Pestilenz

Pestilenz

Unser langer Weg mit den Seuchen

Elisabeth Brandt


EUR 23,90
EUR 19,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 382
ISBN: 978-3-99131-740-1
Erscheinungsdatum: 07.12.2022
Infektionskrankheiten begleiten uns seit der Menschwerdung. Fatale Seuchen traten erst mit Sesshaftigkeit und Tierhaltung regelmäßig auf. Dieses Buch zeigt einleuchtend, warum für unsere globale Gesellschaft Pandemien heute gefährlicher denn je zuvor sind.
Prolog

„Die Krankheiten wandern hin und her, so weit die Welt ist, und bleiben nicht an einem Ort. Will einer viele Krankheiten erkennen, so wandert er auch – wandert er weit so erfährt er viel und lernt viel kennen.“ Paracelsus (1493–1541)

Die karge Mansarde ist eiskalt und die junge, bleiche Frau zittert so stark, dass das Publikum auch schon fröstelt. Ihr Geliebter muss sie stützen, während er zärtlich versichert, sie sei schön wie die Morgenröte. Das Kompliment ist zu dick aufgetragen, seine Liebste seufzt im lyrischen Sopran, er meine wohl den Sonnenuntergang. Dem Zuschauer schwant, es geht zu Ende. Opernfreunde erkennen den Zweigesang, in dem die todkranke Mimi und ihr Rodolpho tränenreich Abschied voneinander nehmen. Mit seiner überirdisch schönen Musik machte Giacomo Puccini in seiner Oper La Bohéme die verblassende Stickerin unsterblich, auch wenn sie laut Libretto gerade der Tuberkulose erliegt. Wie Mimi hauchten und husteten damals viele Menschen ihr Leben aus, weil sie von Schwindsucht zerfressen wurden. Weil Puccini und viele andere das Dahinschwinden an der garstigen Infektion ästhetisch aufwerteten, unterschätzen wir, welch unendliches Leid die Seuche verursacht. Bis heute bringt sie Jahr für Jahr 1,5 Millionen Menschen einen qualvollen Tod, ganz ohne Soundtrack. Puccinis Oper zeigt klangvoll, warum die Heimsuchung Seuche sich nicht auf Erreger, Symptome und Krankheitsverläufe reduzieren lässt. Genau darum geht es in dem vorliegenden Buch, ich möchte das Ur‑Trauma Plage mit all seinen Facetten und Komplexitäten betrachten. Als Anthropologin bewege ich mich dabei im Grenzbereich zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. In meinem Fach nutzen wir Erkenntnisse aus vielen Disziplinen, um die Wirklichkeit der Menschen in geschichtlichen und vorgeschichtlichen Zeiträumen zu erforschen. Auch wie der Mensch sich entwickelt und dabei seine Umwelt verändert hat, interessiert meine Zunft. Ebenso haben natürlich auch Ökosysteme ihre Bewohner geprägt, nicht zuletzt durch Epidemien. Was Sie erwartet, ist ein Zeitreiseführer, eine Tour durch die lange Geschichte der Plagen, Seuchen und Pandemien. Wie in jedem Fremdenführer werden wichtige Schauplätze, Ereignisse und Traditionen beschrieben, um anschaulich den Horizont zu erweitern. Ich möchte Sie verständlich und ansprechend über ein elementares Thema informieren, das sich durch die gesamte Menschheitsgeschichte zieht. Meine Erzählung reichere ich nicht nur durch viele Fakten an, sondern auch durch ein buntes Gemisch aus Anekdoten und Lebensläufen. Hin und wieder kommen auch Zeitzeugen zu Wort, wie zum Beispiel Sir Arthur Conan Doyle, der mal als Arzt, mal in Gestalt seiner Schöpfung Sherlock Holmes zum Leser spricht. Wie jeder gute Reiseführer soll Ihnen mein Buch Lust auf unser Reiseziel machen. Klar, Plagen und Seuchen sind auf den ersten Blick nicht gerade verlockende Destinationen. Bei näherem Hinschauen findet der Reisende aber viel Staunenswertes auf seiner Tour entlang der Spur der Naturgewalt Infektionskrankheit, die uns bis in die Gegenwart entscheidend prägt. Ich will Sie neugierig darauf machen, wie Menschen früher mit Masseninfektionen umgegangen sind. Lebensumstände und Zeitgeist einer Epoche lassen sich nicht einfach ausgraben oder nachlesen. Lange hinterließen nur gekrönte Häupter und andere Promis schriftliche Spuren. Wie es der Masse während einer Seuche erging, muss anhand eines Puzzles aus kurzen Randnotizen oder Kirchenbüchern, sowie aus archäologischen und anderen Indizien mühsam rekonstruiert werden. Welche Folgen hatten frühere Pandemien für unsere Vorfahren? Wie hat sich unsere Wahrnehmung von Seuchen geändert? Es gibt viele Parallelen, aber auch ein paar entscheidende Unterschiede zur aktuellen COVID‑19 Pandemie. Kurt Tucholsky regt an, der Enge der Zeit durch das Studium der Geschichte zu entfliehen, ähnlich wie Reisende die heimatliche Beschränktheit erst in fremden Ländern begreifen. Heute beherrscht die Corona Krise unsere Wirklichkeit, durch den Vergleich mit anderen epidemischen Katastrophen können wir dieser Tyrannei durch SARS-CoV‑2 entkommen. Ein Streifzug durch vergangene Plagen-Epochen hilft, das gegenwärtige Pandemie-Trauma einzuordnen und relativiert so manche Verschwörungstheorie, versprochen. Und da geht noch mehr: auf unserer historischen Sightseeing-Tour sehen wir, wie Umwelt, Infektionen und unser Verhalten zusammenhängen und erkennen, welche Konsequenzen das im Hier und Jetzt für uns hat. Als ob Vergangenheitsanalyse und Gegenwartsverständnis nicht genug wären, bereitet uns dieses Buch auch auf die Zeit nach Corona vor. Da stehen nämlich, nach Meinung von Pandemie-Experten, ein paar wichtige Entscheidungen an, wenn wir die nächste Pandemie vermeiden wollen.



