Die dem Schicksal trotzen

Die dem Schicksal trotzen

Fehlentscheidung

Elisabeth Winter


EUR 26,90
EUR 16,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 426
ISBN: 978-3-99038-910-2
Erscheinungsdatum: 24.11.2015
Nur ein schmaler Grat trennt vollkommenes Glück von tiefster Verzweiflung, wie Elisabeth schmerzlich erfahren muss. Ihre daraufhin folgende fatale Fehlentscheidung setzt eine Abwärtsspirale der Befindlichkeiten zweier Männer und einer Frau in Gang.
Vorwort

Knappe vier Jahre, nachdem Dennis und Elisabeth einander kennen und lieben lernten, starb Dennis. Für die junge Frau brach die Welt zusammen. Noch zu Dennis’ Lebenszeit hatte sie bemerkt, dass sein Bruder David, 20 Jahre älter als sie, sie nur zu gerne sah. Bestärkt durch die Ignoranz ihrer Familie ob ihres Schicksalsschlages floh sie nach Dennis’ Tod in seine Arme. Sie stimmte zu, mit ihm gemeinsam ihr weiteres Leben zu verbringen, wäre da nicht seine zweijährige Inhaftierung in einem amerikanischen Militärgefängnis in Vietnam, wegen unerlaubter Dreharbeiten in seiner Rolle als Kriegsberichterstatter, gewesen. Elisabeth meinte, nachdem er weder zur vereinbarten Zeit zurückgekehrt, sie auch keine Nachricht von ihm erhalten hatte, er habe nur mit ihr gespielt. Im festen Glauben an seinen Verrat heiratete sie Rudi.
David aber sehnte sich nach ihr, schrieb wöchentlich an sie, gab aber nach einigen Monaten auf, da sie nie antwortete. Erst als er zwei Jahre später nach ihr suchte, um eine Aussprache mit ihr zu führen, erfuhr er, dass sie keinen einzigen seiner vielen Briefe erhielt. David ließ sich nicht abschütteln und versuchte unbeirrt, solange er lebte, Elisabeth zu seiner Gattin zu machen. Die Ehe Elisabeths und Rudis begann, aus den Fugen zu geraten.
Um noch lebende Personen zu schützen, wurden den Akteuren andere Namen verliehen. Auch die Orte der Handlungen wurden geändert.
Die Hauptakteurin trägt, auf ihren Wunsch, den Vornamen der Autorin. Etwaige Namensgleichheiten mit existierenden Personen wären rein zufällig.



David

Versunken in tiefer Trauer stand David, seine Mutter stützend, am offenen Grab seines Bruders Dominik. Der heruntergeleierten Begräbnisansprache des Geistlichen konnte David nichts abgewinnen. Als die schriftliche Todesnachricht vom Heldentod des Bruders seine Mutter und ihn erschütterte und er den Satz „Er gab sein Leben für sein Vaterland“ seiner Mutter vorlesen musste, packte ihn maßlose Wut. Er fühlte sich beleidigt vom Euphemismus, mit dem man das Ableben eines Menschen beschönigte. Die Umstände von Dominiks Tod wurden ihnen nie mitgeteilt, Anfragen blieben unbeantwortet. Was war wirklich geschehen? War er etwa einem „Friendly Fire“ zum Opfer gefallen und diese Tatsache musste verschwiegen werden? Er konnte sich das gut vorstellen, denn er sah weltweit zu viel Unrecht und Irrtum während seiner Tätigkeit in der Kriegsberichterstattung. Zu viele Fehler der Militärs kosteten jungen Amerikanern viel zu oft das Leben. Und was nicht sein kann, nicht sein darf, militärische Geheimhaltung als oberstes Prinzip war immer mühelos in der Lage, eigene Fehler zu übertünchen, ja den „Schwarzen Peter“ dem Feind zuzuschieben. Manchmal schreckte er im Schlaf hoch, von Albträumen geplagt. Im Traum sah er ausgemergelte Kinder nach der Mutter schreien, Leichen von unschuldigen Menschen, die weder Verräter noch Spione waren, von hasserfüllten Soldaten gnadenlos niedergemetzelt. „Okay“, gestand er sich ein. „Die Berichterstattung ist mein Beruf. Ich muss damit leben.“ Und als der nächste Auftrag eintraf, ließ er alle Bedenken fallen und eilte als Erster aufgeregt und wissbegierig zum Ort des Geschehens.

