No exit – Zeitenwende in China

No exit – Zeitenwende in China

Markus Arnold


EUR 17,90
EUR 14,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 198
ISBN: 978-3-99131-766-1
Erscheinungsdatum: 13.12.2022
„Zero Covid“ um jeden Preis: Wie lebt es sich als europäischer Expat im von Zensur geprägten China, zwischen Aufbruch und Repression, Konsum und Armut, Künstlicher Intelligenz und Absurdität, Quarantäne und Reiselust, begleitet von geopolitischen Konflikten?
Nach unserem Umzug lernen wir einen Eckpfeiler moderner Wohnkultur im städtischen China kennen, das „Wohnquartier“. Alleinstehende Einfamilien- oder Mehrfamilienhäuser finden sich fast nur noch im historischen Bestand oder auf dem Land. Stattdessen werden mehrere Hochhäuser auf einem Gelände von mehreren Hektar zu einem solchen Quartier zusammengefasst. Bei Neubauten errichtet der Bauträger den ganzen Compound. Dieser wird umzäunt und mit mehreren Eingängen und Einfahrten versehen, an denen Mitarbeiter eines Sicherheitsdienstes nach dem Rechten sehen. Bei Siedlungen jüngeren Datums sind Tiefgaragen fester Bestandteil der Ausstattung. Das schafft an der Oberfläche Platz für Grün und Sporteinrichtungen. Gelegentlich gibt es einen kleinen Laden für Lebensmittel und Gegenstände des täglichen Bedarfs oder auch ein Café.
Ältere Anlagen ohne Tiefgarage bieten solche Annehmlichkeiten nicht. Freiflächen dienen als Parkplatz.
Die Vorteile dieses vielleicht etwas langweiligen Ansatzes erschließen sich auf den ersten Blick. Anstelle eines chaotischen Siedlungsbreis wie in anderen asiatischen Ländern sind die moderneren Viertel ansehnlich und geordnet. In den Städten wird in die Höhe gebaut wird, 20 bis 30 Geschosse sind die Norm. Dadurch gibt es zwischen den Häusern viel Platz. Auf kleiner Fläche leben viele Menschen, ohne dass ein Gefühl der Enge entsteht, weder unten auf der Straße noch in den Wohnungen selbst. Die durchschnittliche Wohnfläche pro Person lag 2020 in Peking bei 32 Quadratmetern, in anderen Städten meistens noch höher. Würden Chinesen siedeln wie Europäer oder gar wie Nordamerikaner, wären weite Regionen zubetoniert. Oder umgekehrt: Auch im dichtbesiedelten Deutschland wäre ausreichend Bauland und Platz für die Natur vorhanden, würden nicht Hochhäuser tabuisiert und das Einfamilienhaus in manchen Gegenden quasi zum Menschenrecht erklärt.
Zur Standardausstattung eines solchen Quartiers gehört die Hausverwaltung, die den Laden technisch und organisatorisch zusammenhält. Da die einzelnen Wohnungen an private Eigentümer verkauft werden, denken wir gleich an die Eigentümergemeinschaft zu Hause. Ein echt chinesisches Unikum stellt das sogenannte „Neighbourhood Committee“ dar, das die Schnittstelle zur öffentlichen Verwaltung bildet und manche Aufgaben des Zivilschutzes wahrnimmt.
Dass die Partei ein waches Auge auf die Nachbarschaftskomitees hat, darf getrost unterstellt werden, stellt aber keine Besonderheit dar, weil die Partei in praktisch jeder Institution ihre Parallelstrukturen unterhält, bis hinein in viele Unternehmen der Privatwirtschaft. In staatlichen oder staatsnahen Betrieben agiert der Chef oft in Personalunion als Vorsitzender des betrieblichen Parteikomitees. Daraus macht niemand ein Geheimnis, manche Visitenkarte weist beide Funktionen gleichzeitig aus. Dazu passend empfehlen mir langgediente Expats, mich bei Bedarf an fachlicher Kompetenz in solchen Unternehmen an die zweite Führungsebene zu halten, oben werde nur die Politik gemacht.
