Die geheimen Jahre einer Kindheit
Mischa Schlemmer
EUR 17,90
EUR 14,99
Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 266
ISBN: 978-3-99131-486-8
Erscheinungsdatum: 31.10.2022
Die Geschichte eines Jungen, der nach Unverständnis im Elternhaus und schlimmen Erlebnissen im Internat die Flucht ergreift und bei Menschen im Norden Liebe und Verständnis findet.
Danksagung
Für meine Kinder und Enkelkinder, mögen sie aus dem, was sie lesen, etwas lernen und immer selber nachdenken, um ihren Lebensweg zu gehen.
Danke an meine Frau, die immer hinter mir steht, und dass unsere Liebe über alle Zeit und allen Raum geht.
Danke an meine Tochter Amelie, die mit mir auf der Buchmesse den Verlag ausfindig gemacht hat.
Danke für die Motivation beim Schreiben und Veröffentlichen, Frau Koch, Andreas, Thomas und Uli.
Danke an meine Eltern, dafür, dass sie immer versucht haben, auf ihre Weise mir das Beste zukommen zu lassen. Auch wenn manches für mich schmerzlich schien, hat es mich dort hingebracht, wo ich heute im Leben, dank ihnen, stehe.
Danke an meinen Großvater, der mich immer lehrte, in der Einfachheit liegt das Glück und das Gegenteil von Verschieden mich lehrte.
Mut ist es, seinen eigenen Weg, trotz jeglichen Wiederstands, zu gehen.
Kapitel 1
Der alte Mann
Es gibt Momente in unserem Leben, die ziehen vorüber wie eine Gewitterwolke, man vergisst sie so schnell, wie sie einem begegnet sind. Doch gibt es auch Momente, deren Ereignisse so schmerzhaft an uns haften bleiben, dass sie uns ein Leben lang begleiten. Damals dachte ich, dass Liebe beständig sei. Dass sie aus Reinheit, Ehrlichkeit bestehe und sich schmerzlos anfühle. Doch heute weiß ich, dass die Liebe nur ein Begriff ist, der einen zerstören kann, wenn man die eigene Liebe zu sich selber vor die Liebe zu einem anderen Menschen stellt. Oder wenn man etwas von der Liebe erwartet und dafür eine sogenannte Liebe gibt.
Der frisch gefallene Schnee, der in der vergangenen Nacht vom Himmel herabschwebte, schien sich wie aufgewirbelte Staubkörner vom Boden zu heben, um letztendlich wieder zur Erde zu fallen, als Jonas sich vor dem Grabstein im Schnee niederließ und den mitgenommenen Christstern tief in den Schnee drückte.
Es sind dreiundzwanzig Jahre her. In diesen vergangenen Jahren verging kein Tag, an dem er nicht an sie gedacht hatte. Die mit Leidenschaft gefüllten Momente, gemischt mit den schmerzlichen Erfahrungen, spulten sich immer wieder, wie ein Film, vor ihm ab.
„Was machen Sie da?“ Der alte Mann, dessen Blick aufs Grab gerichtet war, bemerkte jetzt erst den Jungen, der neben ihm stand, dessen Alter er auf fünfzehn Jahre schätzte. Seine Stimme nahm einen in sich gekehrten Klang an, bevor er ihm antwortete: „Das siehst du doch.“ Nachdem er den Blumentopf noch einmal zurechtgerückt hatte, stand der alte Mann auf und setzte sich auf die Bank, die seitlich vom Grab stand, ohne dem Jungen seine Aufmerksamkeit zu schenken. Der Junge schniefte. Einen kurzen Moment war Stille. So als wäre das gerade begonnene Gespräch zwischen dem Jungen und dem alten Mann wie ein Faden gerissen. In einem forschen Ton, als würde es ihn stören, dass der alte Mann auf der Bank saß, begann der Junge von Neuem das Gespräch. „Das Grab gehört meiner Großmutter, und die Bank, auf der Sie sitzen, auch.“ Bevor der Mann ihm antworten konnte, fügte der Junge hinzu: „Sie kennen wohl meine Großmutter?“ Der alte Mann holte tief Luft.
„Das spielt wohl kaum noch eine Rolle, außerdem, mein Junge, ist das eine lange Geschichte.“
„Also kennen Sie meine Großmutter doch!“ Erzählen Sie mir die Geschichte, ich habe Zeit. Kaum hatte der Junge seinen Satz zu Ende gesprochen, setzte er sich neben den alten Mann.
Wer hat heute schon in der schnelllebigen Zeit, in der alles nur von kurzer Dauer ist und wenn es nicht mehr brauchbar ist, weggeworfen wird, ob materieller oder menschlicher Natur, Zeit, dachte sich der alte Mann. „Weißt du, Junge, meine Zeit ist bald gekommen, um von hier zu gehen. Und jetzt, wo ich an dem Grab deiner Großmutter war, wird es mir nicht mehr schwerfallen zu gehen. Es hat mich viel Kraft gekostet, deine Großmutter aufzusuchen. Ich bin alt und müde. Ich habe es verdient, die Augen für immer zu schließen. Deine Geschichte wird auch irgendwann einmal vorbei sein. Doch du hast noch dein Leben vor dir.“
Der alte Mann stand auf und ging. „He!“, rief der Junge dem Mann hinterher, der gerade dabei war, um die Büsche zu verschwinden. „Sie haben Ihre Ledermappe vergessen!“
„Darin ist meine Geschichte, die du hören wolltest“, hörte er den alten Mann noch sagen, der kurz darauf verschwunden war. Der Junge schaute verwundert in die Richtung, in der er den alten Mann das letzte Mal sah. Wie von einem Geist getrieben, blies eine Windböe einzelne Blätter aus der Mappe und wirbelte sie durch die Luft. Hastig sammelte der Junge die davonfliegenden Blätter ein, öffnete die Mappe, in der ein Stapel Blätter lag, sortierte die eingesammelten Blätter und legte sie sorgfältig hinzu. Noch einmal warf er einen Blick in die Richtung, in die der alte Mann ging, dann las er die ersten Zeilen.