Helle Begeisterung ergriff ihn, als seine Bewerbung als Assistent eines renommierten Kameramannes der Universal Wochenschau angenommen wurde. Seine Einsatzfreude und seine Gelehrigkeit sprachen sich sehr schnell im Genre herum und es folgten bald weitere Engagements. Während des Koreakrieges zeichnete er sich durch seine draufgängerische Vorgangsweise aus. Kein Risiko scheuend, warf er sich in das Kriegsgeschehen so nahe der Front wie nur möglich, hielt durch, so lange sie mussten, und lieferte gute Arbeit. Damals noch sehr jung verschloss er sich vor den immensen Strapazen und Qualen der Soldaten und der Zivilbevölkerung. Das Wichtigste für ihn war sich zu etablieren. Mochte das Kriegsgeschehen ruhig auf ihn einstürmen! Er wollte dabei sein und alles wirklichkeitsgetreu berichten. Mit zunehmendem Alter und Routine kühlte sich sein Enthusiasmus etwas ab und er betrachtete Kriege nur noch als den Wahnsinn der Mächtigen. Wurde sein Team aus arbeitsrechtlichen Gründen turnusmäßig abgelöst, ließ man die Mitarbeiter frei entscheiden, wo sie ihre Freizeit verbringen wollten. David entschied sich meistens, in seine Heimat zu reisen. Er lebte damals mit Rachel, der wesentlich älteren Frau, zusammen und überlegte jedes Mal, wohin er sollte. Nach Erie oder nach Los Angelos zu Rachel. Er entschied sich immer öfter für Erie. Bei seiner Mutter lebte er friedlich, konnte ruhen, während der Aufenthalt bei Rachel durch ihr Verlangen nach extensiver Sexualität fern jeder Erholung, die er immer dringender benötigte, verlief. Ein einziges Mal blieb er auf Drängen eines Freundes, in Korea. Sie blieben in Seoul.
Sein Freund Jim unterhielt mit einer Koreanerin seit Beginn des Krieges eine Liebesbeziehung, jede freie Stunde verbrachte er mit dem Mädchen. Die Koreanerin stammte aus einer gutbürgerlichen Familie, ihr Vater war ein wohlhabender Kaufmann gewesen. Bei einem der ersten Luftangriffe starben ihre Eltern und ihre Geschwister, das Haus der Familie wurde komplett zerstört. Sie als einzige Überlebende kam nur deswegen mit dem Leben davon, weil ihr Vater ihr aufgetragen hatte, nach einer kranken Verwandten zu sehen. Sie fand Zuflucht, sofern man ein Hausen im Freien unter einem Stofffetzen als Dach als Schutz bezeichnen kann, beim älteren Bruder ihres Vaters. Der alte Mann hatte Glück, dass ihn bloß ein Balken am Fuß beim Einstürzen seines Hauses traf. Seine Kinder und Enkelkinder starben, wurden erschlagen von den Wänden des Hauses. Davids Freund lernte das Mädchen in den Trümmern dieses Hauses kennen. Sie versuchte, die paar Nahrungsmittel aus dem Schutthaufen auszugraben. Das magere Geschöpf tat ihm leid. Ihr Gesicht schien nur aus großen, schwarzen Augen zu bestehen. Sie hatte Angst vor ihm, verstand kein Wort Englisch. Mit Gesten versuchte er ihr zu erklären, dass er ihr nicht wehtun würde. Er bot ihr ein Täfelchen Schokolade von ihm an. Sie aß es nicht sofort. Sie teilte es mit dem Onkel mit dem verletzten Bein. Jim taten diese Menschen leid, er versuchte, ihre Not zu mildern. Er kaufte in den XP-Läden Lebensmittel, hauptsächlich Konserven und Schokolade, für sie, versorgte sie mit Streichhölzern und Kerzen, Splitterholz hatten sie selbst genug. Der Onkel tadelte sie für den Umgang mit dem Amerikaner, er meinte, dass der fremde weiße Mann sie nur als Zeitvertreib benutzen werde. Jim und das Mädchen verliebten sich ineinander. Sie wurde schwanger. Jim setzte alles daran sie zu heiraten, doch der amerikanische Amtsschimmel, „The Red Tape“, galoppierte nicht schnell genug. Sein erster Sohn wurde unehelich geboren. Er als Vater musste das Kind vor dem koreanischen Gesetz anerkennen, um dem Kind eine bürgerliche Existenz zu ermöglichen. In Korea zu dieser Zeit oblag es dem Vater das Kind anzunehmen und zu legalisieren, das Kind war praktisch Eigentum des Vaters. Die zahlreichen Mischlingskinder der unverheirateten Koreanerinnen, gezeugt von den UN-Soldaten, deren Väter sie nicht annahmen oder nicht mehr annehmen konnten, da sie in der Zwischenzeit gefallen waren, hatten kein Recht auf ihre Existenz und viele von ihnen fristeten ein unmenschliches Dasein. Man nannte sie Rundaugen, verspottete sie und überließ sie ihrem Elend. Sie durften weder Schulen besuchen noch sonstige öffentliche Einrichtungen aufsuchen. Noch Jahre nach dem Krieg überlegten die Verantwortlichen Koreas die Bastarde zu töten: „Schmeißt sie ins Meer“, hieß es.
