Hundeleben - zwischen Zuckerbrot und Peitsche

Hundeleben - zwischen Zuckerbrot und Peitsche

Béatrice Hinder


EUR 25,90
EUR 15,99

Format: 18 x 25 cm
Seitenanzahl: 292
ISBN: 978-3-99107-682-7
Erscheinungsdatum: 09.12.2021
Hunde machen uns glücklich. Doch ist das andersherum auch der Fall? Werden wir unserer Verantwortung gegenüber dem Hund gerecht? Wagen Sie eine Reise durch Erziehungs- und Beziehungsfragen hin zu einer neuen Dimension im Miteinander von Mensch und Hund.
1.6 Endgültige Wurfrangordnungsphase (Woche 13 bis 16)
Was während der vorläufigen Wurfrangordnungsphase (Woche 3 bis 12/13) an Dominanz und Unterordnung in Form von Rangordnungsspielen geübt wurde, mündet in der endgültigen Wurfrangordnungsphase regelrecht in einen Rangordnungsstreit und verliert seinen spielerischen Charakter. Tendenzen, sich so oder so zu verhalten (zum Beispiel submissiv oder dominant), kerben sich als Persönlichkeitsmuster ein und begleiten das Individuum sein weiteres Leben lang.

Die Nivellierung durch den Menschen zielt darauf ab, allen Welpen die Chance zu bieten, zu einem anpassungsfähigen Hund zu gedeihen. Es ist von Bedeutung, den Welpen nicht in einer Verhaltenstendenz festhängen zu lassen, sondern ihn zu ermuntern, adaptionsfähige, an eine Situation angepasste Reaktionen zu zeigen. Das gibt den Junghunden die Chance,
ein breites Repertoire an Verhaltensmöglichkeiten anzulegen. Dies verlangt eine individuelle, von den Geschwistern getrennte Förderung jedes einzelnen Welpen.

Allerdings bleibt durch dieses Egalisieren die Wurfrangordnung ungeklärt, was zu Spannungen führt, wenn die Welpen zu spät abgegeben werden. Dazu kommen rassespezifische Unterschiede: Bei Hütehunden ist die Rangordnung bereits früher festgelegt, zum Teil bereits in der sechsten Lebenswoche – ein Grund mehr, die Hundekinder zum frühestmöglichen Zeitpunkt in ihre künftige Familie zu entlassen.

Nach dem Einzug des neuen Familienmitgliedes steht der Besuch einer Hundeschule meist ganz oben auf der Liste. Gestatten Sie mir deshalb an dieser Stelle ein Wort zur „Förderung“ von Welpen. Folgende Übung scheint in vielen Welpenspielstunden sehr beliebt zu sein: Eine Hilfsperson hält den kleinen Knopf fest, während sich die Bezugsperson in ein paar Metern Entfernung vis-à-vis vom Welpen aufstellt (ja, einige verstecken sich sogar!). Hat die helfende Hand – meist die Hundetrainerin – entschieden, dass der Zappelphilipp genug lange gewartet hat, gibt sie das Hundekind frei, worauf dieses zu seinem Menschen tapst. Diese Übung verfolgt offenbar zwei Ziele: Zum einen soll der Abruf trainiert werden. Das Festhalten des Welpen mimt einen Verfügbarkeitsabriss zu seiner Bezugsperson. Der Sozialpartner Mensch, der sich alles andere als sozial verhält, soll durch diesen aufoktroyierten Verlust an Attraktivität gewinnen, sodass der junge Hund besonders freudig zu Herrchen beziehungsweise Frauchen zurückstolpert. Ich halte diese Praxis für den falschen Weg: Strebt der Mensch eine sichere Bindung zu seinem Hund an, repräsentiert er Vertrauenswürdigkeit, Verlässlichkeit, Verbindlichkeit, Verfügbarkeit und Sicherheit. Was glauben Sie zu erreichen, wenn Sie einem so jungen, noch fragilen Leben bereits in dieser frühen Phase Ihres gemeinsamen Weges zu verstehen geben, dass die menschliche Führung ein Raritätsartikel ist? Diese Frage dürfen Sie sich selber beantworten.

Der zweite Aspekt dieser Übung soll der Aufbau von Impulskontrolle sein. Sich selbst zu beherrschen (Selbstbeherrschung) erfordert Hemmung. Diese Hemmung zu erlangen ist ein aufwendiger Lernprozess, welcher den Körper viel Energie (unter anderem in Form von Adenosintriphosphat ATP) kostet. Wenn Sie Ihren Welpen festhalten (lassen), stehlen Sie ihm die Chance, seine Impulse beziehungsweise sein Bremspedal selber kontrollieren zu lernen. Bei der beschriebenen Lektion lernt der Welpe salopp gesagt nichts respektive nicht das, was Sie sich erhofft haben. Üben in Ehren, aber man sollte sich darüber im Klaren sein, was man tut.