Ich wusste, eines Tages würde ich dich hier treffen,… dich, der die Wahrheit erfahren will.
Die Trennung
Vielleicht muss ein Mensch erst eine Trennung kennenlernen, um das Vergangene lieben zu können.
Seine Gefühle glichen einem kalten Winterabend. Einem Abend, schattenlos, leer und voll einsamer Stille, das Gefühl von verlorener Leere breitete sich in ihm aus. Eine Leere, die für ihn so unverständlich war, weil er sie weder einordnen konnte noch zuvor je gespürt hatte. Eine Leere, in der einfach nichts zu existieren schien.
Was hatte er falsch gemacht, dass er hierher gebracht wurde. Aus seinem Zuhause rausgerissen und von seinen Schwestern getrennt. Nicht in seinem Bett schlafen zu können, seinen Eltern gute Nacht sagen zu dürfen. Als Jonas ins Auto stieg, stellte er fest, dass seine Schwestern nicht da waren, um sich von ihm zu verabschieden. Was geht hier vor sich? Wurden sie nun auch von mir ferngehalten oder wollten sie mich auch nicht mehr sehen?, spukte es in seinem Kopf herum, während seine Eltern ins Auto stiegen und sein Vater den Berg hinunterfuhr. Jonas blickte wehmütig zurück. Zurück zu seinem Zuhause, was nun nie mehr so sein Zuhause sein sollte, wie es einmal war.
Stück für Stück hatte er das Gefühl zu versteinern. Das Haus wurde immer kleiner, bis es hinter einer Kurve ganz verschwand. In jener Autofahrt verspürte er das erste Mal ein derartiges Schwindelgefühl, als säße er in einem Karussell, als würde er jeden Moment sein Bewusstsein verlieren. Jonas wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass das Schwindelgefühl ihm, in seinem späteren Leben, noch viel bewusster werden würde. Als er begann, jedes Gefühl seines Bewusstseins zu verlieren, holte ihn seine Mutter in die Realität zurück.
„Jonas, hast du auch deine Poster nicht vergessen?“
„Nein, Mam, da hinten liegt die Rolle.“
Auf dem einen Poster war eine Pferdeherde, in der freien Natur gezeichnet, auf dem anderen, was sollte es wohl sonst sein, war ein Soldat, dessen Hände in den Himmel ragten und der ein Gewehr verlor, während er zu Boden fiel. Er durfte sich in der Woche vor der Abreise die beiden Poster aussuchen, um damit sein Zimmer, das er sich mit anderen Jungen zu teilen hatte, zu verschönern. Die Pferde symbolisierten Jonas die Freiheit, die er nun sich sicher war, verloren zu haben. Der fallende Soldat, den verlorenen Kampf um die Liebe zu seinem Vater. Doch den größten Schmerz verspürte er, als ihm klar wurde, dass die innige Verbindung zu seiner Schwester nicht mehr möglich war. Jonas dachte daran, wie er in manchen Nächten, in denen er vor lauter Angst und Schmerzen nicht schlafen konnte, ins Bett seiner Schwester kroch. Nachdem ihn seine Mutter verprügelt hatte, weil er seinen schulischen Leistungen nicht nachkam, die sie von ihm verlangten. Manchmal schlug sie ihm die Hand ins Gesicht. Doch meistens nahm sie das Buch, aus dem sie gerade lernten, schlug es ihm immer wieder auf den Kopf und brüllte dazu: „Ich bin nicht dein Nürnberger Trichter!“
Jonas bekam daraufhin immer öfter Nasenbluten. Was jedoch seine Mutter nicht davon abhielt, noch heftiger zuzuschlagen. Er fühlte sich abgestoßen und weggegeben und das nur, weil er es nicht geschafft hatte, die Erwartungen seiner Eltern zu erfüllen.
Jonas erinnert sich an eine Autofahrt mit seiner Familie, als sie auf dem Weg zu seinen Großeltern waren.
„Glaubst du, Mam, ich kann euch den ganzen Weg zur Großmutter mit geschlossenen Augen sagen?“
Seine mittlere Schwester fing an zu lachen, während sein Vater ihm kritisch einen Blick in den Rückspiegel warf.
„Das weiß ich nicht, mein Junge“, kam etwas zögerlich von seiner Mutter und sein Vater grinste hämisch.
Jonas begann mit geschlossenen Augen den ganzen Weg zu beschreiben.
