Möchtest du fliegen, Mari-Luis?

Möchtest du fliegen, Mari-Luis?

Karin Jörger


EUR 14,90
EUR 8,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 150
ISBN: 978-3-99107-373-4
Erscheinungsdatum: 28.01.2021
Mari-Luis ist 5 Jahre alt und wächst 1790 mitsamt 3 Brüdern auf dem Hof ihrer tyrannischen Eltern in einem Schweizer Dorf auf. Die Welt des Mädchens, das nie Kind sein durfte, wird durch zahlreiche Schicksalsschläge und falsche Begegnungen ins Wanken gebracht.
Prolog

Ich stehe mitten unter der munter schwatzenden Menschenmenge vor der Mühle zur Taa, die einst die Mühle zu Zwyselen genannt wurde.
Die Leute halten Teller mit Kuchen in den Händen und geniessen die letzten warmen Sonnenstrahlen in diesem Herbst. Es wird irgendein Fest gefeiert. Ich habe vergessen, um welches es sich dieses Mal handelt, denn es werden hier auf der Mühle so viele Feste gefeiert, dass ich den Überblick schon lange verloren habe. Trotzdem besuche ich jeden dieser Anlässe, denn ich mische mich gern unter die Gäste, lausche ihren Gesprächen und dem Gelächter, das mal hier und mal da aufflackert und wieder erlischt.
Verstohlen beobachte ich einen Mann, der sich schon den dritten Teller mit Süßem vollgehäuft hat und nun mit Genuss in den cremigen Kuchen beisst. Da höre ich es plötzlich ganz deutlich: Kinderlachen!
Kann das wirklich sein? Ich lausche, und tatsächlich! Da ist es wieder! Unverkennbar.
Ein freudiger Schauer rieselt mir den Rücken hinunter. Ich bin ganz sicher: Es ist das Lachen meiner Johanna.
Aufgeregt dränge ich mich durch die Menschen, an dem kuchenessenden Mann vorbei, auf der Spur des Lachens, das mir erneut entgegenperlt.
Endlich habe ich mich aus dem Gewühl hervorgekämpft, stehe am Rande des Vorplatzes, und da sehe ich sie.
Sie ist es! Meine kleine Johanna!
Auf kurzen Beinchen springt sie am Bach entlang dem Wald zu. Ihre blonden Locken, den meinen so ähnlich, glänzen in der milden Herbstsonne wie geschmolzenes Gold.
Wie ausgelassen sie ist. Übermütig schlägt sie Haken, um dem größeren Mädchen zu entkommen, das sie einzufangen versucht.
Tränen der Freude steigen mir in die Augen. So lange habe ich nach ihr gesucht, nach ihr gerufen! Und nun endlich, endlich ist sie hier.
Versunken in ihren Anblick stehe ich einfach nur da und schaue ihr zu. Wie hübsch und wie groß sie geworden ist! Sie wirft Steine und kleine Zweige in den Bach und ihr heiteres Lachen umweht mich wie ein lauer Frühlingswind.
