Die Reise des Lebens

Die Reise des Lebens

Frankie Hava


EUR 17,90
EUR 10,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 354
ISBN: 978-3-99107-410-6
Erscheinungsdatum: 27.04.2021
Frankie Hava hat eine körperliche Behinderung, die seit seiner Kindheit unaufhaltsam fortschreitet. Sie bestimmt sein ganzes Leben - den Lebensmut nimmt sie ihm aber nicht. Unermüdlich stellt er sich neuen Abenteuern. Ein Roman mit biografischen Einflüssen.
Prolog

„Jetzt habe ich endlich meine Antwort!“, sagte Frankie in fast unverständlichem Gemurmel, „die Antwort auf die große Frage meines Lebens: Was ist mein Lebenswerk?“
Diese Frage hatte er sich während seines gesamten Lebens sehr oft gestellt, aber nie so wirklich eine Antwort darauf gefunden. Frankie hatte schon sehr viele Projekte gestartet und teilweise auch erfolgreich zum Abschluss gebracht, konnte sich aber nie entscheiden, welches Projekt oder umgesetzte Vorhaben er als sein Lebenswerk betrachten sollte. Nach 45 Jahren hatte er nun endlich eine plausible Antwort darauf gefunden. Es war nicht irgendeines seiner Projekte, sondern sein gesamtes Leben. Wenn man genau darüber nachdenkt, vollbringt jeder Mensch ein Lebenswerk. Es sind also nicht einzelne Projekte, nicht einmal, wenn das ganze Leben daran gearbeitet wurde, Tätigkeiten oder Erlebnisse, sondern alle sind ganz wichtige Teile, auf denen weitere Teile aufbauen können. Man könnte das Leben mit einem Mosaik vergleichen. Man weiß vorher nicht, wie das fertige Mosaik aussehen wird, aber jeder einzelne Stein ist wichtig, damit sich am Ende das Bild zu einem Ganzen fügt. Die allerersten Mosaiksteine werden schon in der Kindheit gesetzt oder sogar bereits im Mutterleib und legen den Grundstein, auf denen das weitere Bild überhaupt erst aufgebaut werden kann. Wichtig sind auch die vielen eher negativen Erfahrungen, die machen das fertige Bild sogar ein bisschen bunter und sind extrem wichtig, damit man das Bild weiterbauen kann. Es klingt ein bisschen zermürbend, aber das komplette Bild sieht man selbst eigentlich nie. Frankie jedoch hat schon jetzt ein ziemlich großes und buntes Bild gebaut. Und das, obwohl sein komplettes Bild noch immer nicht ganz fertig ist. Viele Menschen verstehen unter einem Lebenswerk nur berufliche Erfolge oder irgendwelche herausragenden Leistungen, durch die man weltberühmt wird. Dabei geht es gar nicht um irgendwelche Leistungen, sondern ein Lebenswerk ist für jeden Menschen sein gesamtes Leben.
Aber wir sind jetzt viel zu weit. Ich sollte mich erst einmal kurz bei dir vorstellen. Mein Name ist Frankie Hava, und diese ganze Geschichte dreht sich um mich. Es ist aber keine Autobiografie, sondern eine Geschichte mit einem größeren fiktiven Teil. Deswegen erzähle ich dir diese Geschichte nicht in der ersten Person, sondern dieser Frankie ist eine fiktive Person. Seine Erfahrungen sind natürlich stark an meine Person angelehnt, aber der Frankie in diesem Buch und ich selbst, wir sind nicht ein und derselbe Mensch. Ich selbst möchte, dass du mich als einen sehr guten Freund von dir betrachtest. Stell dir vor, wir sitzen gemeinsam im Sonnenschein in einem Biergarten, und ich erzähle dir eine nette Geschichte. Wir machen in dieser Geschichte sehr viele große Zeitsprünge, und das kann etwas verwirrend sein. Du wirst dir jetzt vielleicht denken, warum ich mit dieser Frage nach dem Lebenswerk beginne, du weißt ja noch gar nicht, was in Frankies Leben bisher passiert ist. Deswegen springen wir jetzt mal ungefähr zweieinhalb Jahre zurück, und ich beginne, dir die ganze Geschichte von vorne zu erzählen.
Bereit? Los geht’s …



Teil I
Der Besuch

„Try not to become a man of success,
but rather to become a man of value.“
Albert Einstein