„Jetzt, Papa, fährst du rechts, dann geht es leicht bergab. Links steht eine Pferdekoppel …“
Als das Auto vor dem Haus seiner Großeltern zum Stehen kam, öffnete er stolz seine Augen. Im selben Moment sagte seine Mutter zu ihm: „Siehst du, Jonas, bist doch nicht dumm.“
Und wieder warf sein Vater ihm einen kritischen Blick zu, während er und seine Mutter ausstiegen.
Mit einem fiesen Blick flüsterte seine mittlere Schwester ihm ins Ohr:
„Besser, wenn du endlich akzeptieren würdest, dass du immer der Loser in unserer Familie sein wirst. Und glaube mir, wir werden dafür schon sorgen, dass sich daran nichts ändern wird.“
Als im Westen die Sonne am anderen Ufer der Donau unterging, fuhr sein Vater das erste und letzte Mal mit Jonas in jene Talsenke, in der das Internat lag. Jonas hatte das Gefühl, in eine tiefe Dunkelheit zu fahren. Seine Mutter, die Jonas’ Nervosität bemerkte, versuchte, ihm das Bevorstehende schmackhafter zu machen. „Ein schöner Ort ist das hier, oder?“
Jonas, der innerlich immer mehr verkrampfte, ignorierte einfach ihre Frage. Nachdem sie an mehreren Fachwerkhäusern vorbeifuhren, blieben sie an einem großen Eisentor stehen.
Stillschweigend stiegen sie aus dem Auto. Sein Vater, der Jonas’ Koffer trug, lief als Erster durch das riesige stählerne Eisentor. Die schwungvollen gebogenen Eisen trafen sich zum Teil in der Mitte und umklammerten an jeder Tor-Seite ein Wappen, bevor sie dann nach oben verliefen und in mehreren Spießen ähnlichen Stangen, die wiederum zum Himmel ragten, endeten. Auf den gemauerten Sandsteinsäulen, die das eiserne Tor in seinen Angeln hielten, saß jeweils ein Rabe. Als würden sie die Wächter spielen, streckte der eine seine Flügel aus, im Begriff wegzufliegen. Und der andere sperrte seinen Schnabel weit auf, als würde er laut krächzen und den kommenden Menschen etwas mitteilen wollen.
Der Abschied
Gehe von Zeit zu Zeit, aber komme immer wieder zurück.
Krampfhaft hielt Jonas seine Rolle mit den Postern in der Hand. Nach einigen Treppen standen sie vor der Eingangstür, die aus zwei massiven, in sich verzierten Eichentüren bestand. Ächzend öffnete sich die große, massive Eichentür. Sein Vater zog an einer Glocke, die so aussah, als wäre sie noch ein Überbleibsel aus der Kriegszeit. So wie das ganze Gebäude den Eindruck erweckte. Jonas schaute sich ängstlich um. Das muss einmal ein Lazarett gewesen sein, so wie Opa immer erzählte, wenn er von seinen Kriegserlebnissen gesprochen hatte.
Vom anderen Ende des langen Korridors, der links und rechts mit unzähligen Türen versehen war, kam auf sie ein Mann zu. Die blanken Holzdielen verschwanden unter einem dickgewebten, dunkelbraunen Läufer, der in der Mitte durch die Tausenden Fußsohlen der vielen Menschen ganz ausgetreten war. „Guten Tag“, sagte der Mann und gab Jonas’ Vater die Hand. „Ich bin der Erzieher, der heute die Nachtschicht hat. Brogmann ist mein Name.“ „Sehr erfreut“, antwortete Jonas’ Vater. „Darf ich Ihnen meine Frau vorstellen?“ Herr Brogmann und Jonas’ Mutter reichten sich die Hände. Jonas dachte sich: Und was ist mit mir? Meinetwegen ist doch das ganze Theater. „Und du, bist wohl unser Sorgenkind?“, hörte Jonas den Erzieher sagen, während dieser Jonas mit einem kritischen Blick durch seine verdreckte Brille ansah.
Jonas sprach seinen Gedanken aus. „Wieso bin ich jetzt ein Sorgenkind?“ Der Erzieher und seine Mutter lachten. „Das schaffen wir schon, Jonas“, meinte Herr Brogmann und strich dem Jungen über den Kopf. „Was schaffen wir schon?“, fragte Jonas und schaute seine Eltern und den Erzieher verzweifelt an. Jonas stiegen langsam die Tränen in die Augen. Vor lauter Verzweiflung blickte er seinen Vater um Hilfe an, der aber hatte, wie die ganze Zeit schon, einen ausdruckslosen Blick, als ob er von dem ganzen Geschehen nichts hielte und froh wäre, wenn er nur bald gehen könnte. „Was sollen wir schon schaffen?“, fragte Jonas nochmals, der von seinen Eltern gelernt hatte, dass es keine unverschämten und unehrlichen Fragen gibt. Verlegen antwortete Brogmann: „Aus dir einen Mann zu machen.“ Jonas hatte das Gefühl, als bohre sich eine Pfeilspitze durch sein Inneres. „Und wenn ich keiner werden will?“, setzte Jonas ängstlich dagegen. „Das wirst du aber müssen, so ist der Lauf des Lebens. Nun komm erst mal, ich zeige dir und deinen Eltern, wo dein Zimmer ist.“
Sie gingen den endlosen Gang entlang. Wie aus der Ferne nahm er die Worte des Herrn Brogmann auf, der dabei versuchte, seine vergilbten Zähne geschickt durch seinen Bart zu verstecken, während er eine weitere Tür öffnete, um ihnen die Duschen zu zeigen. Jonas, der mit einem entsetzten Blick in einen riesigen Raum blickte, in dem mindestens zwanzig Duschen waren, dachte daran, wie schön er es doch zu Hause gehabt hatte. Jetzt wurde ihm immer mehr bewusst, wie wenig er eigentlich all die wunderbaren Dinge zu Hause schätzte. Wie selbstverständlich all das für ihn war, was es nun gar nicht mehr ist. „Papa, ich …!“ Jonas, der anfing zu stocken, dachte sich: Dieses eine Mal darf ich meine Eltern nicht enttäuschen.