„Jana, schau, eine Schnecke!“ Die fremde Stimme reißt mich aus meinem Bann. Erst jetzt sehe ich die Frau, die ganz offensichtlich die beiden Mädchen begleitet. In der einen Hand hält sie einen Strauss voller Herbstblätter, rote und goldene, mit der anderen zeigt sie auf den Weg vor sich.
Johanna lässt den Zweig fallen, den sie noch in der Hand gehalten hat und hüpft zu der Frau hinüber, wobei ihr das größere Mädchen folgt, als müsste es darauf achten, dass Johanna nicht stürzt.
Drei Haarschöpfe beugen sich über die Schnecke, die, bedächtig und gleichgültig über dieses plötzliche Interesse, ihr schweres Haus über den Weg schleppt.
Johanna bestaunt die langen Fühler und klopft dann frech auf das Schneckenhaus. Hell lacht sie auf, als das Tierchen sich blitzschnell zurückzieht.
„Du hast sie erschreckt, Jana“, lacht die Frau.
„Sie heisst Johanna“, rufe ich empört. Ich mag es nicht, wenn Namen abgekürzt werden.
Jeder Name birgt sein eigenes Geheimnis und Johanna hat einen starken Namen bekommen, den stärksten, den ich kenne, denn sie ist benannt nach der außergewöhnlichsten Frau, von der ich je gehört habe. Mein geliebter Bruder Hermann hat von ihr erzählt. Johanna von Orléans konnte mit Heiligen und Engeln sprechen, die niemand sonst sah. Seite an Seite mit den Männern war sie mit Schwert und Rüstung in den Krieg gezogen, um ihr Land zu retten. Und meine Johanna, das weiß ich ganz sicher, wird eines Tages genauso aussergewöhnlich sein.
„Johanna, komm her zu mir!“, rufe ich.
Im Gegensatz zu den beiden Kindern, die bereits wieder Fangen spielen, scheint die Frau mich gehört zu haben. Sie blickt hoch zur Mühle. „Na los, ihr beiden, lasst uns zurückgehen, es wird langsam kühl.“
Johanna springt voraus. Ihre Locken tanzen um ihr hübsches Gesicht.
Ich stehe auf dem Vorplatz der Mühle. Johanna hüpft auf mich zu und winkt, als sie mich sieht.
„Mami“, ruft sie.
Mein Herz schlägt aufgeregt und wild. Freudig gehe ich in die Knie, breite die Arme weit aus. Jetzt, da mir Johanna so nah ist, kann ich es kaum erwarten, sie an mich zu drücken und mein Gesicht in ihren Haaren zu vergraben.
Sie lacht. Ihre Wangen sind rot, ihre Nasenspitze auch. Sie ist fast ganz bei mir. Sie hüpft und hüpft. Ihre grauen Augen tauchen erst in meine und dann durch mich hindurch, und schmerzhaft wird mir bewusst, dass sie mich nicht sieht. Sie hüpft mitten in die Arme einer jungen Frau hinter mir, die sie lachend hochhebt und herumwirbelt.
Mir wird übel. Alles dreht sich und dann falle ich in tiefste Schwärze.