Um uns an der neuen Adresse anzumelden, müssen wir also nicht zur nächsten Polizeistation, sondern wenden uns an das Büro des Nachbarschaftskomitees, das den Meldeservice übernimmt. Als im Winter 2020/2021 ungewohnte Kältewellen über Shanghai hereinbrechen, fordert unser Nachbarschaftskomitee schon Tage zuvor die Bewohner auf, Wasserhähne auf den Balkonen gegen den Frost zu sichern und sich bei Verlassen des Hauses warm anzuziehen. Generell wird der Zivilschutz ernst genommen, für Shanghai erfolgen jedes Jahr Taifun-Warnungen, es gilt dann der Grundsatz „safety first“. Wer kann, wird aufgefordert, von zu Hause zu arbeiten, Flug- und Zugverkehr werden nach Vorankündigung eingestellt. Uns erreichen solche Nachrichten in der Regel über eine der Chatgruppen oder über meine Firma.
Bei der Volkszählung 2020 organisiert das Nachbarschaftskomitee in unserem Wohnviertel die reibungslose Durchführung. Im Foyer unseres Hochhauses wird ein Stand aufgebaut, wo die Mitarbeiter Sinn und Zweck der Veranstaltung vermitteln und gleich die Erhebung durchzuführen. Ohne befragt zu werden, kommt hier niemand vorbei. Verena beantwortet die Fragen gesammelt für die ganze Familie und bekommt als Dank kleine Geschenke ausgehändigt. Die Fragen finden wir inhaltlich erstaunlich harmlos und weit entfernt von der Privatsphäre. Für sensible Informationen gibt es gewiss geeignetere Instrumente als eine Volkszählung.
Ein spezielles Ergebnis des Zensus beeindruckt uns besonders: In der ganzen Volksrepublik leben gerade einmal 1,4 Millionen „overseas residents“, davon etwa 600 000 ethnische Chinesen aus Hongkong, Taiwan und Macao. Die verbleibende Zahl von 850 000 entspricht ungefähr der Zahl der in Berlin gemeldeten Ausländer. Dabei ist noch gar nicht berücksichtigt, dass sich Chinesen während eines Studiums oder einer Berufstätigkeit im westlichen Ausland gerne die Staatsbürgerschaft des Gastlandes zulegen. Die Zahl der „richtigen Ausländer“ ohne chinesische Wurzeln liegt somit noch einmal niedriger.
Schnell legen wir die Illusion ab, Chinesen mit Auslandserfahrung oder westlichem Pass würden sich westliche Werte zu eigen machen. Einige, die wir kennengelernt haben, geben sich nach ihrer Rückkehr in die Heimat besonders patriotisch und parteinah. Ein Pass macht noch keinen neuen Menschen und verändert noch lange nicht das Denken. Den neuen Pass betrachten dessen Inhaber meistens völlig nüchtern als zusätzliche Option für ihre Lebensplanung. Parteimitglieder stören sich nicht unbedingt am westlichen Pass ihres Partners.
Besondere Bedeutung wird dem Nachbarschaftskomitee während der Corona-Pandemie zukommen. Da geht es um Information und Aufklärung, Zugangsregeln und -Kontrollen, die Logistik für die Anlieferung der Pakete, Quarantäneregeln oder um Werbung für die Impfkampagne.