Er kämpfte gegen sich und seine Tränen an und schwor sich in diesem Moment, nie mehr zu weinen. Er wollte solch einen Schmerz niemals mehr spüren. Weshalb sollte er seine Eltern enttäuschen, hatte er es in seiner Vergangenheit wohl getan. Jonas wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, was er in diesem Raum noch erleben würde, in dem ein feuchter, stickiger, abgestandener Schwall durch die Tür kam. „Nun dann wollen wir mal dein Zimmer in Augenschein nehmen“, meinte der Erzieher. Kurz vor dem Ende des ewig langen Korridors, den wiederum eine Eichentür vor einem weiteren Saal trennte, gingen alle vier schweigend eine Treppe hinauf. Es lag ein modriger Geruch in der Luft, der zum Teil durch das Bohnerwachs der Treppen übertönt wurde. An dem Krächzen der Stufen konnte man hören, dass über diese Treppe wohl schon einige gegangen waren. Jonas dachte sich: Ob die sich auch so gefühlt hatten wie ich? Ob die Treppe wohl die stillen Schmerzen und Schreie der Jungen durch ihr Krächzen erwidert? Ich will aber kein Mann werden ich will so bleiben, wie ich bin. Weshalb und wieso soll ich mich hier ändern? Was ist an mir falsch, dass ich hierher muss?
Deswegen waren meine Schwestern nicht zum Abschied gekommen, ich bin krank, schoss es ihm durch den Kopf. Etwas stimmt mit mir nicht. Sicherlich hat das Ganze mit dem Doktor zu tun, bei dem ich mit meiner Mutter die Wochen davor war. Aber ich fühle mich doch nicht krank. Dann fiel es ihm wieder ein, nicht wegen einer Krankheit waren sie dort. Sondern die Voraussetzung, dass er hier aufgenommen wurde, war, dass er gewisse Tests bei diesem Arzt machen musste. Jonas erinnerte sich zurück an jenen ekelhaften, fiesen, nasskalten Märztag, als sie die Praxis betraten, die aus pseudokolonialen Möbeln bestand. Die Empfangsdame war eine freundlich aussehende Dame mittleren Alters, deren sonnengebräuntes Gesicht mit zahlreichen Falten, vom zu vielen Solarium, übersät war. Die hinter ihrem Empfangspult unter dem Perser Teppich gefangen schien.
Als Jonas das Sprechzimmer des Arztes betrat, machte dieser sich Notsitzen in einer Akte. Der Arzt hatte rotes, dichtes Haar und schaute Jonas durch seine dicke Nickelbrille an. Dann warf er Jonas einen lächelnden Blick hin und bat ihn, sich zu setzen, während er seine Mutter ins Wartezimmer schickte.
Nachdem er noch einen kurzen Augenblick Jonas begutachtete, kam er zur Sache. „Gut, Junge, dann wollen wir mal.“ Er öffnete einen neuen Ordner, aus dem er einige Zeichnungen hervorholte und sie vor Jonas hinlegte.
„Was sagen dir diese Bilder?“, fragte er ihn. Jonas, der sich einige Bilder anschaute, erwiderte ihm achselzuckend. „Tut mir leid, aber ich verstehe es irgendwie nicht, was mir diese Bilder sagen sollen, auf dem Blatt ist doch gar nichts drauf.“ Der Arzt kratzte sich nachdenklich am Kinn und meinte schmunzelnd: „Das hast du gut erkannt, aber versuche mal, das zu sehen, was du denkst, was da stehen könnte.“
„Da stehen könnte?“, platzte Jonas etwas geschockt heraus. „Sie sind doch nicht ganz bei Sinnen!“, ergänzte Jonas noch verärgert. „Nun gut, Junge, dann probieren wir es mal anders.“ Dann legte er ihm einige Rechenaufgaben hin und stoppte die Zeit, in der Jonas die Aufgaben löste. Danach folgten noch einige Bilder, von denen er wollte, dass Jonas seinen Gefühlen freien Lauf lassen sollte. Jonas, der sich irgendwie verarscht vorkam, machte bei dem einen oder anderen Bild seine jugendlichen Witze.
Als der Arzt wieder in seiner Akte Notizen machte und diese schloss, bat er ihn, ins Wartezimmer zu gehen und seine Mutter zu ihm zu schicken.
Nachdem er im Wartezimmer auf sie gewartet hatte, fragte er sie beim Herauskommen aus der Praxis: „Und, was hat der Arzt gesagt?“ Mit gesenktem Blick antwortete seine Mutter ihm: „Jetzt nicht, Jonas, lass uns später darüber reden.“ Jonas sah Tränen in den Augen seiner Mutter. Obwohl er wusste, dass auch später seine Mutter mit ihm darüber nicht sprechen würde, hakte er nicht nach.