David bereute es damals, so sehr er seinen Freund auch schätzte, während seiner Freizeit in Korea geblieben zu sein. Nie in seinem Leben vergaß er die Grausamkeit, mit der man Menschen, in diesem Fall Eurasier, behandelte. Viele Jahre verbrachte er in Asien, aber zur Mentalität dieser Menschen und deren Kultur fand er nie Zugang. Er hütete sich davor, eine Liebesbeziehung mit einer Asiatin einzugehen.
Nachdem er aus Indochina zurückgekehrt war, lernte er in Erie eine junge Frau kennen. Ihr selbstbewusstes Wesen erregte sein Interesse. Geschickt stellte er Kontakt zu ihr her und sie verfiel seinem Charme. Sie, zwei Jahre jünger als er, glaubte an die große Liebe und versuchte ihn davon zu überzeugen, ein geregeltes, normales Leben an ihrer Seite zu führen. Bald schon redete sie von Hochzeit, einem geordneten, perfekt geplanten Leben, in dem nichts dem Zufall überlassen werden sollte. David versprach darüber nachzudenken, ob er nicht überhaupt einen anderen, risikoloseren Beruf ergreifen sollte. In Korea und Indochina hatte er genug Geld verdient, um einige Zeit ohne Beschäftigung zu überbrücken, widmete sich seiner Freundin und erfreute sich an ihrem Sexualleben. Nach ausreichender sexueller Befriedigung in so mancher Nacht schlief sie gleich ein, er hingegen blieb meistens noch einige Zeit munter und überlegte die Konsequenzen eines Berufswechsels. Eines Nachts stellte er sich folgendes Szenario vor: Morgens aufzustehen, zu frühstücken, sie zum Abschied zu küssen, danach eine sieben- oder achtstündige Tätigkeit in einer Firma oder Bank, nach Arbeitsende zurückzukehren, zu Abend zu essen und mit ihr zu schlafen. Und das ein Leben lang, Tag für Tag, Nacht für Nacht, ein lebenslanger Kreislauf. „Nein“, sagte er zu sich, „das ertrage ich nicht.“ Die Beziehung scheiterte abrupt.
David schlich einige Zeit, geplagt vom schlechten Gewissen umher, aber er bedauerte keineswegs, diese Partnerschaft so schnell beendet zu haben. Obwohl ihn diese schöne Frau liebte, Sex-Appeal und Intelligenz in sich vereinte, geriet David in Panik, als er sich vorstellte, ein Leben lang in ein Schema gepresst leben zu müssen.
David vertrug keine Einschränkungen seiner persönlichen Freiheit, von wem auch immer. Er kannte sich zu gut und sah sich genauso wie er war. Nie verspürte er das Bedürfnis, ein perfekt geplantes und eingeteiltes Leben führen zu müssen. Er verabscheute es, dem landesüblichen Klischee, mit 30 Jahren ein Haus gebaut, zwei Kinder gezeugt und einen Baum gepflanzt zu haben, folgen zu müssen. Er liebte es, die Dinge auf sich zukommen zu lassen, entsprechen zu reagieren und wollte auf keinen Fall in einem geplanten Korsett, wie er es ausdrückte, eingeschnürt werden und dahinvegetieren. Seine Entscheidungsfreiheit, seine kurzfristige Zukunftsplanung ging ihm über alles. Dazu gehörten auch Tiefschlägen und berufliche Misserfolge, die sich hin und wieder einstellten. Gelassen begegnete er ihnen, korrigierte, rettete, was zu retten war, schloss unvermeidliche Kompromisse und lebte dabei mit sich selbst in gutem Einvernehmen. Gerne ging er in sich, um zu ergründen, was ihm gefiel, was er ablehnte. Er liebte das Abenteuer, war aber auch ein glühender Befürworter der Ehe, er wäre gerne verheiratet gewesen, aber die Frauen, die er bis dato kennengelernt hatte, entsprachen nicht seinen Vorstellungen. Entweder klammerten sie zu viel oder waren zu dominant.

