Regionalkrimi us de Stadt Bade - 1. Fall

Regionalkrimi us de Stadt Bade - 1. Fall

Kaltes Herz

Gabrielle Allmendinger


EUR 15,90
EUR 9,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 204
ISBN: 978-3-99048-278-0
Erscheinungsdatum: 29.10.2015
Aylin Schmid wird ermordet. Wurde sie von ihrer Vergangenheit eingeholt? Da sie ihre Mitmenschen immer nur benutzt hat, gibt es zahlreiche Verdächtige, die als Täter infrage kommen. Urs und Uschi von der Kantonspolizei Aargau in Baden ermitteln.
Montag, 27. August 2012,
Ennetbaden

„Ich habe eine Halbschwester!“ Uschi kann kaum glauben, was ihre Mutter ihr in der letzten Stunde erzählt hat. „Ich fass es nicht!“
Bea hebt den Kopf, schaut ihrer Tochter in die Augen und nickt.
„Und …was hast du Schreckliches getan? Soweit ich das verstanden habe, hat dir diese Aylin, die gestern gestorben ist, deine Tochter geklaut!“ Uschi hält kurz inne: „Du hast sie umgebracht? Ich mein, ich könnte das …“
„Nein!“ Bea erschrickt. „Nein, ich habe sie nicht umgebracht. Nein, bestimmt nicht. Du hast mich heute Morgen angerufen und gesagt, dass Aylin tot aufgefunden wurde. Ich war im ersten Moment wie gelähmt. Dann wartete ich. Ich war der Meinung, dass eine solche Meldung mir irgendwie Frieden geben könnte, denn ich war bis heute Morgen überzeugt davon, dass sie allein Schuld daran hat, dass meine Tochter zur Adoption freigegeben wurde. Und dass sie deshalb auch Schuld hat, was in der Folge alles passiert ist. Dass ich diesen Verlust nie überwunden habe, dass meine Ehe in die Brüche ging, an all dem Schmerz, den ich seit diesem Tag so oft aushalten muss, an meinem ganzen Schicksal.“ Bea zündet sich eine Zigarette an. „Doch dieser Frieden blieb aus. Ich habe heute erkannt, dass ich selber Schuld habe, dass Anna ohne mich und ich ohne sie leben musste. Ich habe zugelassen, dass Anna mir weggenommen wurde. Ich hätte für sie kämpfen müssen. Ich hätte nicht einfach aufgeben sollen und mich zurückziehen. DAS habe ich Schreckliches getan.“
Uschi spürt, dass ihre Mutter die Wahrheit sagt. Sie hat mit Aylins Tod nichts zu tun. Außerdem ist noch nicht abschließend klar, ob Aylin nicht doch verunfallt ist.