Für meine Kinder und Enkelkinder, mögen sie aus dem, was sie lesen, etwas lernen und immer selber nachdenken, um ihren Lebensweg zu gehen.
Danke an meine Frau, die immer hinter mir steht, und dass unsere Liebe über alle Zeit und allen Raum geht.
Danke an meine Tochter Amelie, die mit mir auf der Buchmesse den Verlag ausfindig gemacht hat.
Danke für die Motivation beim Schreiben und Veröffentlichen, Frau Koch, Andreas, Thomas und Uli.
Danke an meine Eltern, dafür, dass sie immer versucht haben, auf ihre Weise mir das Beste zukommen zu lassen. Auch wenn manches für mich schmerzlich schien, hat es mich dort hingebracht, wo ich heute im Leben, dank ihnen, stehe.
Danke an meinen Großvater, der mich immer lehrte, in der Einfachheit liegt das Glück und das Gegenteil von Verschieden mich lehrte.
Mut ist es, seinen eigenen Weg, trotz jeglichen Wiederstands, zu gehen.
Kapitel 1
Der alte Mann
Es gibt Momente in unserem Leben, die ziehen vorüber wie eine Gewitterwolke, man vergisst sie so schnell, wie sie einem begegnet sind. Doch gibt es auch Momente, deren Ereignisse so schmerzhaft an uns haften bleiben, dass sie uns ein Leben lang begleiten. Damals dachte ich, dass Liebe beständig sei. Dass sie aus Reinheit, Ehrlichkeit bestehe und sich schmerzlos anfühle. Doch heute weiß ich, dass die Liebe nur ein Begriff ist, der einen zerstören kann, wenn man die eigene Liebe zu sich selber vor die Liebe zu einem anderen Menschen stellt. Oder wenn man etwas von der Liebe erwartet und dafür eine sogenannte Liebe gibt.
Der frisch gefallene Schnee, der in der vergangenen Nacht vom Himmel herabschwebte, schien sich wie aufgewirbelte Staubkörner vom Boden zu heben, um letztendlich wieder zur Erde zu fallen, als Jonas sich vor dem Grabstein im Schnee niederließ und den mitgenommenen Christstern tief in den Schnee drückte.
Es sind dreiundzwanzig Jahre her. In diesen vergangenen Jahren verging kein Tag, an dem er nicht an sie gedacht hatte. Die mit Leidenschaft gefüllten Momente, gemischt mit den schmerzlichen Erfahrungen, spulten sich immer wieder, wie ein Film, vor ihm ab.
„Was machen Sie da?“ Der alte Mann, dessen Blick aufs Grab gerichtet war, bemerkte jetzt erst den Jungen, der neben ihm stand, dessen Alter er auf fünfzehn Jahre schätzte. Seine Stimme nahm einen in sich gekehrten Klang an, bevor er ihm antwortete: „Das siehst du doch.“ Nachdem er den Blumentopf noch einmal zurechtgerückt hatte, stand der alte Mann auf und setzte sich auf die Bank, die seitlich vom Grab stand, ohne dem Jungen seine Aufmerksamkeit zu schenken. Der Junge schniefte. Einen kurzen Moment war Stille. So als wäre das gerade begonnene Gespräch zwischen dem Jungen und dem alten Mann wie ein Faden gerissen. In einem forschen Ton, als würde es ihn stören, dass der alte Mann auf der Bank saß, begann der Junge von Neuem das Gespräch. „Das Grab gehört meiner Großmutter, und die Bank, auf der Sie sitzen, auch.“ Bevor der Mann ihm antworten konnte, fügte der Junge hinzu: „Sie kennen wohl meine Großmutter?“ Der alte Mann holte tief Luft.
„Das spielt wohl kaum noch eine Rolle, außerdem, mein Junge, ist das eine lange Geschichte.“
„Also kennen Sie meine Großmutter doch!“ Erzählen Sie mir die Geschichte, ich habe Zeit. Kaum hatte der Junge seinen Satz zu Ende gesprochen, setzte er sich neben den alten Mann.
Wer hat heute schon in der schnelllebigen Zeit, in der alles nur von kurzer Dauer ist und wenn es nicht mehr brauchbar ist, weggeworfen wird, ob materieller oder menschlicher Natur, Zeit, dachte sich der alte Mann. „Weißt du, Junge, meine Zeit ist bald gekommen, um von hier zu gehen. Und jetzt, wo ich an dem Grab deiner Großmutter war, wird es mir nicht mehr schwerfallen zu gehen. Es hat mich viel Kraft gekostet, deine Großmutter aufzusuchen. Ich bin alt und müde. Ich habe es verdient, die Augen für immer zu schließen. Deine Geschichte wird auch irgendwann einmal vorbei sein. Doch du hast noch dein Leben vor dir.“
Der alte Mann stand auf und ging. „He!“, rief der Junge dem Mann hinterher, der gerade dabei war, um die Büsche zu verschwinden. „Sie haben Ihre Ledermappe vergessen!“
„Darin ist meine Geschichte, die du hören wolltest“, hörte er den alten Mann noch sagen, der kurz darauf verschwunden war. Der Junge schaute verwundert in die Richtung, in der er den alten Mann das letzte Mal sah. Wie von einem Geist getrieben, blies eine Windböe einzelne Blätter aus der Mappe und wirbelte sie durch die Luft. Hastig sammelte der Junge die davonfliegenden Blätter ein, öffnete die Mappe, in der ein Stapel Blätter lag, sortierte die eingesammelten Blätter und legte sie sorgfältig hinzu. Noch einmal warf er einen Blick in die Richtung, in die der alte Mann ging, dann las er die ersten Zeilen.