Einleitung

Wie für Reiseführer üblich, beginnt auch mein Zeitguide mit einer Auflistung wichtiger Vokabeln in der Landessprache. Anstelle von „merci“, „buenos dias“ oder „arrividerci“ klären wir ein paar wissenschaftliche Begriffe mit Seuchenrelevanz. Dann brechen wir auf, ganz früh in der Morgendämmerung der Menschheit. Die Tour beginnt mit einer Einführung in das Woher und Warum von Epidemien, gefolgt von einigen Beispielen zur Seuchenentstehung und ‑ausbreitung, um der blassen Theorie Farbe zu verleihen. Dem folgt eine Exkursion in das Reich der Methoden und Quellen, die Wissenschaftlern helfen, die Plagen-Historie möglichst detailgetreu zu rekonstruieren. Hierfür wechseln wir das Genre und begeben uns in die morbid-makabre Welt des Krimis. Danach beginnt das eigentliche Sightseeing, und zwar in der Frühgeschichte. Wir besuchen spektakuläre Plagen-Schauplätze in der Steinzeit und sehen, wie Ur‑Seuchen Geschichte machten. Weiter geht es in das Schriftzeitalter, wo wir zum ersten Mal mit Epidemiezeugen sprechen können, wenn auch über die Distanz vieler Jahrtausende. Die Mediziner der Antike sind da schon sehr viel beredeter und haben schockierend moderne Ansichten zum Thema Seuche. Dagegen wirkt die mittelalterlich-spirituelle Denke betreffs Plagen und anderer Leiden befremdlich, auch wenn die Epoche bei genauerem Hinschauen nicht durchweg so düster war, wie ihr Ruf. Die Neuzeit erweist sich dagegen als das eigentliche Plagenzeitalter, aber das sehen Sie sich besser vor Ort an. Während der Industrialisierung und Kolonialzeit boten sich wandelnde Gesellschaften den Seuchen ideale Biotope, besuchen Sie die malignen Habitate von Armen, Auswanderern und Arbeitern. Werden Sie dann Zeugen eines Science-Thrillers über den Kampf der ersten Mikrobiologen gegen die tödlichsten Übel ihrer Zeit. Eine wichtige Epoche also, die Sie keinesfalls auf Ihrer Besichtigungstour auslassen sollten. Schon sind wir bei unserem letzten Stopp in der Moderne. Verfolgen Sie, wie eine Revolution uns scheinbar von dem archaischen Fluch Seuche erlöste. Verlassen Sie Ihre Komfortzone, um zu entdecken, wo und warum all die neuen Infektionen entstehen, die uns plagen. Sehen Sie, weshalb die vielen Alarmzeichen für eine Rückkehr des Übels Epidemie von unserem Kulturkreis ignoriert wurden.
Die vielen Eindrücke unserer Zeitreise vernetze ich ab dem vierten Teil des Buches. Dafür werden die historischen Schnappschüsse unserer Rundreise zu einer stimmigen Kollage zusammengefügt. Zunächst erfahren wir mehr über die Ursachen von Seuchen in Natur und Kultur. Dann blicken wir auf die durchreisten Epochen zurück, fassen die Auswirkungen von Seuchen auf die Menschheitsentwicklung zusammen und vergleichen sie mit dem aktuellen Ungemach. Machen Sie sich an dieser Stelle auf ein paar überraschende Einsichten gefasst. Um nicht ganz trübsinnig zu werden, verfolgen wir nun den Kampf gegen Seuchen von den vormenschlichen Anfängen bis zur hochtechnisierten Apparatemedizin. Eigentlich eine tolle Erfolgsstory, aber auch die hat dunkle Seiten, sehen Sie selbst.

