Buen Camino - die schönste Reise meines Lebens

Buen Camino - die schönste Reise meines Lebens

Josef Frey


EUR 19,90
EUR 15,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 554
ISBN: 978-3-99107-647-6
Erscheinungsdatum: 16.08.2021
Mit „Mama Maria“ auf dem Weg zum Grab des Apostels Jakobus. Von Deutschland aus durch die Schweiz und Frankreich, über die Pyrenäen und den Camino Francés nach Santiago de Compostela in Spanien.Etappen, Impressionen, Tradition und Tourismus: Es ist Pilgerzeit!
77. Pilgertag, Montag, 16.09.2019
Honto–Roncesvalles: 21 km, Gesamt: 1877 km

Ausgeschlafen und gestärkt an Leib und Seele starte ich die heutige Pyrenäenetappe mit eintausend Höhenmetern über den Col de Lepoeder auf einer Passhöhe von 1437 Meter. Die Strecke verläuft überwiegend auf befestigten kleinen Straßen mit moderater Steigung. Schatten ist mangels Bäumen eher selten.

Die lange Karawane der Pilger zieht den Berg hinauf. Eine geheimnisvolle Morgendämmerung wird vom blauen Himmel und der Sonne abgelöst. Weite Ausblicke belohnen jeden Schritt, den es bergauf geht. Schafe weiden an den ausgedehnten Hängen. Es ist einfach nur schön und lässt alle Anstrengungen vergessen. Trotzdem freue ich mich, als ich zur Auberge Orisson komme und einen Café au Lait trinken kann. Auch noch ein kleines Erfrischungsgetränk obendrauf wirkt sich belebend auf meinen Unternehmungsgeist aus.
Vor der Herberge treffe ich noch Annika mit ihrem Mann. Jetzt können wir uns aber endgültig verabschieden. Ein Kommen und Gehen. So lerne ich gleich Susi, eine junge Österreicherin, kennen. Sie spricht mehrere Sprachen und wirkt sehr zierlich, hat aber eine unbändige Kondition. Jungs, die Damenwelt ist hier mit einer Energie unterwegs, da müssen wir uns anstrengen. Ich muss immer wieder staunen. Susi werde ich in den nächsten Tagen noch des Öfteren treffen. Das sind immer sehr angenehme Begegnungen.
Ich befinde mich hoch in den Bergen in einer Einöde. Auf einer Felsformation sehe ich die Marienstatue Vierge de Biakorri. Sie wacht über die Berge des Baskenlandes. Ein Gedenkkreuz steht am Weg. Durch einen Zaun vor Mensch und Tier geschützt. Und immer weiter geht es hinauf. Ultreia … weiter und höher, so lautet der Ruf der Pilger.
Ein kleiner Wohnwagenkiosk am Weg ist sehr willkommen. Eine Banane und etwas Kühles zum Trinken geben neue Kraft bis zur Passhöhe. Kurz vor dem Pass ein paar Bänke, ein paar kleine Hütten und ein schöner Ausblick. Ein idealer Platz für eine kleine Siesta. Ich mache es mir eine halbe Stunde bequem und genieße wieder einmal den Moment. Auch andere Pilger nutzen dieses weiträumige Areal für eine längere Pause. Angenehm trotz der relativ vielen Pilger hier ist die Ruhe. Jeder möchte sich nur von den Strapazen ausruhen. Keine lautes Hallo, nur ein kurzes Nicken oder ein freundliches Lächeln. Alles geht ganz ruhig vonstatten. Eine zufriedene, entspannte Atmosphäre.
Audrey, eine nette Französin mit afrikanischen Wurzeln, sitzt am Straßenrand und verbindet ihr Knie. Das Gehen fällt ihr schwer. Wie so viele Pilger hat auch sie mit Blasen und Knieproblemen zu kämpfen. Der junge Brasilianer, den ich noch von der Ferme de Marsan kenne, stapft vorbei. Wir treffen uns später noch kurz vor der Passhöhe wieder. Auch er ist ziemlich außer Atem mit seinem schweren Rucksack.
Am heutigen Tag komme ich gefühlt mit Pilgern aus allen Teilen der Welt ins Gespräch. Das Pilgeraufkommen ist merklich gestiegen. Aber nicht nur die Menge der Pilger hat sich geändert. Auch die Art des Pilgerns. Das Durchschnittsalter der Pilger erscheint mir einige Jahre jünger als in Frankreich, und es sind wirklich Menschenmassen aus allen Ländern dieser Welt auf dem Weg. Keine Rast ohne Koreaner. US-Amerikaner und Kanadier in Mengen, aus allen Ländern Süd- und Mittelamerikas. Ich fühle mich auf einem gänzlich anderen Weg.
Mit der Ruhe, die ich aus Frankreich kenne, ist es vorbei. Sagen wir es mal positiv: Der Weg ist lebendiger, die Pilger aktiver und vielfältiger. Die Stimmung ausgelassener. Auch die Beweggründe, diesen Weg zu gehen, sind vielfältiger.