Lassen Sie Ihren Hund ruhig Fehler machen. Fehler gehören zum Leben und sind Chancen, um zu wachsen. Lächeln Sie, wenn Sie Ihrem Hundekind empathisch erklären: „Das probieren wir gleich noch einmal.“ oder: „Komm, ich zeig dir einen Weg, wie sich diese Herausforderung konstruktiv lösen lässt.“. Der Mensch versteht so wenig vom Leben, und dennoch beansprucht er zu wissen, was richtig und was falsch ist. Wenn wir reflektieren, wie wir auf die Fehler unserer Hunde reagieren, stellt sich die Frage, ob wir damit ihre Lust am Lernen und somit auch ihre Lernkapazität fördern. Unsere Antworten auf vermeintliche oder reale Fehler sind meist wenig freundlich und zerstören die naturgegebene Lust am Lernen. An die Stelle von Neugier tritt eine Fehlervermeidungskultur, die Hochkonjunktur feiert. Der durch Angst vor Fehlern bedingte Stress lässt das Gehirn auf Notprogrammkurs navigieren, welcher das Verinnerlichen von Lerninhalten sabotiert. Das ist schade.

Gebetsmühlenartig höre ich Hundehalter immer wieder beteuern, dass sie sich mehr Freiheit für ihre Hunde wünschen. Was aber ist Freiheit? Nein, wenn Sie glauben, Sie brauchen nur den Karabiner vom Halsband zu lösen, sind Sie auf dem Holzweg. Freiheit heißt, sich in einem geschützten Rahmen ausprobieren zu dürfen, ohne ver- und beurteilt zu werden. Das schließt ein, Fehler machen zu dürfen. Freiheit ist das bedingungslose Ja zu einem Wesen – ein Ja, das das Gegenüber weder zu einem Bonsai stutzen noch zu einem Soldaten dressieren will. Freiheit ist, geliebt zu werden als der, der man ist – und zwar immer. Freiheit bedeutet, dass ich auch dann geliebt und zugehörig bin, wenn ich Mist baue oder wütend bin. Freiheit ist, wenn ich nicht an meinem Tun gemessen, sondern allein dafür geliebt werde, dass ICH BIN. Freiheit ist der Rahmen, das soziale Sicherheitsnetz, das einen hält, wenn man strauchelt. Freiheit bedeutet, dass ich innerhalb geschützter Grenzen eigene Lösungsvorschläge einbringen darf, anstatt einzig den Ansprüchen anderer genügen zu müssen. Diesen sicheren Rahmen zu bieten, in dem all das möglich ist, ist die Aufgabe einer wohlwollenden Erziehung. Freiheit und Liebe haben viele Parallelen: Freiheit schenkt mir den Raum, so zu sein, wie ich bin (und ein Raum hat nun mal Grenzen – sonst wäre es die unendliche Leere), und die Liebe beschützt diesen Raum weitab von laissez faire. Dementsprechend halte ich nichts von Hundeschulen und Hundehaltern, die dem Tenor folgen: „Lass mal, die machen das schon!“ Nein, Sie führen, Sie machen – und zwar die Regeln. Sie legen Rahmenbedingungen fest und fordern Grenzen ein. Nun, es ist Ihr Hund. Es ist Ihre Beziehung. Es ist Ihre Entscheidung und Ihre Verantwortung, wie Sie Ihren Hund erziehen. So weit, so gut. Lassen Sie uns zurückkehren zum Thema Wurfrangordnungsphase.

Mit der endgültigen Wurfrangordnungsphase ist auch die Zeit gekommen, in der die Milchzähne ausfallen und die 42 bleibenden Zähne durchbrechen. Der Zahnwechsel erfolgt bei größeren Hunderassen früher als bei kleinen und zieht sich bis circa in den siebten Lebensmonat hin. Zeigen Sie sich während der Zeit rund um den Zahnwechsel besonders einfühlsam. Lassen Sie die Hundeschule ruhig einmal aus, wenn sich Ihr Hund fiebrig oder unwohl fühlt (genau, auch dann, wenn Sie selbst einen Mordsspaß an den Lektionen haben). Verzichten Sie – am besten generell, aber besonders in dieser Phase – auf Zerrspiele, die pädagogisch ohnehin fragwürdig sind.

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