„Sie ist nicht zurückgekommen“, fährt ihre Mutter fort.
„Wer ist nicht zurückgekommen?“
Uschi versteht nicht, was ihre Mutter meint. Sie hängt mit den Gedanken an der Tatsache, dass sie eine Halbschwester hat. Sie weiß im Moment nicht, was sie davon halten soll. Obwohl sie selten Mühe damit hat, ihre Gefühle einzuordnen, ist sie sehr verunsichert.
„Nina … Anna, deine Halbschwester.“
„Zurückgekommen? Ich verstehe nicht, was du damit sagen willst.“
„Letzten Freitag hat es bei mir geklingelt. Eine junge Frau stand vor der Tür. Sie stellte sich mit Nina Klein vor und erklärte mir ohne große Umstände, dass ich wohl ihre Mutter sein müsse.“
„Du verarscht mich jetzt!“
„Nein. Ich wüsste nicht, warum ich das tun sollte. Ich wusste sofort, dass diese Nina die Wahrheit sagt. Es war mir sofort klar, dass sie meine Anna ist.“
„Und dann?“
„Natürlich habe ich sie hereingebeten. Ich habe ihr schließlich dein altes Zimmer angeboten.“
„Interessant! Und wann wolltest du mich informieren?“
„Es tut mir leid, Uschi. Ich weiß, dass ich dich sofort hätte anrufen sollen. Doch an diesem Freitag habe ich mit Nina den ganzen Tag nur geredet. Sie hat mir erzählt, dass sie bis vor Kurzem glaubte, das Kind ihrer Eltern zu sein. Sie wusste nichts davon, dass sie adoptiert ist. Sie sei am 15. Dezember 1978 in Obersdorf in Bayern zur Welt gekommen. Hausgeburt. Sie erinnert sich gern an ihre Eltern. Diese waren sehr liebenswerte Menschen. Geschwister habe sie keine. Leider sind ihre Eltern, als sie gerade acht Jahre war, mit dem Auto verunfallt und beide noch an der Unfallstelle gestorben. Sie war damals bei einer Freundin auf einer Geburtstagsparty, als ihre Tante sie dort abholte und ihr dies mitteilte. Die Tante war die Schwester ihres Vaters. Offensichtlich wusste auch sie nicht, dass Nina nicht ihre leibliche Nichte ist. Ihr Bruder und seine Frau hatten damals eine Schwangerschaft vorgetäuscht. Sie war die einzige Verwandte der Kleins und hatte nur losen Kontakt zu ihrem Bruder. Doch nun erklärte sie sich bereit, ihre Nichte bei sich aufzunehmen.“
„Dieses arme Kind!“
„Ja, wirklich. Diese Tante erwies sich schließlich als wahres Biest. Sie hatte selber zwei Kinder, welche jedoch einige Jahre älter waren als Nina. Ihr Mann war früh gestorben und Nina hatte sie vor allem deshalb aufgenommen, weil sie dadurch ein kleines zusätzliches Einkommen hatte. Sie hat keinen Hehl daraus gemacht, dass sie Nina als Belastung empfand. Nina hatte in dieser Zeit nicht viel zu lachen. An ihrem 18. Geburtstag hat sie ihren Rucksack gepackt und ging weg. Sie lebte danach einige Zeit in München. Erst auf der Straße, doch dann fand sie eine Anstellung im Service. Sie hat mit zwei Kolleginnen, die sie kennengelernt hat, eine Wohnung mieten können. Ihr Chef war sehr zufrieden mit ihr und sie durfte eine Ausbildung zur Köchin absolvieren. Mit achtundzwanzig lernte sie einen Mann kennen und bezog mit ihm schließlich eine Wohnung in Kempten, weil sie dort eine gute Anstellung als Köchin im Parkhotel fand. Doch dieser Mann war eine Enttäuschung. Er hat sie betrogen und im Wesentlichen von ihrem Geld gelebt. Sie schmiss ihn raus und lebt seither alleine. Zu ihrer Tante hatte sie keinen Kontakt mehr. Doch mit ihrer Cousine Daniela, der älteren Tochter ihrer Tante, pflegte sie einen losen Briefwechsel. Diese war es schließlich auch, die sie vor zwei Jahren besuchte, mit zwei Kartons, welche sie Nina mitbrachte. Ihre Tante war gestorben und beim Räumen des Hauses haben ihre Kinder diese beiden Kartons gefunden, welche seit damals, als Ninas Eltern starben, auf ihrem Speicher gelagert waren. Nina ließ die beiden Kartons erst mal ungeöffnet liegen.“

Bea hält inne. Es fällt ihr sehr schwer, sich mit dieser ganzen Geschichte auseinanderzusetzen. Sie hat nun all die Jahre viel Kraft aufgewendet, dieses dunkle Geheimnis in ihrem Leben zu vergessen und nun holt sie alles ein. Erst erscheint ihre verlorene Tochter bei ihr zu Hause und drei Tage später wird Aylin tot aufgefunden. Die Ereignisse überschlagen sich und Bea spürt, dass sie damit überfordert ist. Doch sie weiß auch, dass es nun an der Zeit ist, sich diesen Tatsachen endlich zu stellen.
„Alles gut bei dir?“ Uschi merkt, dass ihre Mutter Mühe hat.
„Nein, gut ist es nicht. Doch ich kann die Augen vor der Wahrheit nicht länger verschließen. Das habe ich schon zu lange gemacht.“
„Und wie hat Nina dich gefunden?“
„In einer dieser Kisten, welche verschiedene Spielsachen, Fotoalben und Erinnerungen enthielten, fand sie ein gewobenes Tuch, schmutzig und ausgefranst. Sie entfaltete es und ein kleiner Zettel fiel heraus.“