Nachdem die Begräbnisfeierlichkeiten für Dominic zu Ende waren, brachte David seine Mutter nach Hause. Er sah ein, dass er sie im Zustand der tiefen Trauer und Verzweiflung nicht alleine lassen konnte. Deswegen ersuchte er einen Kollegen, anstatt seiner für die nächsten 14 Tage nach Vietnam zu fliegen. Der Krieg gegen den Vietcong verschärfte sich und die Berichterstattung lief auf Hochtouren. Man sah ein, dass David aus familiären Gründen momentan zu Hause unabkömmlich sei, außerdem rissen sich die Berichterstatter diverser Nachrichtensender und Wochenschauen förmlich um Aufträge dieser Dimension. Jeder Journalist und Kameramann sah eine große Chance, sich mit sensationellen Berichten und Filmmaterial über das Kriegsgeschehen zu etablieren.
David liebte seine Mutter. Es gelang ihm letztlich auch, sie zu beruhigen und ihr über den Tod des älteren Bruders hinwegzuhelfen. Er kümmerte sich rührend um sie, lud sie zu Ausflügen ein, half ihr im Haushalt und munterte sie mit heiteren Geschichten aus der Kindheit der drei Brüder auf. Mary staunte, wie viele Streiche und Abenteuer ihre Söhne der Mutter verschwiegen hatten. „Um Gottes willen“, rief sie aus und musste wohl oder übel lachen. „Wenn ich gewusst hätte, was ihr alles angestellt habt, hättet ihr wochenlangen Hausarrest aufgebrummt bekommen.“
David grinste breit und schaute seine Mutter schelmisch an. „David“, fragte sie forschend, „habt ihr mich jemals angelogen?“
„Nein“, antwortete er gelassen. „Gelogen haben wir nicht, wir haben dir nur nicht alles erzählt.“ David log wenig. Er tat dies nie, um anderen zu schaden oder anzugeben. Er wollte auch keinen Vorteil durch Lügen herausschinden, aber versuchte man ihn in die Enge zu treiben, um seine intimsten Gedanken zu ergründen – diese Eigenschaft bemerkte er vor allem bei Frauen –, blockte er ab, schwieg und sah seinem Gegenüber lange in die Augen. Sensible Personen erkannten seine Gefühle – in Davids Augen konnte man lesen wie in einem Buch –, die Unsensiblen setzten sich über sein Schweigen hinweg, wollten ihn aushorchen, dabei kam es schon vor, dass er log.
David half seiner Mutter beim Wegräumen von Dominiks Sachen. Die Bücher brachte er in sein Zimmer und verstaute sie in dem Bücherregal über seinem Bett. Und die Bekleidung des Bruders verschenkte er bis auf eine Lederjacke. Dominik hatte sie beim Motorradfahren getragen.
Er vermisste seinen Bruder, wenngleich Dominik die meiste Zeit auf See verbracht hatte, aber alleine das Bewusstsein, verlässliche Brüder zu haben, bereicherte sein Leben.
Die Brüder wuchsen in Eintracht miteinander auf. Ihre Mutter und der Großvater behandelten ihre Kinder mit Respekt und gaben ihr Bestes. Sie achteten die Söhne, aber vor allem liebten sie sie. Die Heranwachsenden mussten nie um die Liebe der Mutter oder des Großvaters buhlen. Sie belohnten die ihnen entgegengebrachte Achtung ihrer Erzieher mit Lebensmut.
David setzte sich an Dominiks Schreibtisch. Seine Seele schmerzte, es stach und bohrte in ihm. Obwohl er im christlichen Glauben erzogen wurde, zweifelte er an einem „Leben“ nach dem Tod. „Nie mehr werde ich Dominik sehen oder mit ihm sprechen“, sprach er gedanklich zu sich. Tränen standen in seinen Augen, als Mary ins Zimmer kam. David wendete sich verlegen zur Seite, denn die Mutter sollte seine Gefühlsaufwallung nicht sehen. Sie bemerkte es dennoch und nahm ihn in ihre Arme. Geteilter Schmerz lässt sich zu jeder Zeit leichter ertragen!
Mary übergab David den eben erst erhaltenen Brief aus Wien. Sie wusste, dass der Brief von Dennis kam, da er aber nur selten schrieb – meist telefonierte er –, fürchtete sie erneut schlechte Nachrichten zu erhalten. Zittrig bat sie David den Brief zu öffnen und vorzulesen. Sie lauschte gespannt auf jedes Wort des Schreibens, und als David zu Ende gelesen hatte, wurde sie nachdenklich. Sie sagte zu ihm: „Meine Söhne sind gute Menschen und verdienen keine Missachtung. Ich muss unbedingt Dennis anrufen, um zu erfahren, warum sie nicht heiraten durften.“ Auch David fand die Tatsche höchst merkwürdig, dass Elisabeths Vormund ihr die Heirat mit Dennis verbot. Er beruhigte seine Mutter mit der Meinung, dass die beiden ohnedies durch nichts und von niemandem zu trennen seien. Er wusste damals nicht, wie sehr er sich irrte.