Kapitel 1
„Mach das doch einfach selbst 1“

Frankie lag noch im Bett, als er ganz leise das Summen seines elektrischen Türöffners hörte, der über ein Fingerprint-System betätigt wurde. Dieses war von ihm installiert worden, um nicht jedem Einzelnen seiner vielen Assistenten einen Schlüssel geben zu müssen. Seit Stunden lag er schon wach, aber nach einer weiteren qualvollen Nacht ohne Tiefschlaf war er immer noch so erschöpft wie ein durchschnittlicher Läufer nach seinem ersten Marathon, den dieser natürlich nicht gewonnen hatte. Eigentlich hörte er das Summen ja gar nicht, sondern bemerkte erst, dass seine persönliche Assistentin kam, als sein Hund Funky, der immer direkt über ihm auf dem Kopfkissen lag, aufsprang und mit lautem Gebell in Richtung Schlafzimmertür stürmte.
Christina hatte an diesem Tag Dienst. Sie war eine der wenigen Assistenten, die schon seit Jahren bei ihm arbeiteten. Über die Jahre hatte sich zwischen ihr und Frankie eine sehr gute Freundschaft entwickelt.
Grundsätzlich legte Frankie immer großen Wert darauf, mit seinen Assistenten eine gute Freundschaft aufzubauen. Er wollte damit verhindern, dass diese nur zu ihm kamen, weil sie eben arbeiten und damit ihr Geld verdienen mussten. Dadurch wäre das Gefühl, seine Freunde bezahlen zu müssen, noch größer gewesen. So aber kamen sie echt gerne zu ihm, so empfand er es zumindest, und er war der Meinung, dass ihm das relativ gut gelang.

Assistenten arbeiteten wirklich persönlich bei ihm, er selbst war ihr Arbeitgeber, und sie wurden von ihm direkt dafür bezahlt. Er war also ihr „Big Boss“. Trotz Freundschaft hatten doch alle seine Mitarbeiter im Hinterkopf, dass er ihr Arbeitgeber und Chef war.

In diesem freundschaftlichen Verhältnis lag die Schwierigkeit im Umgang mit seinen Mitarbeitern, denn manchmal kam es auch vor, dass Frankie sich mit seiner ausgeprägten Fantasie mehr einbildete als nur eine reine Freundschaft oder sogar eine richtige Partnerschaft. Zumindest bei seinen weiblichen Assistenten.

Nicht, dass er irgendwie reich gewesen wäre, er bekam nur das Geld, mit dem er seine Assistenten finanzierte, auf sein eigenes Konto überwiesen. Dies stellte für Menschen mit Behinderung die beste Möglichkeit dar, ein völlig selbstbestimmtes Leben führen zu können. Die finanziellen Mittel, die er bekam, nannte man persönliches Budget. Ein persönliches Budget bedeutete für ihn die wahre Selbstbestimmung. Er hatte auch lange Zeit in einer Art Heim gelebt, welches natürlich auch seinen Bewohnern die beste Möglichkeit, ein völlig selbstbestimmtes Leben zu führen zu gewährleisten versuchte, was aber seiner Meinung nach nur eine vorgegaukelte Selbstbestimmung war. Die Mitarbeiter dort wurden einem mehr oder weniger vor die Nase gesetzt, und man war gezwungen, mit diesen „ausgebildeten Pflegekräften“ zurechtzukommen. Wenn man dann ein Problem mit einer dieser Pflegekräfte hatte, blieb einem nichts anderes übrig, als zur Heimleitung zu gehen und dieser nahezubringen, dass man mit besagter Pflegekraft nicht mehr zusammenarbeiten möchte. Dann ging es aber los. Eine Teambesprechung nach der anderen wurde einberufen, und die Sache wurde über Monate hinweg totgequatscht. Auch mit einem selbst wurde immer wieder geredet, man sollte sich doch mal mit dieser Pflegekraft zusammensetzen und versuchen, die Probleme auszuräumen und so weiter und so fort. Man wurde so lange „bearbeitet“, bis man endgültig die Schnauze voll hatte und sagte:
„Okay, dann probiere ich es eben mit diesem Pfleger weiter.“
Und dies wurde dann, ohne Rücksicht auf die monatelange Beeinflussung, als Selbstbestimmung ausgelegt. Wenn man aber mit einem persönlichen Budget der Arbeitgeber seiner selbst ausgesuchten Assistenten war und ein Problem mit einem der Mitarbeiter hatte, dann war dieser seinen Job los. Das klingt ein bisschen hart, als wären die Arbeitgeber sowieso alle Arschlöcher, aber das ist nun mal die wahre Selbstbestimmung. Man könnte die Heime mit ihren Bemühungen um Selbstbestimmung metaphorisch gesehen mit einem alten Skoda vergleichen. Das persönliche Budget hingegen wäre dann der Rolls Royce.