Ich wusste, eines Tages würde ich dich hier treffen,… dich, der die Wahrheit erfahren will.
Die Trennung
Vielleicht muss ein Mensch erst eine Trennung kennenlernen, um das Vergangene lieben zu können.
Seine Gefühle glichen einem kalten Winterabend. Einem Abend, schattenlos, leer und voll einsamer Stille, das Gefühl von verlorener Leere breitete sich in ihm aus. Eine Leere, die für ihn so unverständlich war, weil er sie weder einordnen konnte noch zuvor je gespürt hatte. Eine Leere, in der einfach nichts zu existieren schien.
Was hatte er falsch gemacht, dass er hierher gebracht wurde. Aus seinem Zuhause rausgerissen und von seinen Schwestern getrennt. Nicht in seinem Bett schlafen zu können, seinen Eltern gute Nacht sagen zu dürfen. Als Jonas ins Auto stieg, stellte er fest, dass seine Schwestern nicht da waren, um sich von ihm zu verabschieden. Was geht hier vor sich? Wurden sie nun auch von mir ferngehalten oder wollten sie mich auch nicht mehr sehen?, spukte es in seinem Kopf herum, während seine Eltern ins Auto stiegen und sein Vater den Berg hinunterfuhr. Jonas blickte wehmütig zurück. Zurück zu seinem Zuhause, was nun nie mehr so sein Zuhause sein sollte, wie es einmal war.
Stück für Stück hatte er das Gefühl zu versteinern. Das Haus wurde immer kleiner, bis es hinter einer Kurve ganz verschwand. In jener Autofahrt verspürte er das erste Mal ein derartiges Schwindelgefühl, als säße er in einem Karussell, als würde er jeden Moment sein Bewusstsein verlieren. Jonas wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass das Schwindelgefühl ihm, in seinem späteren Leben, noch viel bewusster werden würde. Als er begann, jedes Gefühl seines Bewusstseins zu verlieren, holte ihn seine Mutter in die Realität zurück.
„Jonas, hast du auch deine Poster nicht vergessen?“
„Nein, Mam, da hinten liegt die Rolle.“
Auf dem einen Poster war eine Pferdeherde, in der freien Natur gezeichnet, auf dem anderen, was sollte es wohl sonst sein, war ein Soldat, dessen Hände in den Himmel ragten und der ein Gewehr verlor, während er zu Boden fiel. Er durfte sich in der Woche vor der Abreise die beiden Poster aussuchen, um damit sein Zimmer, das er sich mit anderen Jungen zu teilen hatte, zu verschönern. Die Pferde symbolisierten Jonas die Freiheit, die er nun sich sicher war, verloren zu haben. Der fallende Soldat, den verlorenen Kampf um die Liebe zu seinem Vater. Doch den größten Schmerz verspürte er, als ihm klar wurde, dass die innige Verbindung zu seiner Schwester nicht mehr möglich war. Jonas dachte daran, wie er in manchen Nächten, in denen er vor lauter Angst und Schmerzen nicht schlafen konnte, ins Bett seiner Schwester kroch. Nachdem ihn seine Mutter verprügelt hatte, weil er seinen schulischen Leistungen nicht nachkam, die sie von ihm verlangten. Manchmal schlug sie ihm die Hand ins Gesicht. Doch meistens nahm sie das Buch, aus dem sie gerade lernten, schlug es ihm immer wieder auf den Kopf und brüllte dazu: „Ich bin nicht dein Nürnberger Trichter!“
Jonas bekam daraufhin immer öfter Nasenbluten. Was jedoch seine Mutter nicht davon abhielt, noch heftiger zuzuschlagen. Er fühlte sich abgestoßen und weggegeben und das nur, weil er es nicht geschafft hatte, die Erwartungen seiner Eltern zu erfüllen.
Jonas erinnert sich an eine Autofahrt mit seiner Familie, als sie auf dem Weg zu seinen Großeltern waren.
„Glaubst du, Mam, ich kann euch den ganzen Weg zur Großmutter mit geschlossenen Augen sagen?“
Seine mittlere Schwester fing an zu lachen, während sein Vater ihm kritisch einen Blick in den Rückspiegel warf.
„Das weiß ich nicht, mein Junge“, kam etwas zögerlich von seiner Mutter und sein Vater grinste hämisch.
Jonas begann mit geschlossenen Augen den ganzen Weg zu beschreiben.
„Jetzt, Papa, fährst du rechts, dann geht es leicht bergab. Links steht eine Pferdekoppel …“
Als das Auto vor dem Haus seiner Großeltern zum Stehen kam, öffnete er stolz seine Augen. Im selben Moment sagte seine Mutter zu ihm: „Siehst du, Jonas, bist doch nicht dumm.“
Und wieder warf sein Vater ihm einen kritischen Blick zu, während er und seine Mutter ausstiegen.
