit. – Ich muss es sagen, auch wenn du es schon nicht mehr hören kannst!“
Und nach einer kurzen Pause tritt sie in den Raum, geht langsam und feierlich um den Tisch herum, bleibt hinter ihrem Mann stehen und legt ihm liebevoll beide Arme um die Brust, als wolle sie ihn fesseln.
„Nein“, flüstert sie beinahe, „wir haben keine Gäste. Ich freue mich auf einen gemütlichen Abend mit dir.“
„Sind die Kinder da?“, fragt er, und versucht, noch einige Mappen aus der am Tisch liegenden Aktentasche herauszuziehen. Sie lässt ihn los, lehnt sich neben ihn gegen die Tischplatte, um in sein Gesicht sehen zu können und auch um ihn ein wenig in seinem fortgesetzten Tun zu stören.
„Nein, du weißt doch, dass Agnes seit dem Wochenende im Landhaus ist, und Markus ist heute bei Freunden.“
„Im Landhaus? Was macht sie alleine im Landhaus?“
„Wieso alleine? Deine Eltern wollten doch unbedingt das Bergfest miterleben und sie ist mitgefahren. Das kannst du doch nicht vergessen haben!“
„Nein, nein“, sagt er schnell, „jetzt erinnere ich mich, sie wollte unbedingt mit.“
Er lehnt sich zurück, sieht in ihr fröhliches Gesicht, greift nach ihrem Arm und haucht einen Kuss auf den Handrücken.
„Eigentlich wäre ich jetzt auch gerne dort“, sagt er seufzend und lässt damit eine Träumerei erkennen, welcher er in seinem beinahe bis zum Bersten ausgefüllten Leben selten genug Platz gewährt, „weniger beim Fest als auf einer einsamen Almhütte, mitten in den stillen Bergen – um zuzusehen, wie sich das Abendrot verändert und das Tal immer dunkler wird …“
„Lass dich nicht davon abhalten, ich könnte sofort alles vorbereiten, was du dafür brauchst – und vielleicht würdest du mich sogar mitnehmen?“
Sie lacht ein wenig mitleidig, denn sie kennt die wechselseitig bedingten Kräfte, einerseits den mühsam erreichten Erfolg und andererseits die daraus geborene Peitsche, die, je bedeutungsvoller das Erreichte ist, weiter ausholt und gnadenloser vorantreibt. Ein Innehalten könnte schon ein Fehler sein, der nicht mehr verbessert werden kann.
„Mit dir alleine in den Bergen, das wäre herrlich“, schwärmt er.
„Vorläufig begnüge ich mich damit, wenn du mit mir zu Tisch kommst.“
Sie nimmt ihn an der Hand wie ein Kind und sagt auffordernd: „Komm!“
Er folgt ihr und lässt sich willig führen. Sie zieht ihn am Lesetisch vor der großen Bücherwand vorbei und hält kurz inne.
„Schau“, sie weist mit der freien Hand auf die am Tisch lagernden Dinge: Flaschen, Kartons, Päckchen …
„Hier liegen seit mehr als einer Woche deine Geburtstagsgeschenke von der Feier im Büro, und sie liegen noch genauso, wie der Kanzleibote sie dir nachgetragen hat. Wann wirst du das alles anschauen? Der Wein leidet bei dieser Temperatur, er gehört in den Keller. Hier, schau, einige Päckchen hast du noch gar nicht aufgemacht.“
„Ich hatte noch keine Zeit, mein Schatz, aber ich verspreche, demnächst alles dahin zu verteilen, wo es hingehört.“
„Ich bestehe darauf“, sagt sie mit gespieltem Ernst und zieht ihn weiter hinter sich her.

Bald nach dem Abendessen sitzt Dr. Albert Wender schon wieder hinter seinem Schreibtisch. Als eine der tragenden Säulen der Anwaltskanzlei, in der ihm neben weiteren vier Kollegen als Gründer der Gemeinschaft auch die Last der Verantwortung zufällt, gelingt es ihm niemals, Arbeit und Privatleben zu trennen. Die Liebe zu seinem Beruf, die feinsinnige Akribie für jedes Detail seines Vorgehens und der darin begründete, immer wiederkehrende Erfolg hat ihn in Fachkreisen und weit darüber hinaus bekannt gemacht. Für jeden Mitarbeiter ist es eine besondere Auszeichnung, mit ihm arbeiten zu dürfen und der Kanzleigemeinschaft anzugehören.