Frankie merkte, wie Christina langsam die Schlafzimmertür öffnete. Er dachte:
Jetzt nur nicht bewegen. Halte die Augen geschlossen und atme ganz ruhig weiter, vielleicht glaubt sie dann, ich würde noch schlafen, schnappt sich Funky und geht mit ihm noch eine Runde spazieren.
Gedacht, getan – und Christina und Funky schwirrten ab.
Wieder einmal hatte er sich die ganze Nacht schmerzerfüllt von einer Seite auf die andere gewälzt, hatte wie fast immer kaum Tiefschlaf. Er ruhte sich meistens nur aus, schlief zwischendurch stundenweise aus Erschöpfung kurz ein und fühlte sich deswegen morgens immer noch so fürchterlich wie ein Drogensüchtiger nach dem Absetzen seiner Drogen, wenn die ersten Entzugserscheinungen eintraten. Das ständige Wachliegen bedeutete für ihn die reinste Folter.

Frankie hatte eine schleichend progressive, rezessiv vererbbare Krankheit. Man sagte zwar Krankheit dazu, aber in Wahrheit fühlte er sich nicht wirklich krank. Er hatte nur eine ziemlich starke körperliche Behinderung. Man meinte auch oft, man würde an einer Krankheit leiden, aber mit dem Wort „leiden“ konnte Frankie schon gar nichts anfangen. Aber das waren doch nur Bezeichnungen.

Manchmal fragten ihn andere Menschen, ob er einen Unfall gehabt hatte. Er bejahte oft, denn aufgrund der rezessiven Vererbung war bei seiner Zeugung eine krankheitstragende Samenzelle seines Vaters mit einer solchen Eizelle seiner Mutter kollidiert, was man durchaus als Unfall bezeichnen könnte. Rezessive Vererbung bedeutet nämlich, dass beide Allele eines Chromosoms, welches das betroffene Gen aufweist, fehlerhaft sein müssen, damit die Krankheit entsteht. Ist, wie bei Frankies Eltern, nur ein Allel betroffen, so ist man zwar gesund, da für die Produktion des gewünschten Proteins ein fehlerfreies Allel ausreicht, jedoch ein Krankheitsträger. Bei der Konstellation zweier gesunder Träger des betroffenen Chromosoms besteht nur eine 25-prozentige Wahrscheinlichkeit, dass die Krankheit entsteht, und Frankie war derjenige, der in dieser Hinsicht die Arschkarte gezogen hatte.

Frankie wäre niemals im Leben bereit gewesen, ein Kind mit einer Frau zu zeugen, die selbst Trägerin dieser Krankheit war. Da ja bei ihm beide Allele betroffen waren, hätte die Wahrscheinlichkeit bei 50 Prozent gelegen, dass sein Kind diese beschissene Krankheit bekommt, und das hätte er nicht verantworten können. Wenn er mit einer Frau ein Kind zeugen würde, die völlig fehlerfreie Allele aufwies, wäre sein Kind zwar auf alle Fälle gesund, aber zu 100 Prozent ein Krankheitsträger. Da man diese Krankheit seiner Meinung nach ausrotten sollte, war es für ihn völlig klar, kein Kind in diese Welt zu setzen. Ganz abgesehen davon hätte er sowieso riesengroße Bedenken gehabt, sein eigenes Kind einfach nur im Arm zu halten, aus Angst, er könnte ihm wehtun.

Frankie beschäftigte sich sehr viel mit seiner „Krankheit“ und wusste genauestens Bescheid, was in seinem Körper vor sich ging. Das soll heißen, er hatte grundlegend verstanden, wo genau der Fehler lag, der zu dieser Krankheit führte. Aber natürlich war er kein Hochschulprofessor der Mikrobiologie. Sobald es also etwas komplexer wurde, stieg er aus. Frankie war auch ständig up to date, was in der Forschung passierte. Und ja, es gab durchaus sehr konkrete und vielversprechende Behandlungs- oder sogar Heilungsansätze für diese Krankheit, diese stellten aber wirklich nur eine reine Hoffnung dar.

Man sagt ja immer so schön: Die Hoffnung stirbt zuletzt. Genau genommen, wenn diese Hoffnung wirklich als Allerletztes starb, dann starb Frankie aber zwangsläufig vor ihr.