Auf der Höhe wird es wieder etwas flacher, manchmal geht der Weg sogar über eine kleine ebene Fläche entlang von ein paar Bäumen im Schatten bis zum Rolandsbrunnen. Ein geschichtsträchtiger Ort. Man erinnert sich an die Schlacht Karls des Großen gegen die Mauren und die Zerstörung von Pamplona durch die Franken. Ritter Roland fand hier in der Gegend mit seiner Nachhut den Tod. Was im Rolandslied Wirklichkeit oder Sage ist, darüber darf trefflich spekuliert werden. Auf jeden Fall wurde hier ein schöner Brunnen zu Ehren von Ritter Roland gefasst, worüber sich die Pilger seit Menschengedenken herzlich erfreuen.
Am Brunnen versammeln sich natürlicherweise gleich wieder Menschentrauben. Auch mehrere deutsche Pilger sind darunter. Damit sie nicht Durst leiden müssen, erkläre ich ihnen das eigentlich simple Patent vom Wasserhahn, mit dem man Wasser abzapfen kann. Einzelpilger aus Deutschland sind immer eine erfreuliche Bereicherung der Erlebnisse meiner Pilgerreise. Komischerweise tue ich mich immer schwer, wenn mehrere Deutsche versammelt sind. Ich glaube, in einem früheren Leben war ich Franzose.
Egal, nur noch wenige Meter, und ich überschreite die Grenze zur Region Navarra, was durch einen großen Grenzstein angezeigt wird. Jetzt bin ich in Spanien angekommen. Aber auch sprachtechnisch wieder bei Punkt null angelangt. Meine einzigen spanischen Sprachkenntnisse sind „gracias“ – danke, „hasta la vista“ – auf Wiedersehen und „una serveca por favor“ – ein Bier bitte. Aber ich bin guter Hoffnung, auf dem Weg einige Vokabeln neu zu lernen oder mich mit Händen und Füßen verständigen zu können. Zur Not geht ja noch ein bisschen Englisch oder Französisch.
Nicht nur die Sprache ändert sich. Ich bin jetzt auf dem Camino Francés. Die Wegmarkierung ändert sich wieder und wird meistens auf einem Stein mit Muschel angezeigt. Und vor allen Dingen immer mit einem gelben Pfeil. Diese Pfeile begleiten mich jetzt achthundert Kilometer bis nach Santiago de Compostela. Sie sind auf Grenzsteinen, an Mauern, Häusern, in den großen Städten sogar auf den Bürgersteigen und an den Bordsteinen angebracht. Wenn man nicht gänzlich erblindet ist, findet man den Weg ohne Probleme. Insofern bin ich doch beruhigt, dass ich voraussichtlich keine Umwege mehr gehen muss.
Auf angenehmen Forstwegen und bequemen Pfaden erreiche ich auch bald die Passhöhe auf 1437 m Höhe. Hier teilt sich der Weg in eine etwas kürzere, aber sehr steile Variante und eine etwas längere Variante zum Ibaneta-Pass. Diese Route, obwohl etwas länger, wird auf meiner Hinweisliste aus dem Pilgerbüro in St-Jean-Pied-de-Port dringendst empfohlen. Die kurze Variante wird als gefährlich eingestuft, und es wird ausdrücklich davor gewarnt. Wieso dieser Weg dann vor Ort als Hauptweg markiert ist, das entzieht sich jedoch meiner Kenntnis.
Als ich als einer der wenigen die empfohlene lange Route wähle und losgehe, rufen mir der junge Brasilianer und auch Audrey laut nach, dass ich auf dem falschen Weg sei. Ich rufe zurück, dass ich auf dem guten Weg bin und sie sollen ebenfalls hier gehen. Leider wollten sie nicht hören. Als ich sie am Abend im Kloster von Roncesvalles treffe, erzählen sie von diesem steinigen, steilen Horrorweg, bei dem man sich alles brechen kann, wenn man nicht aufpasst. Sie haben auch sehr lange gebraucht, bis sie hier eingetroffen sind.