Den gewaltigen Einsatz, den er beiträgt und von sich selbst fordert, erwartet er auch von allen Mitarbeitern, ob Kollege, Rechtsanwaltsanwärter, Sekretärin, Schreibkraft, Bote oder Putzfrau. Jeder hat auf seinem Gebiet Spezialist zu sein und hochwertige Arbeit zu leisten, will derjenige fortan dazugehören. So kommt es zwangsläufig immer wieder zu Komplikationen, immer dann, wenn Mitarbeiter nicht gleichfalls, so wie er selbst, ihre verdiente, zur Regeneration unverzichtbare, persönlich geplante Freizeit opfern wollen.
Dr. Wender sind aber auch die günstigsten Umstände zugefallen, um sich nahezu jederzeit seiner Arbeit widmen zu können. Seine Frau, welche er als Studienkollegin kennen, schätzen und lieben gelernt hatte, war nie darauf bedacht gewesen, selbst berufstätig zu sein, um die eigenen vielfältigen Qualitäten hervorzukehren und unter Beweis zu stellen. Sie leistet ihren besonderen Einsatz in der Organisation all dessen, was ihr Mann als nebensächlich betrachtet, obgleich dies in Wahrheit das wertvolle und stabile Gerüst ist, welches seinem Berufserfolg, seiner familiären und persönlichen Harmonie als unverzichtbare Basis dient.
Die Betreuung der Kinder, Agnes (sie studiert mehr oder weniger engagiert Sprachen) und Markus, welcher noch die Schule besucht, hat ihr durch besonderes Einfühlungsvermögen stets deren dankbare Zuneigung und Anerkennung eingebracht. Die Führung des Hauses sowie des Landsitzes, familiäre Belange, gesellschaftliche Verpflichtungen und was damit auch immer zusammenhängt, dies alles beherrscht Frau Dr. Wender, umsichtig, freudvoll und in stiller bescheidener Selbstverständlichkeit.
Dr. Wender spricht den erklärenden Begleitbrief zum soeben beendeten Schriftsatz auf das Tonband. Er ordnet die Schriftstücke in den Akten, schließt sie und verwahrt sie samt den beiden volldiktierten Tonbändern in seiner Aktentasche. Es ist 23.12 Uhr. Dr. Wender beabsichtigt, den Arbeitstag mit dem Einlösen des vor dem Abendessen gegebenen Versprechens zu beenden. Er geht zum Lesetisch.
„Das sieht ja wirklich chaotisch aus“, denkt er laut und greift nach einer Flasche, streift die schon gelöste Verpackung ab und betrachtet mit Wohlwollen und fachlicher Taxierung die Etikette. Seine Sammelleidenschaft, sein beachtenswertes Urteilsvermögen über Weine ist allgemein bekannt. In seinem Keller finden sich erlesene Abfüllungen, die er dann und wann im Kreise der Familie oder bei Festen mit Freunden auf den Tisch bringt und genießt. Er betrachtet eine Flasche nach der anderen, stellt sie in Reih und Glied zusammen und liest die dazugehörenden Kärtchen. Zwei Flaschen Champagner sind auch dabei. Ein paar kleine Geschenke anderer Art schiebt er auf die andere Seite des Tisches, um zwischen den beiden Anordnungen Platz für das anfallende Verpackungsmaterial zu schaffen.
In dem Papiergewühl liegen noch zwei ungeöffnete Päckchen von ähnlicher Größe. Dr.Wender öffnet das nächstliegende. Nach einiger Mühe kommt ein überdimensioniertes Paragrafzeichen zum Vorschein, das wohl als Briefbeschwerer zu verwenden ist. Glaskunst, überlegt er anerkennend und betrachtet mit Interesse das hübsche Stück, das seine offene Hand beinahe vollends bedeckt. Die zarten ineinander geronnenen Farben bilden Spiralen und Kringel, die sich in die Tiefe des Glases schlängeln. Sehr hübsch, denkt er, Vergleichbares habe ich noch nie gesehen, sicher eine künstlerische Sonderanfertigung. Er greift nach der beigelegten Karte. Es ist ein Geschenk des Sekretariats eines seiner Kollegen. Dr. Wender geht mit dem Briefbeschwerer zu seinem Schreibtisch und legt ihn nach kurzer Überlegung, welchen Papierstapel er damit schmücken soll, langsam, beinahe ehrfurchtsvoll, auf den höchsten, der sich anbietet.
