Die Angstnehmerin

Die Angstnehmerin

Eine merkwürdige Kriminalgeschichte

Christa Homan


EUR 24,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 156
ISBN: 978-3-99130-346-6
Erscheinungsdatum: 06.11.2023
Starke Männer? Schwache Frauen? Eine Anregung, genauer hinzusehen.Schuldig oder nicht schuldig?Entscheiden Sie selbst!
1 - Zauberzeit


Träge winkte ihr der Kleinste der drei Vorzimmergeister nach. Sein runzliges Rundauge zuckte.
„Guten Morgen, liebe Anna“, knarrte er freundlich. Der Eingangstürbewacher. Anna mochte ihn von allen am liebsten.
Zufrieden klebte er am knorrigen letzten Balken der alten, rissigen Holzdecke.
Dicht neben der Eingangstüre.
Der hellwache Winzling hatte seiner milchig-weiß-durchsichtigen Masse einen hellbraunen Farbton übergestülpt.
„Hallo, Giovanni“, flüsterte das Kind übermütig. „Wir machen nur den üblichen Spaziergang.“
Das gelb-weiße Geisterrundauge mit dem knalligen Grünpunkt zwinkerte. Bei schlampigem Hinsehen konnte man es für einen zufälligen Lackspritzer halten. Die kleine Nase stand wie ein versehentlich nicht abgeschliffener Holzknorpel in die Höhe.
Wie ein loses Ästchen schaukelte der dürre, kurze Winkearm freundlich hin und her.
Ein eiskalter windiger Luftzug schoss durch die geöffnete dunkelgrüne Holztüre.
Jetzt ruderte sie wild, die winzige Geisterhand.
„Pass gut auf“, wisperte Anna. „Wir sind bald wieder zurück.“
Die Großmutter stand noch im Salon.
„Kind!“, rief sie besorgt. „Vergiss deine Mütze nicht!“ – „Ja, ja“, hörte sie das dünne Stimmchen.
Bevor Anna, ihre grobmaschige Wollmütze tief ins Gesicht gezogen, in den verschneiten Vorgarten stürmte, sah sie sich kurz nach der Großmutter um.
Durch die geöffneten Türen erkannte sie den mittleren Salongeist. Er tobte. Pfiff, so laut er konnte. Übermütig wühlte er die hellblau-beige gestreiften Satinvorhänge auf.
Er tänzelte im gebauschten Stoff, verwickelte sein dürres, durchsichtiges Körperchen darin, zerrte, warf Teile hoch.
Der wilde Tanz zerriss die langen Sonnenstrahlen in unruhig flackernde kurze Stricke.
Grellgelbe Punkte rasten ziellos umher.
Sprangen bis zur Vorzimmerwand.
Aemilia schloss die Salontüre. „So ein Wind“, rief sie kopfschüttelnd.
Das letzte Bodenbrett vor der Eingangstüre knarrte laut unter ihrem Schritt. Das musste so sein.
Vor langer Zeit hatte es der große Vorzimmergeist gelockert. Als Absicherung gegen ungebetene Gäste.
Viele Besucher hatten Aemilia schon auf das lockere Brett aufmerksam gemacht.
Es wurde nie repariert.
Ein strahlend sonniger Wintertag im Nachkriegswien.
Lächelnd war die Großmutter neben ihre Enkelin getreten.
Fest nahm sie die kleine Hand. Die Stiefel versanken im Schnee. Die alte, schmale Frau strich leicht über das blonde Kinderhaar. „Bleib noch lange bei mir“, murmelte sie.
Russische Zone, Unsicherheit, Armut, Hunger, Hoffnung.
Das kleine Mädchen mit dem dunkelblauen Stoffmantel hüpfte vergnügt. Fest drückte es einen abgegriffenen, hellbraun gezottelten Teddybären mit rot-weiß-kariertem Hemdchen an sich.
„Gretl, schau!“, rief es. „So ein schöner Tag.“
Das linke Knopfauge des alten Bären baumelte bedrohlich locker am dicken grauen Faden.
„Ema“, wandte sich die Kleine an ihre Großmutter, „schau, wir dürfen heute nicht vergessen, das Auge anzunähen.“
Im Park zogen sie um die Wette mit ihren Stiefelspitzen Buchstaben und lustige Männchen in den Schnee. Anna blickte zur Großmutter auf.
Dieses Lächeln!
Zuerst hüpfte das Sonnenlicht in die graublauen, von Falten umrandeten Augen; wirbelte über den rilligen Backenknochen, dann wieder zum Nasenrücken. Schließlich glitzerte es um die blassen, dünnen Lippen.
Glücklich drückte die Kleine die alte Hand.