Als ich wieder zu mir komme, bin ich oben bei der Treppe, die zur Schlafkammer hinaufführt. Seit es auf der Mühle gebrannt hat, steht nur noch dieses eine kleine Haus, in dem nun ein Fest nach dem andern gefeiert wird.
Die Leute, die fröhlich schwatzend in der gemütlichen Stube unten sitzen, beachte ich gar nicht. Ich habe nur Augen für meine Johanna.
Sie steht auf einer der Treppenstufen.
Ich kann es noch gar nicht richtig fassen. Nach all dem Suchen habe ich sie tatsächlich gefunden.
Endlich ist sie zu mir zurückgekommen.
Jetzt wird alles gut.
Ihre Augen leuchten und ihre Wangen sind leicht gerötet. Eine Frau sitzt auf der Treppe, gleich neben Johanna und spielt mit ihr „Ich wasche deine Hände, du wäschst meine Hände“. Ein kindliches Spiel, das die beiden gerade erst erfunden haben. Sie reiben sich gegenseitig die Hände, als würden sie sie waschen.
Ich bade förmlich in Johannas Lachen. Überall hätte ich dieses Lachen herausgehört. Überall! Mein Herz fließt über vor Liebe.
Da, mit einem Mal, wird mir klar, es ist bereits dunkel.
Was bin ich nur für eine liederliche Mutter! Johanna sollte schon längst im Bett sein und sich ausruhen. Und ich werde die ganze Nacht an ihrem Bett Wache halten und ihr liebes Gesicht betrachten.
„Johanna“, rufe ich, „es ist Zeit zum Schlafen. Verabschiede dich und komm zu mir!“
Sie spielt unbekümmert weiter. Offenbar hat sie mich in all dem Trubel, den die feiernden Menschen machen, nicht gehört. Ich gehe ein paar Schritte die Treppe hinunter. „Komm, Johanna!“, sage ich. Lauter diesmal. Trotzdem reagiert sie noch immer nicht. Es scheint, als würde sie nicht zu Bett gehen wollen, solange noch Gäste im Haus sind.
Aber sie braucht doch ihren Schlaf.
Ich knie mich neben sie auf die Treppe und lege ihr die Hand auf den Rücken.
„Johanna“, sage ich ein drittes Mal und diesmal hat sie mich gehört.
Sie blickt auf. Erschrecken liegt in ihren schönen, grauen Augen. Sie macht unwillkürlich einen Schritt zurück, weg von mir, und purzelt die Treppe hinunter.
„Mami!“, weint sie.
Sofort bin ich bei ihr, um sie aufzuheben und zu trösten. In meinen Armen wird sie sich schnell beruhigen.
Doch da sind andere Arme, andere Hände.
Meine Johanna klammert sich an eine Frau, die ihr tröstend über die Haare streicht und sie auf die Wange küsst. Ich erkenne diese Frau. Es ist dieselbe, auf die Johanna zugehüpft ist, als ich sie auffangen wollte.
Es macht mich unendlich traurig, dass sich Johanna nicht von mir, ihrer Mutter, trösten lassen will.
„Wo hat es weh getan?“, höre ich die Frau fragen.
„Da“, weint Johanna und legt sich ihr kleines Händchen auf den Rücken. Genau dort, wo ich sie mit meiner Hand berührt habe.
Ein eisiger Schmerz packt mich. Habe ich Johanna wirklich weh getan?
Das wollte ich nicht und würde ich nie tun! Alles verschwimmt vor meinen Augen.
Ich wirble herum und fliehe. Weg von den fröhlichen Leuten, weg vom Licht, hinein in die Dunkelheit.