Ja, gefällt mir! Eine sehr nette Idee! Und mit dieser Feststellung wendet er sich dem zweiten Päckchen zu. Er wiegt es kurz in den Händen und ahnt unter der Verpackung ein Buch. Muss ich das lesen?, geht es ihm durch den Kopf, schon wieder Fachliteratur? Wann soll ich das alles bewältigen?
Mit einer mechanischen, raschen Kopfdrehung gönnt er dennoch den am Schreibtisch lagernden und auf Durchsicht wartenden Druckwerken verschiedenster Art einen Blick und reißt interesselos die Verpackung auf. – Nein, nicht das Erwartete!
„Steine am Fluss“ liest er und schaut auf ein anmutiges Landschaftsbild. „Von Vera Weiß, Kurzgeschichten.“ – Wer ist Vera Weiß? Nie gehört, wer kann das schon sein? Absolut unbekannt! Er öffnet das Buch und lässt die glatten Seiten vom Ende bis um Anfang durch die Finger laufen und genießt den dabei entstehenden Luftstrom. – Und wer hat mir das verpasst? – Er legt das Buch zur Seite und wühlt nach einem Hinweis. Er wendet das zerrissene blümchenverzierte Papier hastig hin und her, sucht rechts und links, sucht unter den anderen Verpackungsresten, sucht unter dem Tisch und blättert schließlich das Buch selbst noch einmal durch. Keine Karte, keine Widmung! – Na schön, ist ja auch nicht so wichtig.
Er holt den Papierkorb, um die Verpackungskartons der Flaschen und die Papierreste hineinzustopfen, erkennt aber bald, dass er viel zu klein ist.
„Sandra“, ruft er, und noch einmal, ein wenig lauter: „Sandra!“ – Sicher ist sie noch nicht zu Bett gegangen, ohne etwas zu sagen.
Sandra kommt. Sie sieht die begonnene Arbeit und erkennt das Problem sofort.
„Du brauchst eine Kiste, damit du den Wein bequem in den Keller tragen kannst, vielleicht sogar zwei und“, sie kommt näher, „und einen Sack für das Altpapier.“
„Ja! So ist es! Und erlaube mir, bitte, den Wein morgen in den Keller zu bringen. Bis dahin kannst du mir vielleicht die passende Kiste für den Transport bereitstellen.“ Er sieht müde aus.
„Die kann ich dir auf der Stelle bringen –, aber lass es dir besser für morgen.“ Dabei sieht sie sich die aufgereihten Dinge an.
„Hier“, sagt er und geht zum Schreibtisch, „hier habe ich etwas Nettes.“
Er reicht ihr das gläserne Stück und bemerkt erst jetzt, dass die Unterseite etwas abgeflacht ist, weil Sandra es sofort hin und her dreht.
„Sehr schön, ein ästhetisches Ding, herrliche Farben. Und wie passend, es wird dir gute Dienste leisten.“ Sie lacht schelmisch.
Dann fällt ihr das Buch auf.
„Ah, was für ein hübsches Bild, Steine am Fluss! Kennst du die Autorin denn – Vera Weiß?“, liest sie.
„Nein, keine Ahnung. Ich weiß nicht einmal, von wem ich es bekommen habe. Die Karte habe ich verloren oder verlegt, vielleicht war auch gar keine dabei.“
„Aber sicher, du wirst sie finden“, sie schlägt das Buch auf.
„Das ist etwas für dich. Wie lange hast du schon keine Unterhaltungsliteratur mehr gelesen? Kurzgeschichten! Das solltest du dir ins Bett mitnehmen, statt deinen Fachzeitschriften, Börsenberichten, Schriftsätzen, Gesetzestexten und was immer … eine Kurzgeschichte vor dem Einschlafen ist sicher die bessere Variante für einen erholsamen Schlaf.“
Sie schiebt ihm das Buch unter den Oberarm.
„Nimm es mit und alles andere lassen wir bis morgen liegen!“

Dr. Wender benützt zur Nacht seit längerer Zeit eines der kleineren Gästezimmer. Seinen unruhigen Schlaf, das unvermittelte Hochfahren in eine plötzliche klare Wachheit, in die er häufig aus dem deutlichen Gefühl aufschreckt, etwas Wichtiges nicht versäumen zu dürfen oder es womöglich bereits versäumt zu haben, sein unruhiges Umhergehen im Haus und sein nächtliches Kritzeln von Notizen auf kleine Zettel wollte er seiner Frau nicht länger zumuten.