„Lustig sind deine Runzeln, Falten und Furchen“, dachte sie. „Schade, dass mein Gesicht so langweilig glatt ist“, maulte sie laut. „Es wird schon werden, wart’ nur ab“, tröstete Aemilia vergnügt. Ihre Stimme hatte einen warmen fremdländisch singenden Klang.
Seitdem das Kind bei der Großmutter wohnte, war ihm klar geworden, wie aufregend es im Alter sein konnte.
„Je älter du wirst, desto deutlicher umgeben dich die Schutz- und Unterhaltungsgeister“, hatte sie der Enkelin bald nach deren Einzug in die alte Familienvilla erzählt, als die Kleine wieder einmal nicht hatte einschlafen können. Es war so finster gewesen. So einsam in dem ungewohnten, großen Schlafzimmer. Und dieses Knarren, Säuseln, Quietschen. „Nur Kinder und Alte sind im Geisterlebensalter“, hatte Anna damals erfahren. Jetzt verstand sie auch, warum ihre Eltern sie nie über dieses allabendliche, unerklärlich in sie hinaufkriechende Grauen, das sie im Dunkeln unbarmherzig umklammerte, hinwegtrösten konnten. „Die Armen“, dachte sie, „sie haben einfach vergessen, woher all die Nachtgeräusche kommen.“ Dabei war die Erklärung ganz einfach.
Plötzlich konnte es das Kind gar nicht mehr abwarten, alleine all den spannenden Geräuschen zu lauschen. Herrlich waren das Knarren, Säuseln, Pfeifen und Knistern im alten, großen Schlafzimmer.
Jedes Zimmer, jeder Raum auf unserer Welt beherbergt Hausgeister. Nette, freundliche Beschützer. Wenn man sie gut behandelt. Überall sind sie. Im Salon, im Keller, in der Oper, sogar in der Geisterbahn, wusste sie von Aemilia.
Meist liegen sie faul, winzig, durchsichtig in Kästen herum. Kleben an Rohren, saugen sich in Teppiche ein. Schweben lautlos umher. Manchmal spielen sie wilde Spiele. Kichern geräuschvoll miteinander. Milchig-weiße Gestalten, die nach Belieben jede Form, jede Farbe annehmen. Zum Schutz der Menschen und ihrer Häuser können sie sich unendlich ausdehnen. Sie feiern Feste. Rauschend und farbenprächtig. So wie wir Menschen sind auch die Geister verschieden. „Ema“, hatte sich das Kind einmal erkundigt, „sind die Geister so mächtig wie die Engel?“ – „Das nicht“, hatte die Großmutter entschieden geantwortet. „Engel sind überall. Ihre Macht ist nicht an irgendeinen Raum gebunden.“ Die Großmutter war eine fromme Frau.
„Wenn du erwachsen wirst“, war Aemilia fortgefahren, „entgleiten die flirrenden Gesellen nach und nach deiner Wahrnehmung. Sie werden immer blasser, immer stiller.“
„Aber wenn du alt bist, kommen sie zu dir zurück. Stärker und deutlicher als je zuvor. Wart’ nur ab!“
Darauf freute sich das Kind schon jetzt.
„Mit meinen alten Geisterfreunden werde ich’s lustig haben“, dachte es. „Neue bekomme ich dann auch noch dazu! Alle meine Wünsche und Sorgen werde ich mit ihnen besprechen. Sie werden mir immer gerne zuhören und mich beschützen, besonders in der Dunkelheit“, dachte es bei sich.
„Du musst im Leben nie Angst vor der Einsamkeit haben. Die Geister sind so unterhaltsam“, hatte Aemilia einmal gesagt. „Auch wenn deine Kinder keine Zeit mehr für dich finden.“ Bei diesem kleinen Sätzchen hatte das Kind einen dunklen Unterton in Großmutters Stimme gehört. Aber es hatte nicht weiter darüber nachgedacht. Anna lächelte. Jetzt, nachdem sie die Wahrheit kannte, war alles ganz leicht.
Nach dem Park besuchten die beiden täglich eine bettlägerige Greisin.
Ihre enge Wohnung war von einem scharf-süßlichen Modergeruch durchzogen. Bereits im Gang hörten sie lautes Gezeter, dazwischen Gelächter.
„Max, Mäxchen, bist du es?“ Alle Hoffnung dieser Welt lag in dem schrillen Freudenschrei.
„Guten Morgen, liebe Luise, wir sind es.“ Die Stimme der Großmutter klang fast entschuldigend.
Der angespannte, aufrecht im Bett sitzende, ausgemergelte Körper ließ sich kraftlos, enttäuscht ins Kissen zurückfallen.