Zum Schluss unserer Tour analysieren wir gemeinsam mit Experten die COVID‑19 Pandemie. Das epidemiologische A-Team gibt uns zum Ausklang auch gleich Ratschläge für eine bessere globale Seuchenresilienz.




Teil 1

Von der Gottesstrafe zur Pandemie
vom (Aber-)Glauben zur Wissenschaft



Was ist Was?

Wir alle haben während der vergangen Monate Erfahrung mit dem Begriffswirrwarr um die aktuelle Pandemie gemacht. Mal wird von dem Coronavirus, mal von SARS-CoV‑2 gesprochen, mal von COVID‑19, Epidemie, Pandemie, Inzidenzwert … Eine Flut von Fachbegriffen prasselt auf uns ein. Der Volksmund vereinfacht, verfremdet und nimmt alles mit einer Prise Humor. So entstehen verbale Kostbarkeiten wie Nuschelmuschel oder Schnutenjardine als Spitznamen für den Mundschutz. Verschwörungsfans reden von einer Plandemie und selbst in öffentlich-rechtlichen Nachrichten werden die Begriffe Ausganssperre, Ausgangsbeschränkung oder Lockdown achtlos durcheinandergeworfen. Da fällt es leicht zu verstehen, dass auch frühere Gesellschaften für viele Krankheiten denselben Namen und viele Namen für dieselbe Krankheit gebrauchten. Dies umso mehr, als auch Ärzte wenig über Ursachen und Symptome von Krankheiten wussten und sie nicht eindeutig bestimmen konnten (1; 2).
Seuchen waren einstmals, wie andere Naturkatastrophen auch, ein scheinbar unerklärlicher Schicksalsschlag. Die Angst vor der unbegreiflichen Bedrohung führte zu Narrativen, die dem Leid einen Sinn geben sollten. Naheliegend war die Deutung einer Plage als Gottesstrafe (3; 4), unschön wurde es, wenn Sündenböcke gesucht wurden. Die fantasievollen Begründungen für viele „Strafaktionen“ an Minderheiten in betroffenen Gesellschaften erinnern fatal an moderne Verschwörungstheorien.
Die Wissenschaft hat Seuchen entmystifiziert. Man kennt ihre Ursachen, kann sich besser davor schützen und Krankheiten wirkungsvoll therapieren. Für den Laien sind die Zusammenhänge aber nach wie vor schwer zu verstehen, besonders bei einer Pandemie wie COVID‑19, deren Opfer für die breite Öffentlichkeit erst sichtbar werden, wenn die Lage völlig außer Kontrolle gerät. Der Fachjargon der Experten trägt dabei wenig zur Aufklärung bei. Fundierte Erklärungen für die komplexe Seuchendynamik werden oft nur von Wenigen verstanden und von Vielen nicht angenommen.
Um mehr Klarheit zu schaffen, möchte ich darum das Begriffschaos ein wenig ordnen, auch um Missverständnisse zu vermeiden. Deshalb erkläre ich zunächst die gängigsten Begriffe in Zusammenhang mit Infektionskrankheiten.