Die 14tägige Gesellschaft Davids tat Mary gut. Die Gespräche über ihre Pläne, die beiden Häuser zu verkaufen, die Umsiedelung nach Wien von Mary und später eventuell auch von David, halfen den beiden mit der Trauer besser fertig zu werden.
Bevor David wieder seinen Pflichten nachkommen musste, nach Vietnam ins Kriegsgeschehen zu reisen, bemühte er sich seine Mutter mit positiven Aspekten zu beschäftigen. „Mom, denk an den Weihnachtsurlaub in Wien, überlege dir Geschenke für uns, überlege, ob und wann du die Häuser verkaufen willst, und belohne dich endlich selbst“, riet David seiner Mutter. Er selbst erhoffte sich, Ablenkung von der Trauer über den Tod seines Bruders in der Arbeit zu finden. Mit dieser Hoffnung fuhr er zum Flughafen. Mary befahl ihm beim Abschied, mehr als dass sie ihn bat, auf sich aufzupassen, denn den Tod noch eines Sohnes würde sie nicht überleben. Er versprach, es zu tun.

Zurück in der Hölle der tropischen Hitze des Dschungels und des Krieges in Vietnam konzentrierte sich David auf seine Arbeit. Wagemutig filmte er die schlimmsten Szenen des Kriegsgeschehens, stets bestrebt jede Einzelheit in den „Kasten“ zu bekommen. Die Nachrichtensender setzten bei der amerikanischen Regierung endlich durch, dass die Zensur der Berichterstattung durch das Militär aufgehoben wurde, somit durften alle Vorkommnisse, von Journalisten und deren Kameraleuten unzensiert und nicht mehr militärisch geschönt, gezeigt werden. Die schockierenden Bilder sehr junger Soldaten, denen Beine oder Hände von Granatsplittern oder Bomben abgerissen worden waren, durften nicht mehr geheim gehalten werden. Sie gingen um die Welt, wenngleich sie oft erst in den Nachtstunden ausgestrahlt wurden. Die Filme über die Massaker der eigenen Truppen an der unschuldigen Zivilbevölkerung konfiszierte das Militär zunächst, konnte aber die Veröffentlichung nur mehr verzögern.
Die Bilder schockierten, danach war nichts mehr so wie zuvor. Der Glaube an Gerechtigkeit, an Ehrenhaftigkeit, an einer gerechten Hilfe für ein bedrängtes Volk in einem ungerechten Krieg war für immer dahin. Die Mär vom „gerechten Krieg“ gehörte für immer der Vergangenheit an. David nahm sich vor, exakt zu dokumentieren, wie schlimm sich die Zwangsrekrutierung von unerfahrenen 18- bis 25jährigen Burschen auswirkte. Vielen Burschen, die aus Kleinstädten oder Bauernhöfen kamen, waren noch nie verreist, sie hatten Heimweh, oft Depressionen und wünschten nichts sehnlicher als ein Ende dieser Qualen, egal ob sie dabei starben oder mit dem Leben davon kämen. Nur ein Ende des Schreckens sollte es sein. Oft lag er neben einem dieser jungen Männer bei einem Gefecht im Morast und hielt, wenn dieser durch Kugeln oder Splitter getroffen worden war, dessen Hand und sprach ihm Trost zu. Er kannte die ungeheuren Strapazen, die diese Männer ertragen mussten, nur zu genau. Er verstand es voll und ganz, dass sie sich in ihrer Freizeit mit den einheimischen Mädchen einließen. Sie taten es nicht, weil die