Das vergilbt-fahle Gesicht wurde vom schlohweißen, wirr herunterhängenden Haar fast verdeckt.
Die großen dunklen Augen blickten starr in die Ferne.
„Ema, warum kommt Max sie denn nie besuchen?“, erkundigte sich Anna.
„Er kann nicht, Kind, er ist schon wieder im Himmel.“
Anna starrte auf das Foto, das auf dem kleinen Nachttischchen stand.
„Das kann nicht sein!“, rief sie ungläubig. „Er ist doch noch ganz jung.“ – „Er war 18 Jahre“, antwortete die Großmutter sanft. „Weißt du, plötzlich hat ihn seine Kraft verlassen, so wie das meist nur bei alten Menschen geschieht. Dann hat er sich todmüde auf die Sonnenstrahlrakete fallen lassen. Mit ihr ist er in den Himmel gerast. Luises einziger Enkel.“ „Der liebe Gott hat ihn zu seinen Eltern geholt. Jetzt ist er wieder froh“, fügte sie hinzu. Zweifelnd überlegte Anna: „Großmutter, ist es nicht gefährlich, so schnell hinaufzuschießen?“ – „Überhaupt nicht“, antwortete Ema. „Der Schutzengel fliegt doch immer mit.“
Jetzt verstand das Kind diese unendliche Traurigkeit. Aber die Alte war ihm unheimlich. Manchmal winkte sie der Kleinen freundlich zu, dann wieder funkelte sie wortlos mit abwehrenden Gesten aus ihren stechend-starken Augen.
Wenn die beiden in der Küche das mitgebrachte Essen aufwärmten, zuckte das Kind oft unter dem Wechsel von wildem Angstgeschrei, Gemurmel und klirrendem Lachen, das deutlich aus dem Schlafzimmer zu vernehmen war, zusammen.
„Sie beschwert sich bei den Geistern, dass sie noch immer hier sein muss. Sie will endlich zu ihrer Familie“, beantwortete die Großmutter den fragenden Blick. „Gut, dass sie nicht ganz allein ist, ein Glück, dass es die Geister gibt“, freute sich das Kind.
Oft krallte die Alte ihre Fingernägel tief in die Bettdecke. Sie sah so verzweifelt aus. „Sie versucht, ihre Gedanken festzuhalten“, murmelte Aemilia dann. „Aber sie laufen ihr zwischen den Fingern davon. Wie winzige Ameisen. Kaum hat sie sie eingefangen, krabbeln sie wieder weiter, zerfließen irgendwohin.“ Die Gedankensucherin nannte Anna die Greisin. Als sie auf die verschneite Straße traten, atmeten sie tief die frische Winterluft ein.
„Morgen müssen wir Luises Bett näher zum Fenster stellen“, bemerkte Anna. „Warum sollten wir es verschieben?“ – „Ema, merkst du es nicht? Die Sonne kommt doch nie bis zu ihrem Bett“, antwortete das Kind besorgt. „Wir schieben sie morgen direkt unter das große Fenster. Dann kann sie ganz leicht auf die Sonnenstrahlrakete klettern“, rief das Kind strahlend. Aemilia nickte lächelnd.
Neugierig lief die Kleine auf eine neu gehisste rote Fahne zu. Sie wehte über dem Portal eines weiß gestrichenen Gebäudes, nahe der Kirche.
Hellstimmiges Getümmel im Vorgarten. „Kinder!“ Begeistert drückte Anna im Laufen die Gartentüre auf. Der Kindergarten, ihre Freunde fehlten ihr plötzlich sehr.
Von Weitem tönte Aemilias Stimme. Aber sie achtete nicht darauf.
Das Tor war hinter ihr zugefallen. Erwartungsvoll ging das kleine Mädchen auf die Kindergruppe zu.
Der harte Schneeball traf den linken Wangenknochen. Erschrocken riss Anna den Kopf in die Höhe.
Erst jetzt bemerkte sie die völlige Stille. Ein breiter Halbkreis starrer Augen in dunklen Wintermänteln und Fellmützen.
Kein Lächeln. Unvermutet trat ein stämmiger Bub auf Anna zu. Hart packte er ihre beiden Arme. Sie stürzte. Der alte Zottelbär flog in den Schnee. Wortlos wandte sich der Angreifer von ihr ab. Seine Stiefel trampelten wild auf dem kleinen Stofftier. „Gretl, nein!“, gellte es hilflos. „Nicht, Vorsicht, das arme Auge!“ Verzweifelte Versuche, aufzustehen. Die Sonne war von schreienden Kinderfratzen verstellt. Dicht über dem Gesicht drohende Fäuste. Plötzlich verschwand das brüllende Gewirr. Ein Riesenmund tauchte auf. Zwei schräge Augenschlitze funkelten böse. Jetzt war sogar der Himmel fort. Ein gelblich-dunkles, breites Gebiss, löchrig, zischte schwer atmend.