Allgemein:

Plage
Ist abgeleitet vom griechischen Verb „plaga“ für Schlag oder Hieb. Das Wort steht für eine Strafe des Himmels, Krankheit, Leid aber auch Missgeschick, Sklaverei oder Not.

Seuche
Eine ansteckende Infektionskrankheit, die sich schnell ausbreitet.

Epidemie
Eine ansteckende Infektionskrankheit, die zeitlich und örtlich begrenzt vermehrt auftritt.

Endemie
Eine ansteckende Infektionskrankheit, die örtlich begrenzt ständig auftritt.

Pandemie
Eine Infektionskrankheit mit hohen Erkrankungszahlen, die weltweit neu aber zeitlich begrenzt auftritt. Pandemien sind in der Regel mit schweren Krankheitsverläufen verbunden.

Mortalität
Kann als „Sterblichkeit“ übersetzt werden. Die Mortalitätsrate benennt den Anteil der Individuen der Gesamtpopulation, die an einer Krankheit sterben, bzw. die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Individuum der Population an der Krankheit sterben wird.

Letalität
Kann man als „Tödlichkeit“ einer Krankheit übersetzen. Letalität/Letalitätsrate bezeichnet den Anteil der erkrankten Infizierten, die durch eine Infektionskrankheit sterben, beziehungsweise mit welcher Wahrscheinlichkeit Erkrankte durch eine Infektion sterben.

Morbidität
Bezeichnet, wie viele Individuen einer Population in einem definierten Zeitraum nach einer Infektion mit einem bestimmten Erreger erkranken.

Zoonose
Ist ein Kombiwort aus den griechischen Vokabeln „zoon“ (Lebewesen) und „nosos“ (Krankheit). Der Begriff beschreibt tierische Infektionen, die auf den Menschen überspringen. Bei manchen Infektionen erfolgt die Ansteckung immer nur von Tier zu Mensch, wie bei Tollwut, Milzbrand oder dem schrecklichen Rinderwahn. Manche Keime werden nach der Ansteckung an einem Tier auch zwischenmenschlich weitergegeben, aber selten, weshalb Epidemien meist nur kurz aufflammen. Eine tragische Ausnahme ist die Ebola-Epidemie von 2013 in Westafrika. Es gibt auch Mikroorganismen, die sich bei Mensch und Tier mehr oder weniger gleich gut ausbreiten, wie zum Beispiel die Schlafkrankheit. Einige Erreger haben sich ganz auf den Menschen spezialisiert und lösen Klassiker wie Malaria, Masern und Syphilis aus (5).

Arbovirale Krankheiten (arthropod-born-viruses)
Werden von Viren ausgelöst, die Insekten und anderen Gliederfüßlern (Arthropoden) als Zwischenwirte, sozusagen Shuttles benutzen.

Infektion
Eindringen eines krankheitsauslösenden Organismus.

Infektiös
Kann man als ansteckend übersetzen.

Virulenz, Pathogenität
Bedeutet umgangssprachlich „krankmachend“. Leitet sich von dem lateinischen Wort „virulentus“ ab, was so viel wie giftig heißt.

Inkubationszeit, Latenzzeit, Verzögerungszeit
Bezeichnet die Zeit zwischen der Ansteckung und dem Auftreten der ersten Symptome. Die Inkubationszeit kann Stunden, aber auch Jahre oder gar Jahrzehnte dauern.

Transmission
Bedeutet so viel wie Ansteckung, also die Übertragung der Keime von einem Individuum auf ein zweites.


Bauteile:

DNA
In Molekülform codierte Bauanleitung für unseren Körper. Die Informationen für ein Protein sind jeweils zu einem Gen zusammengefasst.

Plasmid
Kleiner DNA‑Ring, auf dem Bakterien neu erworbene Erbinformation speichern. Ein Bakterium besitzt mehrere Kopien seiner Plasmide, die es mit anderen Bakterien über eine temporäre „Schleuse“ austauscht.

mRNA
steht für messenger‑RNA und ist eine Arbeitskopie von Teilen der DNA‑Bauanleitung. Sie ist weniger haltbar und dient nur als kurzfristige Vorlage für den Zusammenbau eines neuen Proteins im Zellplasma.

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Beitrag zur "Biologischen Geweberegeneration in der Ästhetischen Medizin"

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