Er liegt auf dem Rücken und seine Augen verfolgen die gerade noch zu erkennenden Umrisse der Möbel im dunklen Raum. Die wohlige Schwere des Schlafs rückt immer mehr von ihm ab. Er ist hellwach. Minuten später knipst er wieder das Licht am Nachttischchen an. Dann zieht er den Polster am Kopfende des Bettes hoch, lehnt sich dagegen und greift gelangweilt nach dem Buch. Der Buchdeckel mit der sich abzeichnenden Schleife, die einen Mäander im schmalen Flussbett ahnen lässt, an dessen Ufern sich große und kleinere nass glänzende, glatt geschliffene Steine abgelagert haben, wirkt wie eine Einladung zur Meditation. Eine Weile nimmt er das Bild in sich auf. „Steine am Fluss“ wiederholen seine Gedanken mehrmals.
Er beginnt zu lesen. Der Text ist von angenehmer Klarheit, lässt sich leicht und flüssig aufnehmen und baut eine zarte Spannung auf, welche Dr. Wender Seite um Seite lesen lässt. Es ist also keines der vielen Bücher, die in waghalsigen, ja grotesken, nicht nachvollziehbaren Fantasien unablässig und massiv eine erfundene Besonderheit beinahe gewaltsam in den Leser einzukerben versuchen, die offensichtlich nur dem Verfasser selbst verständlich bleibt. Texte, die im negativen Sinne kribbelig machen, anhaltende Unruhe und Verständnislosigkeit auslösen, welche Dr. Wender längstens nach der zweiten oder dritten Seite für immer beiseitelegt.
Am Ende der ersten Geschichte schließt er das Buch. Wieder betrachtet er den Fluss und er lässt seine Gedanken mit den tosenden Wassern mittanzen, über bunte Steine gleiten und bis zum Boden absinken. Schließlich löscht er das Licht, legt sich im Bett zurecht und schläft ein.

Am nächsten Morgen, noch bevor Dr. Wender die Augen öffnet, ist ihm gewiss, dass er so herrlich und ruhig geschlafen hat, wie schon lange nicht mehr. Gut gelaunt steigt er aus dem Bett und das Erste, was er wahrnimmt, ist das Buch am Nachttisch. Er erinnert sich mit einer Deutlichkeit an die Geschichte, als hätte er sie während des Schlafs ein weiteres Mal vorgelesen bekommen.

Im Verlauf des Tages kehren Dr. Wenders Gedanken ohne erkennbaren Anlass mehrmals zurück zu dieser Geschichte. Jedoch die im Übermaß mit Forderungen beladenen Stunden lassen es nicht zu, der leisen Stimme ablenkender Gedanken auch nur eine Minute Gehör zu gewähren oder sogar deren aufdringliche Beharrlichkeit zu untersuchen. Äußerstenfalls könnte er sie, wie es seine Gewohnheit ist, in einer kurzen Notiz festhalten, aber dazu erschienen ihm die Gedanken nicht wichtig genug.

Am späten Abend sitzt er zwischen Geschäftspartnern in einem Hotelrestaurant. Und unversehens, ohne jeglichen Zusammenhang mit der augenblicklichen Situation, weiß er es. Er weiß, wieso jene Kurzgeschichte nicht aus seinem Kopf zu bekommen ist. Sie kommt ihm bekannt vor, so, als hätte er sie schon einmal irgendwo gehört, als würde ihn irgendetwas zwingen, in seiner Erinnerung danach zu kramen und zu forschen …
Er ist sich sicher, zu gegebener Zeit wird sich wie von selbst klären, woran sie ihn gemahnt, seine Aufmerksamkeit so beansprucht und sich so beharrlich zu Wort melden möchte. Von diesem Zeitpunkt an beteiligt er sich mit merklich größerem Interesse an den Tischgesprächen.
Dr. Wender steigt langsam aus dem Bett. Wieder einmal kann er nicht einschlafen. Er geht leise die Stufen in die Küche hinunter. Er holt ein Glas aus dem Schrank, füllt es mit Leitungswasser und geht damit, ab und zu einen Schluck nehmend, umher.