Anna lag starr. Von fern hörte sie eine vertraute Stimme. „Loslassen! Lassen Sie sofort los!“ Der Riesenmund klappte zu. Erst auf der Straße, auf dem Arm der Großmutter kam das benommene kleine Wesen wieder zu sich. Vielstimmige Beschimpfungen gellten ihnen nach. Rasch und wortlos hastete Aemilia weiter. Tränen liefen Anna über die Wangen. „Warum?“, schluchzte sie. Sie verstand nicht, konnte nicht verstehen.
Plötzlich wilde Entschlossenheit. „Lass mich, ich muss zurück! Sie bringen Gretl um!“ Mit einem Mal kam Farbe in das blasse, verweinte Gesicht. Sie hämmerte mit den kleinen Fäusten an Großmutters Mantelkragen. „Nein, Anna.“ Dieser Ton duldete keinen Widerspruch. „Du bekommst deine Gretl. Das verspreche ich dir. Aber nicht jetzt.“ Beruhigend strich sie dem Kind über das nasse Haar.
Später, zu Hause, erfuhr Anna zum ersten Mal vom vergangenen Krieg. Bald hielt sie sich abwehrend die Ohren zu. „Spielen wir lieber Kasperltheater, das ist lustiger“, rief sie. Aemilia nickte zustimmend.
Schnell sprang Anna auf. Im Laufen riss sie die Spielzimmertüre stürmisch auf. Kreischend jaulte der Kleinste der Spielzimmergeister auf, der es sich am Fußboden auf einer bunten Ölkreideschachtel bequem gemacht hatte.
„Gustavo, verzeih“, jammerte Anna bestürzt. „Habe ich dir wehgetan?“ Der Kleinste grinste versöhnlich. „Nein, nein, ich bin nur erschrocken“, quietschte er. „Du weißt doch, uns Geister kann man nicht verletzen.“
Erleichtert lief das Kind, bepackt mit verschiedensten Pappmachéfiguren, zurück in den Salon.
Die Großmutter hatte inzwischen Holz im Kamin entzündet.
Selbstgebackene Kekse lagen in einer hellblauen Keramikschale. Der Duft von Honigkerzen zog durch den Raum.
Jetzt wirbelten draußen Schneeflockensternchen. Weich und patzig rannen sie langsam die Fensterscheiben hinunter.
„Die Spielzimmertürscharniere müssen geölt werden. Sie quietschen erbärmlich“, stellte Aemilia fest.
Anna lächelte zustimmend. Am Holzgestell zupfte sie die schmalen gelb-weiß gemusterten Stoffvorhänge zurecht. Die Figuren legte sie auf die beiden Sessel. „So, fertig“, seufzte sie stolz. Erwartungsvoll kuschelte sich Anna in den dunkelroten, weichen Samtfauteuil. Auf einem Tischchen neben ihr stand ein Becher mit warmer Trinkschokolade. Der Kinderblick schweifte behaglich durch den Raum. Es war so gemütlich bei Ema!
Diese einzigartige Duftmischung aus Holz, Parfum, Gewürzen, Gebäck!
Hinter den zugezogenen winzigen Stoffvorhängen vernahm sie leise Geräusche.
„Geht’s euch gut?“, kicherte die Kleine den gekritzelten Ölkreidemännchen zu, die sich lustig zwischen Blumen, Häusern und Sonnen tummelten. „Alles selbst gezeichnet“, dachte sie stolz. Anna liebte es, Wände zu bemalen. Ema hatte gestrahlt, als sie eines Tages im Vorraum ein winziges Männchen, mit feinem Bleistift neben die Kleiderablage gekritzelt, entdeckt hatte. Sie hatte ihre Enkelin sofort ermuntert, auch die übrigen Wände zu bemalen. Großflächiger, deutlicher. Gemeinsam hatten sie auch nach und nach alle Theaterfiguren selbst gebastelt.
Aus Stoffresten, Knöpfen, Stanniolpapier, Farben und anderen Hilfsmitteln hatten sie das geformte Pappmaché zum Leben erweckt. Es war mehr als nur Leben, jede Figur hatte ihre eigene Persönlichkeit.
Der immer fröhliche Kasperl, der strenge Polizist, die Herren Hurra und Jawohl.
Die schöne Marie, der Herr Hitler, der Chinese. Auch der schlimme Räuber und der Herr Stalin. Das grasgrüne Krokodil Ala schlief meist in einer Ecke.
Jetzt ging der Vorhang auf.
Das Kind versank in seiner Traumwelt.