Eine orange Herbstsonne klettert eben über den Horizont und wirft die ersten Strahlen des Tages hinunter ins kleine Tobel, als ich mich aus der schützenden Dunkelheit hervorwage.
In der Mühle ist es noch still. Nur eine Frau ist wach. Sie räumt die Tische ab und macht sauber.
Ich erkenne sie. Es ist die Frau, die mit Johanna unten am Bach gewesen ist und Blätter gesammelt hat.
Ich stelle mich neben sie und frage, wo Johanna ist, obwohl ich ja weiß, dass sie mich nicht wahrnehmen wird.
Doch erstaunlicherweise hebt sie den Kopf von der Pfanne, die sie gerade abwäscht, und schaut mich an. Auch sie erschrickt. Allerdings nicht ängstlich, so wie Johanna erschrocken ist, eher verwundert.
„Ich dachte, da wäre jemand“, sagt sie wie zu sich selbst.
Ob sie mich tatsächlich sieht? Noch einmal frage ich: „Wo ist Johanna?“
Die Frau lächelt. „Also doch! Ich habe Besuch.“
Freudig überrascht frage ich: „Kannst du mich sehen?“
„Ich höre dich“, sagt die Frau.
Es ist unglaublich! Da ist wirklich ein Mensch, der mit mir spricht!
„Ich suche Johanna“, sage ich.
„Johanna?“
„Eben war sie noch da, aber jetzt finde ich sie nicht mehr.“
„Wer ist Johanna?“, fragt die Frau.
„Mein Kind“, antworte ich mit einem Schluchzen im Hals. Ein tiefer Schmerz drückt mir aufs Herz.
Die Frau trocknet ihre Hände an einem Tuch ab. „Willst du mir von deinem Kind erzählen? Vielleicht kann ich dir dann bei der Suche helfen.“
Meint sie das ernst? Ob ich ihr glauben kann? Ein bisschen erinnert sie mich an Klara, was mich Vertrauen fassen lässt.
„Johanna hat goldene Locken und graue Augen und ein unverkennbares Lachen. Und sie war hier auf der Treppe“, beginne ich und spüre Freude in mir aufsteigen. Es ist so wunderbar, über Johanna zu reden.
„Deine Johanna scheint ein hübsches Kind zu sein“, lächelt die Frau, „und einen schönen Namen hat sie auch.“
„Es ist ein starker Name, denn sie ist stark. Nicht so wie ich. Johanna lässt sich nicht unterkriegen!“
Die Frau setzt sich auf einen Stuhl. „Hast du dich unterkriegen lassen?“, will sie wissen.
Ich nicke. Die Freude ist weg, und wieder schnürt sich mir das Herz zu. „Keiner darf Johanna weh tun!“, sage ich bestimmt, nachdem ich ein paarmal tief Luft geholt habe.
„Das will bestimmt niemand!“ Die Frau nickt zustimmend, dann fährt sie fort: „Nun hast du mich aber neugierig gemacht. Gerne würde ich deine und die Geschichte deiner Johanna hören. Willst du sie mir erzählen?“
„Wieso willst du meine Geschichte hören?“, frage ich verwundert.
„Nun, weißt du, ich bin eine Geschichtensammlerin.“
„Und was tust du mit den Geschichten, die du gesammelt hast?“
„Ich schreibe sie auf“, antwortet sie.
„Du schreibst sie auf? In ein Buch?“
Sie nickt erneut.
„In ein richtiges Buch, das man lesen kann?“, frage ich erstaunt nach. „So wie die Bücher, die Hermann gelesen hat?“
„In ein richtiges Buch“, bestätigt die Geschichtensammlerin.
„Ich habe aber keine großen Abenteuer bestritten und keine Heldentaten vollbracht wie Johanna von Orléans“, sage ich leise.
„Mich faszinieren die stillen Geschichten mehr“, meint sie schlicht.
„Ich glaube kaum“, wende ich ein, „dass irgendjemand mein Leben spannend finden könnte.“
„Ich schon.“
„Was willst du denn hören?“, frage ich skeptisch.
„Alles, was du mir anvertrauen willst.“
Wir bleiben beide eine Weile still. Erinnerungen stürzen auf mich ein. Erinnerungen an meine Brüder, an Verzweiflung, Mutter und den Balz. An Johanna und ans Fliegen.
Leise frage ich: „Gleich hier?“
„Wenn du magst, gerne. Ich habe Zeit!“, erwidert die Geschichtensammlerin mit einem leichten Schulterzucken. „Und du bestimmt auch.“
Zeit? Ich weiß schon lange nicht mehr, was Zeit ist.
Sie lächelt mir aufmunternd zu.