Mädchen so begehrenswert waren – sie taten es, um nicht alleine zu sein, sich anlehnen zu können, umarmt zu werden, und sie fragten sich, warum sie eigentlich in diesem verdammten Land sein mussten. Viele von den jungen Burschen hatten ihre ersten sexuellen Kontakte mit den Asiatinnen, jenseits von Vernunft und Angst vor Geschlechtskrankheiten. David, beinahe eine Generation älter als die zwangsrekrutierten jungen Männer, saß oft mit einer Gruppe der Burschen in Kneipen und hörte aufmerksam zu, wenn sie sich den Kummer von der Seele redeten. Jedes Mal, wenn er von seinem Heimurlaub zurückkam, fehlten einige in seiner Runde.
Bittere Gedanken begannen, die Herrschaft über sein Ich zu übernehmen. „Nur wahnsinnige Menschen zetteln Kriege an! Aber die meisten der anderen müssen sich von den Wahnsinnigen vereinnahmen lassen, auf Kosten ihrer Jugend. Man übersieht es leicht, im Hintergrund spinnen die mörderischen Militärlobbys die Fäden, die ihre eigenen verqueren Interessen vertreten. Den Tod zahlreicher Menschen nehmen sie mit einem Schulterzucken zur Kenntnis, schamlose Argumente wie „gestorben für das Vaterland“ unter die Untertanen streuend, vom gemeinen Volk Zustimmung für ihr Handeln heischend, igeln sich die Mächtigen in ihrer Traumwelt ein. Toleranz kennen sie nicht, Mitleid mit den Opfern beider Seiten haben sie nicht, Gehorsam vom Volk und vom kleinen Soldaten verlangen sie, Sterben für die Wahrung ihrer Interessen fordern sie. Selbst die Mächtigen jener Völker, die „Freiheit allen unterdrückten Menschen“ und „Nächstenliebe“ auf ihre Fahnen heften, interessieren sich im Grunde nicht für die Leiden der Zivilbevölkerung und der Soldaten. Überleben sie den Wahnsinn, na gut, sterben sie, ist eine letzte Ruhestätte für den Soldaten, zum Helden hochstilisiert, in Arlington oder anderen Gedächtnisstätten für verheizte Soldaten allemal vorreserviert, pathetische Phrasen für die Angehörigen sind inbegriffen“, dachte er.
Obwohl er an fast allen Kriegsschauplätzen der Welt arbeitete und immer dort anzutreffen war, wo es am gefährlichsten war, blieb er unverletzt. Oft hatte er bloß Glück. Es bot sich ihm überall und zu jeder Zeit, wo ein Krieg ausgefochten wurde, das immer gleiche Bild. Bloß die Zerstörungskraft der eingesetzten Waffen hatte sich wieder gewandelt. Zerstörung und Tod leisteten ihm anhängliche Gefolgschaft, nur fand er sich nie so recht damit ab. Die Routine, mit der er die von den Machthabern initiierten militärischen Auseinandersetzungen betrachtete und filmisch dokumentierte, erreichte bald die Grenzen des Erträglichen. Verachtung und Hass für diverse Staatsoberhäupter weltweit, die skrupellos die eigenen Landsleute abschlachten ließen und dabei von ihren bequemen Lehnstühlen aus kommandierten, seine Heimat nicht ausschließend, waren die Folge. Er hielt sich mit der Äußerung dieser Meinung auch nie zurück und die dadurch vorprogrammierten prekären Situationen, in die er immer wieder schlitterte, waren unvermeidbar.