Bea steht auf und geht durch das Esszimmer in die Küche. Sie kommt zurück und streckt Uschi einen kleinen, zerknitterten Zettel hin.

AZRA SOLAK BOZAT steht darauf. Bea setzt sich wieder und schenkt Wein nach. Während sie eine Zigarette anzündet, erzählt sie weiter: „Nina konnte sich keinen Reim darauf machen. Sie legte das Tuch und den Zettel weg und vergaß es erst einmal. Beim Aufräumen ist ihr dieser Zettel ein Jahr später wieder in die Hände gefallen. Sie begann, die Wörter zu googeln und kam immer wieder auf türkische Interneteinträge. Sie wusste nicht, was das zu bedeuten hat und zeigte diesen Zettel irgendwann später einer türkischen Kollegin. Schnell fand sie dann heraus, dass es sich um einen Vor- und Nachnamen und eine Ortschaft handelte. Nach verschiedenen Abklärungen, welche jedoch nichts gebracht haben, reiste sie schließlich diesen Frühling in die Türkei und fand den Bauernhof, auf dem sie geboren wurde. Azra lebte nicht mehr. Doch Ada, die kleine Tochter, erkannte in Nina sofort mich. Sie erzählte ihr bereitwillig von unserem Aufenthalt dort und dass sie sich gefreut hatten, dass das Kind bei seiner Mutter bleiben durfte. Ada habe sich sehr über den Besuch von Nina gefreut. Sie hat dann auch Ali kennengelernt, der von Aylin und mir erzählte, und dieser konnte sich erinnern, wie mein Nachname war. Dass ich aus der Schweiz kam, wusste er ja auch und auch, dass ich in Nussbaumen wohnte.“
„Wow – das muss für sie ja ein Schock gewesen sein!“
„Ja, natürlich war das ein Schock für sie. Doch sie ist gut damit umgegangen. Sie ist so praktisch veranlagt wie du.“
Uschi hat immer gemeint, dass ihre Bodenständigkeit vor allem damit zusammenhängt, dass sie schon früh eigenverantwortlich handeln musste. Ihre Mutter hat sie immer als „verzückt, entrückt“ erlebt. Sie hat zwar für Uschi gesorgt und nach der Scheidung ging sie auch selber arbeiten, doch Uschi spürte, dass sie ihre Mutter nicht mit Problemen belasten konnte. In der Pubertät hat sie sich oft eine stärkere Mutter gewünscht und sie hat deswegen viel geweint. Sie musste immer stark sein für beide. Manchmal tauchte ihre Mutter mehrere Tage in ein Tief und es gab keine Möglichkeit, an sie heranzukommen. Ihr Vater hatte ihr vor etwa sieben Jahren, nachdem sie ihn darauf angesprochen hatte, erzählt, warum er sich scheiden ließ. Er hatte keinen Zugang mehr zu seiner Frau gefunden. Er hing noch immer an ihr, doch er konnte nicht mehr mit ihr leben. Es sei ihm schwergefallen, loszulassen. Doch er habe dies als einzige Lösung gesehen.
„Sie ist also am Freitag zu dir gekommen. War sie am Samstag, als ich dich abholte, hier?“
„Ja.“
„Ach, deshalb wolltest du erst nicht mitkommen? Und hattest Kopfschmerzen!“
„Tut mir leid, Uschi. Ich wollte es dir sagen, doch ich getraute mich nicht. Ich war so durcheinander. Ich war völlig angespannt.“
„Und hast deshalb nach dem Konzert am Samstag Entspannung gesucht. Jetzt wird mir alles klar und das macht jetzt auch Sinn. Ich habe dich selten so erlebt wie am Samstag und mich etwas über dich gewundert.“
„Ich habe am Samstag mit Nina abgemacht, dass ich es dir erzählen werde. Sie war oben, als du vorbeikamst. Sie hat die ganze Nacht auf mich gewartet und war noch wach, als ich nach Hause kam. Ich habe ihr dann sagen müssen, dass ich es nicht geschafft habe, es dir zu sagen. Sie bot mir an, dieses Gespräch selber mit dir zu führen, doch ich lehnte ab. Wir vereinbarten, dass ich es dir im Laufe dieser Woche selber erzählen werde.“
„Da muss mein Anruf heute Mittag ja fast wie ein Fingerzeig für dich gewesen sein!“
„Ja, es war ein schrecklicher Tag.“
„Und wo ist Nina jetzt?“
„Das weiß ich eben nicht! Das macht mir auch große Sorgen. Sie ist gestern Abend, so um neunzehn Uhr, nach Baden gefahren. Ich habe ihr erzählt, dass ich am Samstag Aylin gesehen habe auf der Badefahrt …“
„Ach ja? Wo denn?“
„Am Cordulaplatz, bei der Bodega Bar.“
„Aha.“
„Ja – jedenfalls ist sie gestern Abend losgezogen. Nina fragte mich nach Adoptionspapieren, doch ich konnte ihr leider nicht weiterhelfen. Ich habe ihr gesagt, dass vielleicht Aylin etwas wüsste und eben, dass ich sie in Baden gesehen habe. Es sah so aus, als wäre das ihr Stammbeizli gewesen. Sie war dort mit vielen Kolleginnen und Kollegen.“
„Und Nina zog los und wollte Aylin treffen? Auf der Badefahrt? Ohne genau zu wissen, wie sie aussieht?“ Uschi spürt, dass sie sich zu ärgern beginnt. Offensichtlich ist ihre Halbschwester nicht praktisch veranlagt, sondern genauso arglos wie ihre Mutter.
„Ja. Ich hatte ihr ein Bild von mir und Aylin gezeigt, als wir noch jung waren …“
„Das tönt für mich etwas komisch, sorry. Wäre es nicht einfacher gewesen, sie zu Hause aufzusuchen?“
„Natürlich! Nina wollte das tun, gleich heute. Doch gestern Abend, wir haben auch den ganzen Sonntag mit Gesprächen verbracht, meinte sie, dass sie noch etwas raus und ein wenig allein sein wolle. Das konnte ich gut verstehen. Sie sagte, dass sie mal bei diesem Beizli vorbeischaue und vielleicht entdecke sie ja Aylin dort und vielleicht könne sie sie dann auch auf die Adoptionspapiere ansprechen.“
„Das sind für mich etwas viele Vielleichts …“
„Na ja, jedenfalls sorge ich mich jetzt sehr. Es ist inzwischen zwanzig Uhr und sie ist noch nicht zurückgekommen. Ich hoffe, es ist ihr nichts passiert.“
„Hast du versucht, sie anzurufen?“
„Ja – mehrmals. Doch ihr Handy hat wohl keinen Akku mehr.“