Also fasse ich mir ein Herz und beginne zu erzählen …



Im Jahre des Herrn 1790


Vorfreude

Die zur Hälfte geschälte Kartoffel rutschte aus meinen kleinen Händen. Sie kullerte über den Tisch und fiel, noch bevor ich sie zu fassen bekam, mit einem nassen Klatschen auf den Boden und verschwand unter dem Schrank.
Ängstlich blickte ich zu Mutter hinüber. Ob sie mein Missgeschick bemerkt hatte? Denn dafür würde sie mich bestimmt bestrafen. Sie stand am Herdfeuer, den großen, breiten Rücken mir zugewandt, und schien nichts Verdächtiges gesehen oder gehört zu haben. Ihre mächtigen Hände, die nicht nur bei der Arbeit hart zupacken konnten, waren weiterhin mit dem Umrühren im Topf beschäftigt.
Ich konnte es also wagen. Hastig und so leise wie möglich kletterte ich vom Hocker und legte mich vor dem schweren Küchenschrank flach auf den Bauch. Ich musste meinen ganzen Arm unter das Möbel schieben, bis ich die verlorene Kartoffel zu fassen bekam.
Erleichtert richtete ich mich wieder auf und zuckte erschrocken zurück. Wie ein riesiger Berg stand Mutter vor mir, die Hände wütend in die Seite gestemmt.
Instinktiv zog ich den Kopf ein. Gleich würde sie mich schlagen.
„Luisli“, donnerte Mutter, „was tust du hier unten? Bist du zu dumm, um ein paar Kartoffeln zu schälen?“
Ich heiße Mari-Luis, dachte ich, nicht Luisli.
„Es ist unfassbar, aber es gibt wirklich keine faulere Göre als dich!“, zeterte Mutter weiter. „Jeder andere wäre schon längst fertig, aber du kriechst lieber auf dem Boden herum, statt deine Arbeit zu tun.“
Jedes Mal, wenn Mutter mit mir schimpfte, flogen meine Gedanken weg. Nur so konnte ich die Angst, die ich vor Mutter hatte und die mich wegzuspülen drohte, wenigstens ein bisschen zurückdrängen.
Ich heiße nicht Luisli, ich bin Mari-Luis … Mari-Luis … Mari-Luis.
„Willst du Vater erklären, wenn er vom Feld kommt, warum er aufs Essen warten muss?“
Krampfhaft hielt ich den Blick auf die Kartoffel in meiner Hand gerichtet.
„Wie bitte?“ Die Worte wurden von einem Schlag gegen die Schulter begleitet.
Es tat nicht sehr weh, aber es brachte meine Gedanken zurück. Angestrengt versuchte ich mich daran zu erinnen, was Mutter gefragt hatte. Ging es um Vater und das Essen und ums Warten?
Kaum merklich schüttelte ich den Kopf, die Augen fest auf die Kartoffel gerichtet.
Nicht Luisli, nicht Luisli. Mari-Luis … Mari-Luis … Mari-Luis …
„Was hast du gesagt?“, fauchte Mutter. „Ich habe dich nicht verstanden. Und sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede!“
Ich zwang mich, den Blick zu heben. „Nein, Mutter“, flüsterte ich.
„Das hab ich mir schon gedacht.“ Unsanft stieß sie mich zum Tisch zurück, sodass ich mit dem Kopf an die Tischkante anstieß. Der Schmerz durchzuckte mich kurz. Ich drängte ihn weg und kletterte so schnell ich konnte auf den Hocker, während Mutter seufzte: „Heilige Mutter Gottes, warum hast du mich mit dieser faulen und dummen Göre bestraft? Was habe ich nur getan, um das zu verdienen?“ Sie bekreuzigte sich und wandte sich wieder ihrem Topf über dem Feuer zu.
Mutter war eine fromme Frau, die gerne die Mutter Gottes anrief, wenn etwas nicht nach ihren Wünschen verlief. Schließlich betete sie morgens und abends den Rosenkranz. Das gab ihr das Recht, so fand sie, zumindest ein bisschen auf die Unterstützung der Mutter Gottes zählen zu dürfen.
In Windeseile schälte ich die Kartoffeln weiter, während ich unermüdlich meinen Namen in Gedanken wiederholte. Mari-Luis … Mari-Luis, und gleichzeitig achtete ich sorgfältig darauf, dass mir keine Kartoffel mehr aus der Hand flutschte. Ich bezweifelte stark, bei einem erneuten Missgeschick noch einmal so glimpflich davonzukommen.
Kaum hatte ich die letzte Knolle kleingeschnitten, flog die Tür auf und mein Vater, dicht gefolgt von Jakob, meinem ältesten Bruder, kam in die Küche gestürmt.