Die am Vorabend gelesene Geschichte war von einfacher Alltäglichkeit. Nichts Außergewöhnliches. Ein Diplom-Ingenieur, verantwortlich für die Tiefbauarbeiten einer Baugesellschaft, benötigte zur Unterstützung seiner Sekretärin eine geeignete Mitarbeiterin. Aus einigen Bewerbungen wählte er schließlich ein junges Mädchen mit entsprechender Ausbildung, das vor kurzer Zeit, vom Land in die Stadt gezogen war und vorübergehend bei einer Tante untergekommen war. Gesprächsweise erfuhr er, dass der Vater des Mädchens, nach dem drei Jahre zurückliegenden Tod der Mutter, wieder eine Frau gefunden hatte, die nun im Elternhaus lebt und die er auch heiraten wollte. Das Mädchen und diese Frau verstanden einander nicht, ja man könnte sogar sagen, dass sie sich feindselig gegenüberstanden.
So beschloss das Mädchen in der Großstadt zu arbeiten, sparsam zu leben und später eine eigene Wohnung zu mieten. Diese Umstände ließen ihren neuen Chef vermuten, eine fleißige, strebsame Mitarbeiterin vor sich zu haben, die schon wegen ihrer familiären Situation und den wirtschaftlichen Gegebenheiten nicht so bald ihren Arbeitsplatz wechseln oder große Ansprüche stellen würde. Vertraglich wurde vereinbart, dass nach einmonatiger Probezeit, in der beide Seiten jederzeit und ohne Angabe von Gründen die Zusammenarbeit auflösen können, welche andernfalls in ein dauerhaftes Arbeitsverhältnis, gemäß den gesetzlich geregelten Bestimmungen, übergehen würde.
Das Mädchen war umsichtig und geschickt, aber, durch seine widrigen Lebensumstände geprägt, äußerst verschlossen und still. Nachdem eine Woche mehr als ein Monat vorbeigegangen war, wagte das Mädchen mit unsicheren, zögernden Worten, die Sekretärin zu fragen, ob ihrer Meinung nach ein Verbleiben in der Firma für sie jetzt gesichert wäre oder ob sie sich an den Chef wenden sollte. Wenn der Chef bisher mit ihr nicht darüber gesprochen hätte, meinte diese, brauche sie sich keine Sorgen zu machen, dann ist er mit ihr zufrieden und das Arbeitsverhältnis genauso sicher wie ihr eigenes.
Eine weitere Woche später erhielt der Diplom-Ingenieur den Anruf eines ehemaligen Studienkollegen, welcher ihm vor einiger Zeit ein einträgliches Geschäft vermittelt hatte. Es ging darum, für seine Nichte, die in einem Büro arbeiten wollte, einen geeigneten Job zu finden. Er leugnete nicht, dass die junge Dame bereits einige Stellen wegen ungünstigen Bedingungen, wie sie selbst sagte, nach kurzer Zeit wieder verlassen hatte, aber: „Bei dir, in deinem Büro oder dem eines Kollegen, wirst du sie schon zu ihrer Zufriedenheit unterbringen können. In deiner Position hast du ja Möglichkeiten genug.“
Die Bitte konnte nicht abgelehnt werden. Das ohnehin vom Schicksal geplagte Mädchen vom Land, ganz auf sich allein gestellt, unsicher und unterwürfig, wurde zu ihrem Chef gerufen, welcher ihm erklärte, dass er das Arbeitsverhältnis sofort löse. Er werde die Buchhaltung anweisen, das anteilige Gehalt für die beiden Wochen des laufenden Monats zu bezahlen und ab der kommenden Woche sei das Arbeitsverhältnis beendet. Für das Mädchen stürzte eine Welt zusammen. Es wagte in seinem Unglück nicht zu widersprechen, nichts zu fragen und ging verstört in sein Zimmer zurück, vergrub das Gesicht in den Händen und weinte leise vor sich hin. Es konnte auf die besorgten Fragen der Sekretärin vor Kummer lange nicht antworten, erzählte aber schließlich das Vorgefallene. Was sollte sie denn jetzt tun? Sie war über die Stelle sehr froh und die Tante, der sie eigentlich im Wege war, hatte schon vom Ausziehen gesprochen.
Die Sekretärin beruhigte, meinte, so könne das nicht akzeptiert werden. Es müsse auf jeden Fall, da die vereinbarte Probezeit überschritten sei, die vorgeschriebene Kündigungsfrist und auch der entsprechende Termin dafür eingehalten werden. Das könne keinesfalls die kommende Woche sein. Nach einem längeren Gespräch, in dem das unglückliche Mädchen doch etwas beruhigt werden konnte, wurde die Wortwahl festgelegt, mit welcher es entschlossen vor den Chef treten und seine Rechte einfordern sollte.

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