Bevor seine Schlaflosigkeit zur Qual geworden war, hatte er sich die Nächte um die Ohren geschlagen, um mit Wörterbüchern und Fremdwörterlexikon bewaffnet durchs Internet zu streifen, auf der Suche nach brauchbaren Informationen über diese Krankheit. Bei diesen Streifzügen wurde er sehr oft fündig, aber immer waren die Texte, die er fand, in einer Sprache geschrieben, die er nicht verstehen konnte. Auch waren diese Informationen nicht gesammelt, sondern auf mehreren Webseiten verteilt und somit nur nach elendslangen Google-Sessions zu finden. Diese Texte dann für sich verständlich zu machen, war sehr zeitraubend und zermürbend.
Nach einer dieser Nächte, als er morgens auf der Terrasse seiner damaligen Wohnung im Sonnenschein eine Zigarette rauchte, wünschte er sich eine einzige Website, auf der all diese komplizierten Texte gesammelt und in eine verständliche Sprache übersetzt zu finden wären. Dann dachte er sich: Zum Teufel, warum sollte ich jetzt darauf warten, bis vielleicht irgendwer einmal genau auf diese Idee kommt? Mach das doch einfach selbst.
Sofort war er von dieser Idee begeistert, hatte aber sehr schnell die These entwickelt, dass es, wie so oft, ewig nur eine gute Idee bleiben würde, wenn er nicht ein professionelles Projekt starten würde.
Sofort hatte er seine Zigarette zwischen die Rosen des vom Gärtner liebevoll angelegten Gartens geworfen, hatte seinen Arsch – haha, seinen Rollstuhl – in Bewegung gesetzt und war in die Wohnung geeilt. Dabei hatte er fast die Vorhänge seiner Terrassentür endgültig ruiniert, die aber ohnehin nur noch an einer verbogenen Vorhangstange hingen. Er hatte sich das Telefon geschnappt und seinen besten Freund Mario angerufen. Zumindest war es ihm so vorgekommen, als hätte er diese Tätigkeiten in Windeseile ausgeführt, hätte aber ein Außenstehender dieses Szenario beobachtet, hätte er nur einen sturzbetrunken wirkenden Rollstuhlfahrer gesehen, der sich mit allerletzter Kraft ungeschickt ins Haus mühte.
Eigentlich hätte er sich sofort denken können, dass seine Hast nicht die gewünschte Wirkung zeigen würde, denn er hatte nur Marios Anrufbeantworter erreicht, der mit einem völlig verblödeten Text besprochen war, welchen er mit einem atemberaubend geistreichen Kommentar besprach. Mario hatte erst Stunden später zurückgerufen, in denen Frankie der öffentlichen Volksverblödung namens Fernsehen gefrönt hatte. Auch Mario war sofort von Frankies Idee begeistert gewesen und hatte ihm, wie es beste Freunde eben tun, seine Hilfe zugesagt.

Schon am nächsten Tag besuchte ihn Mario mit seiner kleinen roten Aktentasche, auf der in großen Blockbuchstaben das Wort „Hoffnungsträger“ geschrieben stand und die vollgestopft war mit Unterlagen, die er von der Universität zur Vorlesung über Projektrealisierung bekommen hatte. Als Allererstes hatten sie sich überlegt, welche Leute genau sie bitten wollten, bei diesem Projekt mitzuarbeiten. Denn sie beide waren sofort derselben Meinung, dass aus diesem Projekt nie etwas Gutes werden würde, wenn sie sich nicht mit mehreren, am besten gut ausgebildeten Leuten umgeben würden. Mario hatte sehr gute Kontakte zu einer kleinen Webdesign-Firma, bei der er teilweise mitarbeitete und die ihm sofort ihre Hilfe bei diesem Projekt zusagte.
Eine weitere Überlegung von Frankie war, dass niemand seine Texte wirklich ernst nehmen würde, da sie viel zu laienhaft ausfallen würden, wenn er sie selbst verfassen würde. Er war nun mal kein fertig ausgebildeter Mikrobiologe. Ein anderer sehr guter Freund von ihm, Tom, hatte damals Mikrobiologie studiert, und Frankie hatte gleich gesagt, dass er auch ihn bitten würde, beim Projekt mitzuarbeiten. Dann würden die Texte dieser Website, die er größtenteils selbst schreiben würde, von einem angehenden Doktor der Mikrobiologie auf inhaltliche Korrektheit überprüft werden. Natürlich hatte Frankie aber nicht nur auf die inhaltliche Professionalität geachtet, sondern auch auf eine angemessene Ausdrucksweise, deswegen kam noch ein bekannter Journalist hinzu, der die Texte auf Rechtschreibung und Grammatik überprüfte. Natürlich auch noch Frankies damaliger Neurologe, der die Texte auf medizinische Korrektheit durchging.
Frankie war Programmierer. Bis dahin hatte er aber nie etwas mit Webprogrammierung zu tun gehabt, sondern hatte immer als Datenbank-Programmierer gearbeitet. Diesen Job hatte er allerdings kurz zuvor verloren, weshalb er zu dieser Zeit arbeitslos war und viel Zeit hatte. Deswegen fragte er auch noch einen seiner alten Kindheitsfreunde, Andy, der zu dieser Zeit einen Job als Webprogrammierer hatte. Dieser half ihm anfangs dabei, das Grundgerüst für seine Website zu programmieren. Wohlgemerkt hatte Frankie bis dahin ja überhaupt keine Ahnung von irgendeiner Form der Webprogrammierung gehabt.