Sei es Bestimmung, sei es Zufall, niemand weiß, warum das Schicksal so bösartig in das Leben eines Menschen eingriff.
David stand die Damenwelt offen. Er konnte wählen unter den Schönen und Klugen, verzettelte sich aber mit der zärtlichen Zuneigung zu seiner Schwägerin in spe. Er kannte die tiefen Gefühle, die Elisabeth und Dennis füreinander empfanden. Er schämte sich, als er sich selbst eingestehen musste, dass er die junge Frau gerne für sich gewinnen mochte. Außer seiner Mutter entdeckte niemand sein Verlangen nach Elisabeth, glaubte er. „Elisabeth und Dennis, vollkommen miteinander verbunden, bemerken nichts von meinen Gefühlen für Elisabeth“, sagte er sich. Gut, er bemühte sich seine Torheit, wie er es nannte, auszumerzen. Paradoxerweise verlangte es ihm mehr denn je nach ihr, je mehr er sich sagte: „Vergiss sie! Sie gehört zu deinem Bruder. Was denke ich eigentlich, warum will ich sie?“ Das Unerreichbare schien ihm begehrenswerter zu sein. Jedenfalls war er Manns genug seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Auf gar keinen Fall wollte er die Familie brüskieren, um letztlich den anderen Bruder auch noch zu verlieren.
Die Urlaube in Wien schätzte er. Die familiäre Bindung, die Nähe zu der jungen Frau, die er heimlich bewunderte und verehrte, lenkten ihn von den Gräueln seines Alltages ab. Auf Dauer in Wien zu leben, das konnte er sich vorstellen!

Das könnte ihnen auch gefallen :

Die dem Schicksal trotzen

Weitere Bücher von diesem Autor

Die dem Schicksal trotzen

Elisabeth Winter

Die Taubenfeder

Die dem Schicksal trotzen

Elisabeth Winter

Die dem Schicksal trotzen

Buchbewertung:
*Pflichtfelder