In diesem Moment kommt eine junge Frau um die Ecke und steuert direkt auf den Sitzplatz zu. Sie trägt einen großen Koffer bei sich und Uschi ist völlig klar, weshalb ihre Mutter keinen Grund hatte, daran zu zweifeln, dass Nina Anna ist. Diese junge Frau ist ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten.

„Hallo Nina … Wo warst du?“ Bea steht auf und geht auf Nina zu.
„Ach Bea, ich habe alles falsch gemacht!“ Nina ist aufgelöst und beginnt zu weinen. „Ich habe diese Frau getötet!“
„Was hast du? Komm setz dich zu uns.“ Bea nimmt Ninas Hand und führt sie zum Stuhl neben Uschi.
„Ich habe Aylin getötet. Aber es war keine Absicht! Es war ein Unfall!“
„Nein!“, schreit Bea auf und hält sich die Hände vors Gesicht.
Jetzt mischt sich Uschi ein: „Ich bin Uschi … Du hast bestimmt schon von mir gehört. Was ist passiert?“
„Ich ging gestern Abend nach Baden.“ Nina hat sich wieder gefasst, während Bea in sich zusammensinkt und nur noch ungläubig den Kopf schüttelt. Bea gehen hundert Gedanken durch den Kopf und sie kann nicht fassen, was sie eben gehört hat.
„Und du hast Aylin gefunden?“, fragt Uschi.
„Nein – eigentlich hat sie mich gefunden. Ich bin durch die Stadt gelaufen und hab’ mir alles angesehen. Ich suchte etwas Ablenkung und brauchte etwas Zeit für mich. Ich ging nicht davon aus, diese Aylin wirklich zu finden, doch der Spaziergang durch die Stadt hat mir gutgetan. Ich bin schließlich bei diesem Theater …“
„Kurtheater …“
„Ja, ich glaube, so heißt es. Ich bin schließlich da gelandet und fühlte mich etwas besser. Also beschloss ich, zurück zum Bahnhof laufen, um mit dem Bus wieder nach Ennetbaden zu fahren. Es war etwa einundzwanzig Uhr. Auf der Höhe des Casinos sprach mich eine elegant gekleidete Frau an. Sie schien erstaunt zu sein, mich zu sehen und fragte, ob wir uns kennen. Ich habe in ihr nicht gleich Aylin erkannt. Sie trägt ihr Haar kurz und hat nicht mehr viel Ähnlichkeit mit dem Mädchen, das ich auf dem Foto gesehen habe. Also verneinte ich und lief weiter. Kann ich bitte ein Glas Wasser haben?“
Uschi sieht, dass ihre Mutter noch immer in Gedanken versunken ist. Dieses Verhalten kennt Uschi. Wenn die Realität für ihre Mutter zu schwierig wird, blendet sie alles, was um sie geschieht, einfach aus. Sie sitzt teilnahmslos auf ihrem Stuhl und starrt ins Leere. Uschi steht auf, holt ein Glas Wasser und fragt: „Und dann?“, während sie das Glas vor Nina hinstellt.
„Danke. Ich lief weiter Richtung Bahnhof. Diese Frau ist mir aber nicht mehr aus dem Kopf gegangen und ich überlegte, warum sie mich angesprochen hat. Nach kurzem Nachdenken wusste ich, dass dies Aylin gewesen sein muss. Sie hat mich wohl angesprochen, weil sie in mir meine Mutter sah – ich war am Freitag, als ich … unsere … Mutter das erste Mal sah, selber erstaunt, wie sehr ich ihr gleiche.“
„Ja, das stimmt wirklich. Aber was ist dann geschehen?“ Uschi brennt darauf, Ninas Geschichte zu hören. Sie muss wissen, wie es zu diesem Unfall gekommen ist.
„Ich lief also bis zum Ende des Stadtparkes weiter Richtung Bahnhof und entschied mich dann aber zurückzugehen und Aylin zu treffen. Doch ich konnte sie nicht gleich wiederfinden. Ich bin etwa zwanzig Minuten im Stadtpark auf und ab gelaufen und habe Ausschau gehalten, doch ich habe sie nicht mehr gesehen. Es war auch schon dunkel und ich brach meine Suche ab und lief zurück. Im Augenwinkel nahm ich dann ein Paar wahr, dass sich offensichtlich stritt. Ich drehte automatisch meinen Kopf und sah, wie diese Aylin auf einen Mann einredete. Was sie gesagt hat, hab’ ich nicht verstehen können. Ihre Stimme klang jedoch verärgert und sie fuchtelte mit den Händen herum. Die beiden standen etwas abseits unter den Bäumen im Park. Ich habe sie eine kurze Weile beobachtet. Dann ging Aylin weg und der Mann blieb zurück. Er spuckte auf den Boden, schüttelte den Kopf und verließ den Park wenig später ebenfalls in Richtung Innenstadt. Ich folgte ihm.“