Die nächsten Wochen war Frankie dann zur Kur in einem Rehabilitationszentrum. Er war dauernd in Gedanken versunken und verbrachte neben seinem Krafttraining fast jede freie Minute im Computerraum, um dort seine ersten Texte für die Website zu schreiben. Einmal, als er gerade auf dem Weg in den Computerraum war, sprach ihn eine Frau an. Sie dachte sich wahrscheinlich:
Das scheint ein netter Typ zu sein, den würde ich gerne kennenlernen.
Weil er so in Gedanken versunken war und nur noch darüber nachdachte, was er als Nächstes schreiben würde, ignorierte er sie mehr oder weniger. Er sagte nur kurz „Hallo“ und ging – haha rollte – weiter. Sie dachte sich wahrscheinlich:
Was für ein Arschloch!
Das wusste er deshalb, weil es sich dabei um Sarah gehandelt hatte, die etwas später ins gleiche Heim eingezogen war und zu einer seiner besten Freundinnen wurde.

Monatelang hatte Frankie wie ein Verrückter an dieser Website gearbeitet. Sein größtes Augenmerk hatte der inhaltlichen Gestaltung gegolten. Zum Beispiel hatte er erst einmal damit begonnen, die Grundlagen der gesamten Genetik zu erläutern, da er gedacht hatte:
Fast alle Menschen reden von unseren Genen, aber die Wenigsten wissen tatsächlich, wie die Genetik überhaupt funktioniert.
Kurz gesagt: Alle reden von der DNA, aber kein Mensch weiß, was das genau ist. Zumindest besaßen die meisten nur ein paar grundlegende Informationen aus dem Biologieunterricht.
Da Frankie seine Texte sehr faktenorientiert gestaltet hatte, hatte die wissenschaftliche Recherche die meiste Zeit in Anspruch genommen. Er hatte aber auch riesengroßen Spaß daran, so genau wie möglich über seine Krankheit und über die gesamte Genetik Bescheid zu wissen. Immer schon war er so interessiert an diesem Wissenschaftszweig gewesen, dass er bereits knapp davor war, ein Studium der Mikrobiologie zu absolvieren. Aber Tom hatte ihn – zum Glück – davon abgehalten, indem er meinte, dass die Genetik nur ein winzig kleiner Bruchteil des gesamten Stoffes wäre. Als er diese zeitaufwendige, intensive und teilweise nervenzerfetzende Arbeit zu Ende gebracht hatte, war es endlich so weit gewesen, die Website online zu stellen. Mario hatte ihm wieder mal sehr dabei geholfen, sein Projekt erfolgreich zum Abschluss zu bringen. Sie hatten gemeinsam eine eigene, größere und professionell aufgebaute Pressekonferenz organisiert, zu der nicht nur sämtliche Printmedien geladen waren, sondern bei der sogar für eine kostenlose kulinarische Verpflegung aller Teilnehmer gesorgt wurde. Die Pressekonferenz war ein riesiger Erfolg gewesen, und es waren zahlreiche Artikel in Ärztezeitschriften, Behindertenzeitschriften und sogar in großen Tageszeitungen erschienen. Bei seiner Pressekonferenz hatte Frankie es sehr genossen, vor den versammelten Medien zu sitzen, wo alle so gespannt auf seine ersten Worte warteten, als wäre er der König von Großbritannien oder der Prinz von Dänemark oder wer auch immer, der zu seinem Volk sprach. Er hatte auch ein kleines Fernsehinterview gegeben. Trotzdem hatte er sich sehr große Sorgen gemacht, ob die Website von seiner Zielgruppe, und das waren eben andere Behinderte – ja okay, andere Menschen mit dieser Behinderung –, angenommen worden wäre, und diese waren nicht alle immer so interessiert an dieser Krankheit wie er selbst.

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