„Frau“, rief Vater, „richte die gute Stube her, fege den Hof und bring die Tische hinaus, der Balz ist auf dem Weg!“
Augenblicklich veränderte sich die Stimmung meiner Mutter. Nervös befingerte sie den dunklen Zopf, der in ihrem Nacken zu einem strengen Dutt aufgewickelt war. „Wann kommt er denn?“ Ihre Stimme war plötzlich überraschend leise und verhalten.
„Heute Abend oder morgen früh“, berichtete Vater.
„Schon heute?“, rief Mutter aus und wurde ganz aufgeregt. „Heute ist aber Waschtag!“
„Dann beeil dich mit der Wäsche!“, befahl Vater.
Der Balz war der fahrende Händler. Zweimal im Jahr kam er auf Vaters Hof mit einem riesigen Wagen voller Dinge, die er auf Tischen ausgebreitet zum Kauf anbot. Nachbarn und auch Leute aus Bütschwil, Mosnang und sogar noch weiter entfernten Dörfern strömten herbei, um zu schwatzen, zu schauen, zu kaufen und zu tauschen. Der ganze Hof glich dann einem Volksfest, und am Abend wurde zum Tanz aufgespielt.
Der Balz brachte Stoffballen, Töpfe, Schuhe, Werkzeuge und Garn, Hüte und duftende Seifen, Kerzen, exotische Gewürze, Öle und vieles andere mit, was das Herz begehrte. Er wusste auch Neuigkeiten zu berichten. Er brachte Kunde von neugeborenen Kindern, von Hochzeiten und Todesfällen und, hinter vorgehaltener Hand, auch von Skandalen und Schandtaten. Auch aus Wil und St. Gallen wusste er zu berichten, und sogar aus der großen, fernen Stadt Zürich brachte er Geschichten mit. Vor allem die Frauen hingen dann an seinen Lippen und wollten alles wissen über die feine Herrschaft aus der Stadt, die Perücken und Schnallenschuhe trug und den ganzen Tag lang feierte. Als Gegenleistung wollte der Balz alles über unsere Gegend wissen, und nur zu gern wurden ihm die Neuigkeiten aus dem unteren Toggenburg mitgeteilt.
Während Mutter nun ihre vor Vorfreude roten Wangen hinter einer Staubwolke von Mehl zu verbergen suchte, bettelte Jakob: „Bitte Vater, lasst uns ein neues Beil tauschen. Wir können es gut gebrauchen.“
„Das ist überhaupt nicht nötig“, würgte ihn Vater ab. „Schleif das alte, das tut’s noch lange.“
„Aber das alte nimmt doch Kurt. Und wenn ich auch eins habe, dann können wir zusammenarbeiten und sind schneller!“ Er eilte hinter Vater her, der bereits wieder aus der Küche gestampft war. Ich hörte meinen Bruder noch sagen: „Vater, bitte! Ich habe zusätzlich fünf weitere Besen gebunden, die wir dem Balz anbieten können …“
Jakob war zwölf Jahre alt und nach Vater benannt. Abgesehen von den Tagen, die er in der Schule verbringen musste, arbeitete er mit Feuereifer auf Vaters Hof mit, der von allen der Erni-Hof genannt wurde. Er würde einmal das Gut übernehmen, so wie unser Vater es von seinem Vater übernommen hatte. Seit vielen Generationen gehörte dieser Hof einem Jakob Erni.
Mein Bruder wusste schon jetzt, was er alles ändern und neu anschaffen würde, wenn er erst der Besitzer wäre. Solange allerdings Vater auf dem Hof noch das Sagen hatte, wurden Jakobs Ideen nicht gewürdigt, was ihn zuweilen ziemlich wütend machte.
Ich kletterte vom Hocker hinunter und gab die Kartoffeln in den Topf über dem Feuer.
Mutter knetete bereits den ersten Teig. „Steh hier nicht faul herum!“, herrschte sie mich an. „Du hast Vater gehört, der Balz ist vielleicht schon am Abend hier! Beeil dich! Hilf Klara bei der Wäsche, danach fegst du den Hof und dann hilfst du mir gefälligst beim Backen!“
Leise schlich ich mich aus der Küche. Ich war fünf Jahre alt und so lange ich denken konnte, hatte ich mich leise und unauffällig bewegt, stets darauf bedacht, keine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Denn Aufmerksamkeit bedeutete nicht selten Schläge.

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