Nina schaut Richtung Bea: „Geht es dir gut?“ Bea reagiert nicht auf Ninas Frage. Nina schaut Uschi fragend an.
„Es ist okay“, sagt Uschi. „Mam hatte einen schweren Tag. Sie muss sich etwas erholen.“ Und zu ihrer Mutter gewandt: „Mam, möchtest du dich etwas hinlegen? Du bist ganz bleich im Gesicht …“
Jetzt schaut Bea auf. „Nein, es geht. Danke. Sprich nur weiter Nina, ich höre zu.“
„Ich bin also auch Richtung Innenstadt gelaufen. Der Mann ist Aylin gefolgt bis zu dem Platz vor dem einem großen Geschäft, Manor heißt es wohl, und dort ist er rechts abgebogen. Er verschwand in einer Unterführung. Ich blieb kurz stehen und schaute ihm nach. Er war wohl sehr betrunken, denn er torkelte. Er trug einen beigen Anzug, wirkte auf mich aber trotzdem irgendwie ungepflegt. Dann drehte ich mich um und wollte zurückgehen, als ich Aylin wiedersah. Sie lief eben durch das Stadttor. Kurzerhand folgte ich ihr. Es waren sehr viele Menschen auf der Straße und gleich hinter dem Stadttor türmte sich ein hohes Gebilde, Palazzo irgendwas …, dort habe ich sie wieder verloren. Ich lief weiter geradeaus und überlegte, ob ich wieder umkehren soll. Ich war inzwischen an einer Bushaltestelle angelangt. Doch genau in diesem Moment sah ich sie wieder. Sie muss auf einer Parallelstraße gelaufen sein, denn ich sah sie durch eine Querstraße vor einer dieser kleinen Hütten … Beizli?“
„Ja, Beizli“, bestätigt Uschi. „Du hast sie wahrscheinlich am Cordulaplatz gesehen.“
„Bei der Bodega … Dort sah ich sie am Samstag ja auch.“ Bea hat wieder etwas Farbe im Gesicht und steht auf. „Ich hole uns etwas Kleines zu Essen aus der Küche. Sprich nur weiter Nina, ich höre dich …“
Uschi wird langsam ungeduldig: „Du hast gesagt, du hast sie … getötet …“ Es fällt ihr schwer, dieses Wort in Zusammenhang mit der jungen Frau, die ihre Halbschwester ist und die sie noch keine halbe Stunde kennt, zu benutzen. Sie denkt an die blonden Haare, die sie bei der Leiche gefunden haben, und ahnt, dass dies Ninas Haare sind. „Wie ist das passiert?“
„Ja, ich habe sie also wiedergesehen. Ich schlich mich in die Nähe dieser Bar. Es hatte kurz zuvor etwas geregnet, weshalb sie wohl im Restaurant hinter dem Beizli verschwand. Kurz darauf kam sie mit vier Herren wieder heraus. Sie hielten Getränke in der Hand und stellten sich um einen Bistrotisch. Aylin nahm eine Zigarette in den Mund und einer dieser Herren gab ihr Feuer. Was sie miteinander gesprochen haben, habe ich wieder nicht verstehen können. Doch die Stimmung war sehr ausgelassen und es wurde viel gelacht. Einer der Herren schien etwas ernster zu sein und hat sich auch etwas von der Gruppe entfernt, um zu telefonieren. Nach weiteren fünf Minuten zog sich Aylin ins Restaurant zurück und kam kurze Zeit später wieder an den Tisch. Ich überlegte mir, jetzt zurückzugehen und Aylin zu Hause aufzusuchen, um sie wegen möglicher Adoptionspapiere zu fragen. Ich sah keine Veranlassung, sie deswegen auf diesem Fest zu stören. Also bog ich in eine ganz schmale Gasse ein, welche Richtung Stadttor führte und von der Aylin gekommen sein musste. Im Gegensatz zu den vielen Menschen auf der breiten Straße, die ich genommen hatte, gab es hier nicht viele Spaziergänger. Ich war fast alleine unterwegs in dieser Gasse. Dann nahm ich Schritte hinter mir wahr.