Aber am Abend, müde unter der weichen, warmen Decke, musste Anna wieder weinen.
Selbst Aemilias Gutenachtgeschichte, ein neues Erlebnis in der unendlichen Geschichte vom braven Kind Wahnfried Lispel und dem schlimmen Buben Hanswild Zappel vermochten ihr heute kein Lächeln abzuringen.
„Gretl“, flüsterte sie. „Meine arme Gretl.“
„Alles wird wieder gut“, versprach Aemilia liebevoll.
Dann verließ sie leise das Zimmer.
Angestrengt lauschte das Kind in die Dunkelheit. „Schlafzimmergeister, wo seid ihr? Nico, Nino, Nolo, wacht auf!“ Endlich, endlich. Der Fußboden knarrte. Jetzt knackste es auch im Kasten. Von der Wand herunter lachte das blau-rot-gelb gescheckte Clownsgesicht.
Langsam breitete sich ein milchig-weißer Schleier über die bunten, lustigen Clownsaugen. Unscharf quoll aus dem Kleiderkasten ein dünn-weißes Gebilde. Kaugummiartig. Der große Schlafzimmergeist! Jetzt krachte etwas am Fußboden. In Bettnähe.
Kurz danach löste sich aus einer Ritze eine durchsichtig-braune Masse. Dehnte sich. Heller, dünner, immer durchsichtiger. Wie ein riesiger Luftballon mit dürrem Hals. Eine rote dicke Nase entstand, drei Rundaugen! „Der Mittlere der Schlafzimmergeister!“, rief Anna begeistert. Und auch der Kleine zeigte sich, klebte faul an der blauen Nachttischlampe. Er kicherte übermütig. Freundliche gelb-weiß gesprenkelte Augen lachten Anna an. Das Rechte mit einem winzigen blauen Fleck. Beschützend umhüllten die wehenden Geisterarme den Raum.
„Ich sehe euch heut so klar“, murmelte das schläfrige Kind. „Helft mir, bitte!“ – „Anna, Anna! Du brauchst unsere Hilfe gar nicht“, wisperte es vielstimmig um sie.
„Ema hat ihre Kraft in dich gezaubert. Jetzt gehört dir die ganze Welt. Hab keine Angst. Du musst vor niemandem Angst haben. Wehr dich, wehr dich immer auf deine Art. Du hast die Kraft, vergiss das nie.“ – „Könnt ihr nicht doch vielleicht morgen mit mir gehen?“, bat Anna zweifelnd. „Anna, wir sind doch Hausgeister“, klang es um sie. „Nur ganz, ganz selten verlassen wir die Häuser. Nur, wenn ein Hausbewohner, den wir sehr lieben, stirbt. Dann begleiten wir ihn an sein Grab. Und wenn ein Netter umzieht, ziehen wir einfach mit ihm mit“, versicherte der kleinste Schlafzimmergeist. Anna seufzte. Plötzlich stand Aemilia vor ihr. Durchsichtig, strahlend. Sie legte ihren schmalen Zeigefinger auf ihren Mund. „Es bleibt für immer unser Geheimnis“, flüsterte sie. „Vertrau deiner Kraft. Du wirst sehen: Wenn einem schon alles gehört, braucht man nichts mehr. Oder sehr wenig im Leben. Du wirst zufrieden sein und nie jemanden beneiden.“
„Irgendwann, wenn du steinalt bist, gibst du den Zauber weiter. An den Menschen, den du erkennen wirst.“
Anna staunte. Sie fühlte sich ganz leicht, stark und froh. Ängste und Zweifel waren verflogen. „Wichtig ist nur“, dachte sie, „dass ich meine Gretl wiederbekomme.“ Sie wusste, dass sie dies alles nicht geträumt hatte. Denn ab und zu erschienen die Geister ihr auch im Traum, dann aber sprachen sie immer nur in Reimen.
So wusste das Kind Träume und Wirklichkeit genau zu unterscheiden.
Am nächsten Tag nickte die Kleine Aemilia wissend zu. „Danke, Ema“, sagte sie feierlich. „Hattest du einen schönen Traum, Anna?“ – „Das weißt du doch ganz genau“, zwinkerte sie übermütig. „Natürlich.“ Die Großmutter lächelte verschwörerisch.
Sie war erleichtert, dass das Kind den Schock überwunden hatte.
Dichter Schneeregen klatschte an die Fenster.
Plötzlich klopfte es hart an der Eingangstüre.
Erstaunt wandte sich Aemilia um.
Anna bemerkte, dass der schmale Körper der Großmutter zusammenzuckte, während sie durch den Türgucker sah.
„Wer kommt uns denn heute schon so früh besuchen?“, rief das Kind neugierig.
5 Sterne
Äußerst lesenswert  - 28.02.2024
Dr. Benita Ferrero-Waldner