Mit einem fiesen Blick flüsterte seine mittlere Schwester ihm ins Ohr:
„Besser, wenn du endlich akzeptieren würdest, dass du immer der Loser in unserer Familie sein wirst. Und glaube mir, wir werden dafür schon sorgen, dass sich daran nichts ändern wird.“
Als im Westen die Sonne am anderen Ufer der Donau unterging, fuhr sein Vater das erste und letzte Mal mit Jonas in jene Talsenke, in der das Internat lag. Jonas hatte das Gefühl, in eine tiefe Dunkelheit zu fahren. Seine Mutter, die Jonas’ Nervosität bemerkte, versuchte, ihm das Bevorstehende schmackhafter zu machen. „Ein schöner Ort ist das hier, oder?“
Jonas, der innerlich immer mehr verkrampfte, ignorierte einfach ihre Frage. Nachdem sie an mehreren Fachwerkhäusern vorbeifuhren, blieben sie an einem großen Eisentor stehen.
Stillschweigend stiegen sie aus dem Auto. Sein Vater, der Jonas’ Koffer trug, lief als Erster durch das riesige stählerne Eisentor. Die schwungvollen gebogenen Eisen trafen sich zum Teil in der Mitte und umklammerten an jeder Tor-Seite ein Wappen, bevor sie dann nach oben verliefen und in mehreren Spießen ähnlichen Stangen, die wiederum zum Himmel ragten, endeten. Auf den gemauerten Sandsteinsäulen, die das eiserne Tor in seinen Angeln hielten, saß jeweils ein Rabe. Als würden sie die Wächter spielen, streckte der eine seine Flügel aus, im Begriff wegzufliegen. Und der andere sperrte seinen Schnabel weit auf, als würde er laut krächzen und den kommenden Menschen etwas mitteilen wollen.
Der Abschied
Gehe von Zeit zu Zeit, aber komme immer wieder zurück.
Krampfhaft hielt Jonas seine Rolle mit den Postern in der Hand. Nach einigen Treppen standen sie vor der Eingangstür, die aus zwei massiven, in sich verzierten Eichentüren bestand. Ächzend öffnete sich die große, massive Eichentür. Sein Vater zog an einer Glocke, die so aussah, als wäre sie noch ein Überbleibsel aus der Kriegszeit. So wie das ganze Gebäude den Eindruck erweckte. Jonas schaute sich ängstlich um. Das muss einmal ein Lazarett gewesen sein, so wie Opa immer erzählte, wenn er von seinen Kriegserlebnissen gesprochen hatte.
Vom anderen Ende des langen Korridors, der links und rechts mit unzähligen Türen versehen war, kam auf sie ein Mann zu. Die blanken Holzdielen verschwanden unter einem dickgewebten, dunkelbraunen Läufer, der in der Mitte durch die Tausenden Fußsohlen der vielen Menschen ganz ausgetreten war. „Guten Tag“, sagte der Mann und gab Jonas’ Vater die Hand. „Ich bin der Erzieher, der heute die Nachtschicht hat. Brogmann ist mein Name.“ „Sehr erfreut“, antwortete Jonas’ Vater. „Darf ich Ihnen meine Frau vorstellen?“ Herr Brogmann und Jonas’ Mutter reichten sich die Hände. Jonas dachte sich: Und was ist mit mir? Meinetwegen ist doch das ganze Theater. „Und du, bist wohl unser Sorgenkind?“, hörte Jonas den Erzieher sagen, während dieser Jonas mit einem kritischen Blick durch seine verdreckte Brille ansah.
Jonas sprach seinen Gedanken aus. „Wieso bin ich jetzt ein Sorgenkind?“ Der Erzieher und seine Mutter lachten. „Das schaffen wir schon, Jonas“, meinte Herr Brogmann und strich dem Jungen über den Kopf. „Was schaffen wir schon?“, fragte Jonas und schaute seine Eltern und den Erzieher verzweifelt an. Jonas stiegen langsam die Tränen in die Augen. Vor lauter Verzweiflung blickte er seinen Vater um Hilfe an, der aber hatte, wie die ganze Zeit schon, einen ausdruckslosen Blick, als ob er von dem ganzen Geschehen nichts hielte und froh wäre, wenn er nur bald gehen könnte. „Was sollen wir schon schaffen?“, fragte Jonas nochmals, der von seinen Eltern gelernt hatte, dass es keine unverschämten und unehrlichen Fragen gibt. Verlegen antwortete Brogmann: „Aus dir einen Mann zu machen.“ Jonas hatte das Gefühl, als bohre sich eine Pfeilspitze durch sein Inneres. „Und wenn ich keiner werden will?“, setzte Jonas ängstlich dagegen. „Das wirst du aber müssen, so ist der Lauf des Lebens. Nun komm erst mal, ich zeige dir und deinen Eltern, wo dein Zimmer ist.“
Sie gingen den endlosen Gang entlang. Wie aus der Ferne nahm er die Worte des Herrn Brogmann auf, der dabei versuchte, seine vergilbten Zähne geschickt durch seinen Bart zu verstecken, während er eine weitere Tür öffnete, um ihnen die Duschen zu zeigen. Jonas, der mit einem entsetzten Blick in einen riesigen Raum blickte, in dem mindestens zwanzig Duschen waren, dachte daran, wie schön er es doch zu Hause gehabt hatte. Jetzt wurde ihm immer mehr bewusst, wie wenig er eigentlich all die wunderbaren Dinge zu Hause schätzte. Wie selbstverständlich all das für ihn war, was es nun gar nicht mehr ist. „Papa, ich …!“ Jonas, der anfing zu stocken, dachte sich: Dieses eine Mal darf ich meine Eltern nicht enttäuschen.