Der Ton der Absätze auf den Pflastersteinen kam näher und schließlich überholte mich Aylin. Sie lief schneller als ich und sie war leicht nach vorne gebeugt beim Gehen. Eine Hand hielt sie um ihren Hals. Ich rief ihren Namen und sie blieb sofort stehen und drehte sich zu mir um. Nun standen wir uns gegenüber und schauten uns in die Augen. Eine gefühlte Ewigkeit sprach keiner von uns ein Wort, bis ich einfach sagte Hallo Aylin, ich bin Nina, die Tochter von Bea. Sie kam noch einen Schritt auf mich zu und starrte mich an. Sie sagte kein Wort. Sie atmete tief und ich hatte das Gefühl, dass ihr etwas auf den Magen geschlagen ist. Endlich meinte sie: Aha, du hast sie gefunden! Ich fragte sie, ob es ihr gut gehe, denn sie wirkte auf mich nicht so gesund. Sie fühle sich nicht besonders und habe komische Halsschmerzen, deshalb gehe sie jetzt nach Hause. Sie bat mich, sie bis zum Casino zu begleiten. Dort hatte sie ihr Auto parkiert.
Wir liefen also gemeinsam weiter und ich erzählte ihr, wie ich Bea gefunden hatte. Sie hörte nur zu und sagte kein Wort. Vor dem Lift in die Casino-Garage blieben wir dann stehen. Nun fragte ich sie, ob sie wisse, woher ich meine Adoptionspapiere bekommen könnte. Bea wisse nichts über solche Papiere. Sie habe lediglich etwas unterschrieben, aber keine Unterlagen bekommen. Kaum hatte ich das gesagt, lachte Aylin hysterisch und meinte etwas lallend, ich glaube, sie hat etwas viel getrunken: Dieses Dummerchen! Natürlich weiß sie nichts! Du wurdest ja auch nicht adoptiert, mein Schatz, du wurdest verkauft! Mein Bruder hatte Spielschulden und er brauchte das Geld. Auch die Familie, die uns beherbergte, tat dies nicht ohne Bezahlung. Deine naive Mutter war leicht zu täuschen.“ Nina versucht, Aylins Stimme nachzumachen und Uschi kann sich leicht ein Bild davon machen, wie herablassend und verächtlich Aylin gesprochen hat.