Dieses Buch überrascht zum einen durch die poetische Beschreibung der Phantasiewelt eines Kindes, die diese bis zu ihrem Alter begleitet, und zum anderen der harten, realen, ironischen Darstellung der Wiener und New Yorker "noblen" Gesellschaft.Ihre Erinnerungen an die Traumwelt der Kindheit, in der ihr die Angst genommen wurde, hilft ihr,eine große Enttäuschung zu überwinden und eine schwere persönliche Entscheidung zu treffen.Ein Roman, der wegen seiner poetischen, aber auch präzis beschreibenden und kreativen Sprache - vor allem der Schaffung innovativer Wortkombinationen - äußerst lesenswert ist.Dr. Benita Ferrero-Waldner

5 Sterne
Die  - 04.02.2024
Dorothea Leutgeb

berührend, spannend, witzig, gesellschaftskritisch, beste Unterhaltung auf Spitzenniveau....

5 Sterne
Mein Lieblingsbuch! - 04.02.2024
Mag. Jan Homan

Perfekter Spannungsaufbau, witzig, einfühlsam, aktuellste Gesellschaftskritik……. man kann es nicht mehr weglegen, wenn man es einmal begonnen hat…grandios!

5 Sterne
phantasievoll und spannend - 18.12.2023
Marilise Gudenus

Ein herrliches Buch, voll Phantasie, Humor, Spannung und subtiler Gesellschaftskritik. Ein Parkett in dem sich die Autorin sichtlich gut auskennt. Man möchte das Buch nicht weglegen, schade, dass es schon aus ist....Ich freue mich auf ein weiteres Werk !

5 Sterne
Ein Buch der Überraschungen - 27.11.2023
Elizabeth Umdasch

Ein großartiges Buch! Man kann das es von Anfang bis zum Ende nicht weglegen und ist traurig, wenn das letzte Wort gelesen ist. Es ist ein Buch der Überraschungen, der Wendungen, bei dem man sich nie über das Nächste sicher sein kann, gespickt mit subtilen Andeutungen. Herrlich diese unglaubliche Verwendung von Adjektiven, diese bildlichen Darstellungen, diese Phantasie und der Wortwitz, oftmals ziemlich sarkastisch, ein Bild der oberflächlichen Wiener und New Yorker Gesellschaft zeichnend. Es ist herrlich und unterhaltsam zu lesen, dabei auch tiefgründig mit einem offenen Ende - oder eben nicht? Ein großes Bravo der Autorin. Hoffentlich kommt bald mehr!

Das könnte ihnen auch gefallen :

Die Angstnehmerin

Rebecca Lang-vom Felde

Holiday in Silver Beach

Buchbewertung:
*Pflichtfelder