***

Wenige Wochen danach führt mich meine Arbeit erneut nach Hubei, diesmal direkt nach Wuhan. Dort lässt man nichts anbrennen, schon beim Einchecken am Flughafen in Shanghai muss ich neben Vorlage meines PCR-Tests einen extra Fragebogen ausfüllen. Vor dem Aussteigen in Wuhan bittet man mich als Ausländer zudem um eine schriftliche Bestätigung, in den letzten Wochen China nicht verlassen zu haben. Wahrscheinlich hat sich noch nicht überall herumgesprochen, dass die Wiedereinreise nach China mit hohen Hürden gespickt ist und dabei jeder zwei bis drei Wochen Quarantäne absitzen muss. Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, dass ausgerechnet in Wuhan, wo Ausländer ein Dreivierteljahr zuvor evakuiert worden waren und wo nach aller Wahrscheinlichkeit die Pandemie ihren Lauf genommen hat, Ausländer nun als besonders hohes Risiko gelten.
Obwohl ich einiges über Wuhan gelesen habe, wird mir erst vor Ort richtig bewusst, welch Trauma der lange Lockdown für die Führung gewesen sein muss. Wuhan ist nicht nur das wichtigste Verkehrsdrehkreuz in Zentralchina und bedeutende Universitätsstadt, sondern auch einer der Lieblingsorte des verblichenen Großen Vorsitzenden. Ich übernachte in einem staatlichen Gästehaus am See, das bei solchen Gelegenheiten als Tagungszentrum dient. Am Seeufer erinnern Fotos und Gedenktafeln an frühere Aufenthalte Maos und Besuche ausländischer Staatsgäste. Im Kern hat der Personenkult um Mao bis heute überlebt, bis hin zum Konterfei auf den Banknoten. Wenigstens dieser Anblick bleibt uns bei Zahlung per App erspart. Gedenktafeln für die zig Millionen Opfer seiner Politik oder auch nur kritische Worte haben wir während zweieinhalb Jahren in China aufgrund der für solche Systeme typischen Geschichtsklitterung nicht einmal in Ansätzen wahrgenommen. Solange die Massenmörder der Vergangenheit nicht als solche benannt, ja gar verehrt werden, besteht die Gefahr der Wiederholung.
Als Willkommensgruß händigt mir die Dame am Empfang eine Tasche mit nützlichen Utensilien aus, zehn Masken, Desinfektionstücher und -gel. Solche mit einer großen Portion Understatement als „Gästehäuser“ bezeichneten Einrichtungen bestehen in mehreren Städten. In Wirklichkeit handelt es sich um einen ganzen Campus, über den verstreut Konferenzgebäude und eben das eigentliche Gästehaus liegen. In Sitzungspausen kann man durch den hübsch angelegten Park wandeln. An diesen Orten wird Gastfreundschaft erster Güte zelebriert. Die neue Nüchternheit macht sich aber auch hier bemerkbar – zum Toast während des Abendessens wird ein winziges Glas Rotwein ausgeschenkt, danach Tee. Im Staatsdienst findet Gerüchten zufolge eine Kampagne gegen Alkoholkonsum statt, einschließlich unangekündigter Alkoholtests am Arbeitsplatz und Kündigung bei Verstößen.
Abends unternehmen die Tagungsteilnehmer eine Schifffahrt auf dem Yangtse. Im Unterhaltungsprogramm wird Wuhan als die neue Heldenstadt inszeniert. Der Jubel über den vorerst glücklichen Ausgang übertüncht Pannen und Vertuschung zu Beginn der Pandemie. Der Arzt und Whistleblower Li Wenliang hatte zum Jahreswechsel 2019/2020 gemeinsam mit anderen auf die neuartige Infektion aufmerksam gemacht und sich dafür eine polizeiliche Rüge eingehandelt. Als er Anfang Februar 2020 selbst dem Coronavirus erliegt, folgt ein Shitstorm im Internet. Die Oberen versuchen der Wut den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem sie die Flucht nach vorne antreten. Li Wenliang wird posthum rehabilitiert und als Nationalheld geehrt. In das Programm dieses Abends schaffte er es trotzdem nicht.
Wuhan bietet ein Musterbeispiel für moderne Stadtplanung in China. Der ist hier ein eigenes Museum gewidmet. Anhand eines Modells auf über 500 Quadratmetern, das eine ganze Halle einnimmt, lässt sich das plastisch nachvollziehen. Die Planer denken langfristig und strategisch, zum Beispiel welche Industriebranchen man wo ansiedeln möchte oder wie in 15 Jahren das Netz an Grünflächen aussehen soll. Die nötige Infrastruktur wird im Zweifel über den Bedarf hinaus dimensioniert. Ergebnis sind funktionale, aber auch gleichförmige Städte ohne viel Lokalkolorit. Erst im Kleinen wird es bunt, wurstelig und improvisiert, weil der Planungshorizont und Ordnungssinn der Wohnungs- und Ladenbesitzer, Imbissbetreiber, Paketdienste etc. ein anderer ist.
Vor der Haustür in Shanghai finden wir ähnliche Beispiele derartiger Planung. Um den alten Stadthafen und die Häfen entlang der Yangtse-Mündung zu entlasten, hat man auf einer der Küste 20 Kilometer vorgelagerten Insel vom Reißbrett einen neuen Hochseehafen angelegt und über eine ebenso lange Straßenbrücke mit dem Festland verbunden. Die Hügel im unbebauten Teil der Insel sind als „scenic spot“ ausgewiesen. Von dort betrachten wir während eines Wochenendausflugs aus der Vogelperspektive das Hafenpanorama mit dem umliegenden Archipel. An die Bauern und Fischer, die im Zuge des Baus umgesiedelt wurden, erinnern noch einige Häuser sowie eine Gedenkstätte. Die Probleme der globalen Lieferketten lassen sich in diesem Winter 2020/2021 mit bloßem Auge beobachten; etliche Liegeplätze für die Frachter sind leer, Lagerkapazität für Container gibt es im Überfluss. Trotzdem wird im tiefergelegenen Teil der Insel unbeirrt gebaggert und planiert, die Grenzen des Wachstums scheinen hier noch ein Fremdwort.
5 Sterne
No Exit - Zeitenwende in China  - 17.09.2023
S. Fandrich

Ich kann den Kauf dieses Buches absolut empfehlen. Durch den hervorragenden Schreibstil von Herrn Arnold hat man das Gefühl mitten im Geschehen zu sein. Ich hoffe, dass Herr Arnold bald wieder eine Zeit in einem fernen Land verbringt und interessierte Leser daran teilhaben lässt.

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