Er kämpfte gegen sich und seine Tränen an und schwor sich in diesem Moment, nie mehr zu weinen. Er wollte solch einen Schmerz niemals mehr spüren. Weshalb sollte er seine Eltern enttäuschen, hatte er es in seiner Vergangenheit wohl getan. Jonas wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, was er in diesem Raum noch erleben würde, in dem ein feuchter, stickiger, abgestandener Schwall durch die Tür kam. „Nun dann wollen wir mal dein Zimmer in Augenschein nehmen“, meinte der Erzieher. Kurz vor dem Ende des ewig langen Korridors, den wiederum eine Eichentür vor einem weiteren Saal trennte, gingen alle vier schweigend eine Treppe hinauf. Es lag ein modriger Geruch in der Luft, der zum Teil durch das Bohnerwachs der Treppen übertönt wurde. An dem Krächzen der Stufen konnte man hören, dass über diese Treppe wohl schon einige gegangen waren. Jonas dachte sich: Ob die sich auch so gefühlt hatten wie ich? Ob die Treppe wohl die stillen Schmerzen und Schreie der Jungen durch ihr Krächzen erwidert? Ich will aber kein Mann werden ich will so bleiben, wie ich bin. Weshalb und wieso soll ich mich hier ändern? Was ist an mir falsch, dass ich hierher muss?
Deswegen waren meine Schwestern nicht zum Abschied gekommen, ich bin krank, schoss es ihm durch den Kopf. Etwas stimmt mit mir nicht. Sicherlich hat das Ganze mit dem Doktor zu tun, bei dem ich mit meiner Mutter die Wochen davor war. Aber ich fühle mich doch nicht krank. Dann fiel es ihm wieder ein, nicht wegen einer Krankheit waren sie dort. Sondern die Voraussetzung, dass er hier aufgenommen wurde, war, dass er gewisse Tests bei diesem Arzt machen musste. Jonas erinnerte sich zurück an jenen ekelhaften, fiesen, nasskalten Märztag, als sie die Praxis betraten, die aus pseudokolonialen Möbeln bestand. Die Empfangsdame war eine freundlich aussehende Dame mittleren Alters, deren sonnengebräuntes Gesicht mit zahlreichen Falten, vom zu vielen Solarium, übersät war. Die hinter ihrem Empfangspult unter dem Perser Teppich gefangen schien.
Als Jonas das Sprechzimmer des Arztes betrat, machte dieser sich Notsitzen in einer Akte. Der Arzt hatte rotes, dichtes Haar und schaute Jonas durch seine dicke Nickelbrille an. Dann warf er Jonas einen lächelnden Blick hin und bat ihn, sich zu setzen, während er seine Mutter ins Wartezimmer schickte.
Nachdem er noch einen kurzen Augenblick Jonas begutachtete, kam er zur Sache. „Gut, Junge, dann wollen wir mal.“ Er öffnete einen neuen Ordner, aus dem er einige Zeichnungen hervorholte und sie vor Jonas hinlegte.
„Was sagen dir diese Bilder?“, fragte er ihn. Jonas, der sich einige Bilder anschaute, erwiderte ihm achselzuckend. „Tut mir leid, aber ich verstehe es irgendwie nicht, was mir diese Bilder sagen sollen, auf dem Blatt ist doch gar nichts drauf.“ Der Arzt kratzte sich nachdenklich am Kinn und meinte schmunzelnd: „Das hast du gut erkannt, aber versuche mal, das zu sehen, was du denkst, was da stehen könnte.“
„Da stehen könnte?“, platzte Jonas etwas geschockt heraus. „Sie sind doch nicht ganz bei Sinnen!“, ergänzte Jonas noch verärgert. „Nun gut, Junge, dann probieren wir es mal anders.“ Dann legte er ihm einige Rechenaufgaben hin und stoppte die Zeit, in der Jonas die Aufgaben löste. Danach folgten noch einige Bilder, von denen er wollte, dass Jonas seinen Gefühlen freien Lauf lassen sollte. Jonas, der sich irgendwie verarscht vorkam, machte bei dem einen oder anderen Bild seine jugendlichen Witze.
Als der Arzt wieder in seiner Akte Notizen machte und diese schloss, bat er ihn, ins Wartezimmer zu gehen und seine Mutter zu ihm zu schicken.
Nachdem er im Wartezimmer auf sie gewartet hatte, fragte er sie beim Herauskommen aus der Praxis: „Und, was hat der Arzt gesagt?“ Mit gesenktem Blick antwortete seine Mutter ihm: „Jetzt nicht, Jonas, lass uns später darüber reden.“ Jonas sah Tränen in den Augen seiner Mutter. Obwohl er wusste, dass auch später seine Mutter mit ihm darüber nicht sprechen würde, hakte er nicht nach.