Bea kommt in diesem Moment aus der Küche zurück. Der Teller mit Aufschnitt und gekochten Eiern, den sie mitbringt, fällt scheppernd zu Boden. „Was?“, schreit Bea ungläubig. Sie beginnt zu wanken und Uschi springt auf, um sie zu stützen. „Verkauft!“ Bea setzt sich auf den Stuhl und atmet tief.
„Das ist unglaublich! Was meint sie mit verkauft?“ will Uschi wissen.
„Ja, verkauft. Ich konnte das erst nicht glauben. Doch sie erzählte, wie sie alles mit ihrem Bruder geplant hatte, schon bevor ihr in die Türkei aufgebrochen seid. Dabei lachte sie hämisch machte sich über uns lustig. Das ist eine scheußliche Frau. Irgendwann konnte ich ihr Lachen nicht mehr ertragen. Ich gab ihr eine zünftige Ohrfeige. Sie lallte nur: Wie deine Mutter! und wandte sich von mir ab. Ich war so wütend! Ich habe sie von hinten am rechten Arm gepackt. Sie drehte sich um und stieß mich weg. Dabei machte sie ein Geräusch, wie wenn man eine lästige Fliege vertreibt. Ich packte sie nochmals und sagte ihr, dass sie jetzt nicht einfach gehen könne. Sie provozierte mich noch mehr und griff mir in die Haare. Da schubste ich sie und sie verlor das Gleichgewicht. Wir standen nun etwas seitlich des Liftes. Sie fiel hin und rollte eine kleine Böschung hinab.

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