Gemütlich und entspannt kann ich angenehme kleine Straßen entlangpilgern. Waren auf der französischen Seite einige große Schafherden zu sehen, gibt es jetzt sehr viele Pferde zu bestaunen. Einzeln oder auch in kleinen Gruppen haben sie freien Auslauf ohne Zäune und sonstige Absperrungen. Sie leben in Freiheit und fühlen sich offensichtlich wohl. Immer wieder begegnen mir diese schönen Tiere. Ob es Wildpferde sind oder ob sie abends auf eine Farm trotten, das entschließt sich meiner Kenntnis.
Noch einen Nebeneffekt hat diese mysteriöse Routenführung. Hier geht es erneut sehr ruhig zu. Ich kann wieder ein Lied singen. Der Tageshit ist „Es wird Nacht, Señorita, und ich hab kein Quartier, nimm mich mit …“ Eine uralte Kamelle von Udo Jürgens. Dem Grenzübertritt geschuldet, ist auch „Eviva España“ heute eine sehr gerne gesungene Melodie. Und das in voller Lautstärke. Mann, fühle ich mich wohl. Es gehört wohl eine Spur Verrücktheit dazu, das Glück in einer solch vollendeten Form aufzusaugen und in die Welt hinauszuschreien. Offensichtlich bin ich im Moment mal wieder sehr verrückt.

Beim Blick ins Tal sehe ich ganz unten schon mein Tagesziel. Das Kloster Roncesvalles. Einst als Hospitz für die Pilger errichtet und über die Jahrhunderte mit einer sehr bewegten Geschichte ausgestattet, freue ich mich bereits, bald dort anzukommen. Ich hoffe, in der großen Klosterherberge eines der zweihundert Betten zu ergattern. Aber es ist noch ein Stück Weg vor mir. Im Tal komme ich an die große Passtraße für den Autoverkehr über den Col d’Ibaneta. Eine große Kapelle an der Straße legt Zeugnis von der Gläubigkeit des spanischen Volkes ab. Auf angenehmen Wegen entlang einem Bach erreiche ich aber bald mein Ziel und stehe gebannt an der Rückseite des Klosters vor einer großen Pforte.
Es ist bereits viel Betrieb, und vor dem Registrierungsschalter ist eine kleine Pilgerschlange, welche geduldig wartet, bis jeder an die Reihe kommt. Auch ich geselle mich dazu und werde bald mit einem Stempel in mein Credencial sowie einem Ticket für mein nummeriertes Bett ausgestattet. Überdies kann ich ein Ticket für das Abendessen um 19.00 Uhr in der Casa Sabina und das Frühstück im gleichen Restaurant hier einlösen. Es ist alles bis auf das kleinste Detail durchorganisiert. Die machen das richtig gut. Und das muss auch gesagt werden: sehr freundlich und aufmerksam. Muchas gracias, amigos!
Schnell meine Wanderstiefel in den Abstellraum und dann hinauf in den Bettensaal und die richtige Reihe meiner Bettnummer suchen. Es sind immer kleine Kabinen mit jeweils zwei Stockbetten. So ist das Ganze mit maximal jeweils vier Personen auch bezüglich der Steckdosen sehr übersichtlich. Drei US-Amerikaner gesellen sich noch zu mir. John, Carli und Ken. Sie starten hier ihre Tour und sind voller Energie.
Der große Duschraum ist sauber und im Keller die Waschküche für alle Pilger gut organisiert. Sogar mit Trockenschleuder gegen einen kleinen Obolus. Danach kann ich gleich das Kloster erkunden. Die Kirche ist wunderschön, und am Abend gehe ich in den Pilgergottesdienst zum Pilgersegen. Das sind mal wieder einige besinnliche Momente der Ruhe und innerer Einkehr. Die Messe ist gut besucht, wenn man jedoch bedenkt, wie viele Pilger hier in der Herberge und den Hotels untergebracht sind, dann kann man auch den Stellenwert der Pilgerschaft aus religiösen Gründen in etwa abschätzen. Nebenbei sei jedoch bemerkt, dass auch ich diesen Weg nicht aus rein religiösen Gründen mache. Aber zumindest weiß ich, warum es diesen Weg gibt und warum Santiago das Ziel ist.
Doch viele wissen nicht einmal, warum Weihnachten Weihnachten und Ostern Ostern ist. Und das stimmt dann mitunter doch etwas nachdenklich. Aber es ist nicht meine Aufgabe, dies zu beurteilen oder gar zu verurteilen. Auch meine Wege und Gedanken sind für Dritte nicht immer nachvollziehbar. Jeder Mensch hat seine kleine Schwächen, oder wie ich immer sage: seine liebenswerten kleinen Angewohntheiten. Punkt. Aus. Amen. Basta.
Bereits vor der Messe habe ich das mir zugewiesene Restaurant gefunden und auf der Terrasse ein gemütliches Etappenbier in angenehmer Pilgergesellschaft getrunken. Dann öffnen sich plötzlich die Pforten in den gemütlichen Speisesaal, und gemeinsam mit einem jungen chinesischem Pärchen und einem schon etwas älteren Pilger nehme ich mein erstes spanisches Pilgermenü ein. Ich bin sehr zufrieden. Auch der Tischwein mundet, und dank der chinesischen Abstinenz prosten der ältere Tischgenosse und ich uns des Öfteren zu.
Die zwei jungen Chinesen sind sehr angenehme Zeitgenossen, nicht nur wegen der Weinabstinenz. Der Camino benötigt im Allgemeinen knapp dreißig Pilgertage von Roncesvalles bis nach Santiago de Compostela. Je nach Kondition plus/minus zwei, drei Tage. Meine zwei chinesischen Mitpilger machen den gesamten Camino, sprich: achthundert Kilometer, in einer Woche. Inklusive einen Tag Aufenthalt in Burgos und einen Tag in Leon. Die veränderten Pilgergewohnheiten werden mir heute abend stündlich vor Augen geführt. Pilgerbusse stehen reihenweise draußen auf dem Parkplatz.
Nach der Pilgermesse lasse ich den Abend wieder hier im Lokal ausklingen. Meine drei US-amerikanischen Bettnachbarn sind ebenfalls hier und rufen mich gleich an die Bar. Das sind drei lustige Gesellen. Wir trinken den guten spanischen Wein und feiern uns und unseren Weg. Und meinem Sohn schicken wir noch eine Nachricht und ein Bild auf Facebook. Irgendwann findet die Party jedoch ein schnelles Ende. Wir Pilger müssen früh ins Bett. Die Herbergen schließen pünktlich. Dies ist heute abend sicherlich von Vorteil, damit die Etappe morgen pünktlich und vor allen Dingen mit klarem Kopf gestartet wird.
Zurück in meinem kleinen Séparée kann ich gerade noch in aller Ruhe mein Tagebuch schreiben, bevor das Licht ganz langsam dunkler wird und wie von Geisterhand vollends erlischt. Genauso wird es still. Zuerst noch das allgemeine Gemurmel und Geraschel. Dann wird der Ton ganz langsam ausgeblendet, und es ist still, mucksmäuschen still.
Unglaublich still, trotz vieler Pilger in den vielen Schlafabteilen. Man vernimmt sogar kaum Schnarchgeräusche. Zufrieden liege ich in meinem Bett. In Gedanken geht mir dieser ereignissreiche Tag nochmals in allen Einzelheiten durch den Kopf. Es sind schöne Gedanken.



78. Pilgertag, Dienstag, 17.09.2019
Roncesvalles–Larrasoaña: 27 km, Gesamt: 1904 km

Um 06.00 Uhr wache ich auf und höre ganz dezent geistliche Musik durch das Haus klingen. In allen Séparées erwacht das Leben, und alle huschen eilig in den Waschraum, bevor der Rucksack geschultert wird und der große Auszug aus dem Kloster beginnt. Draußen ist es noch stockdunkel. Das Frühstück in der Casa Sabina wird zügig eingenommen, und schon geht es, immer noch im Dunkeln, los.

Am Ortsausgang sehe ich auf einem Schild, welche Strecke ich noch gehen muss. 790 km sind es mit dem Auto. Für mich also plus/minus so um die achthundert Kilometer. Hört sich viel an, aber ich habe schon fast 1900 Kilometer hinter mir. So gesehen ist das eine überschaubare Strecke. Vor allen Dingen, weil ich davon allein in diesem Jahr schon weit über eintausend Kilometer gegangen bin.
Die ersten Kilometer sind ganz eben. Audrey humpelt auf dem Weg. Ihr geht es nicht gut. Ich frage, ob ich helfen kann, aber sie schüttelt traurig den Kopf. Mir bleibt nur, ihr alles Gute zu wünschen. Die meisten Pilger wollen nach Zubiri. Plötzlich sehe ich, dass mein Schrittzähler nicht mehr funktioniert. Batterie? Nun denn, dann eben ohne. Die Entfernungen kann ich aus meinem Reiseführer herauslesen, und meine jeweils noch zurückzulegende Tagesstrecke kann ich abschätzen, wenn ich etwas mehr auf die Uhr schaue. Und das klappt dann, wie sich noch herausstellen wird, ganz gut.

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