Warum Kuba?

Warum Kuba?

Aquarelle, Skizzen und Gedanken einer Kubareise

Patrizia Lörtscher


EUR 17,90
EUR 10,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 174
ISBN: 978-3-99048-449-4
Erscheinungsdatum: 24.02.2016
Durchleben Sie mit der Autorin alle Höhen und Tiefen ihres dreimonatigen Aufenthaltes in Kuba! Ihr außergewöhnliches Tagebuch führt spannend, lehrreich und amüsant durch die faszinierende Karibikinsel, blickt aber auch in die Seele ihrer Bewohner.
Dienstag, 19. November

Am Vormittag holen wir noch den Besuch im Kubanischen Museum nach. Hier könnte ich täglich hinkommen und in den Farben baden.
Was die Augen so erfreut, passt meinem armen Fuß nicht automatisch. Ich hinke darum bald wieder heimwärts und versuche, ihn etwas zu schonen.
Bei Enrique daheim geht’s den ganzen Tag rund. Freunde und Besucher kommen und gehen. Ein kurzer Blick vom Balkon, bevor man unten öffnet, das habe ich schnell gelernt.
Für heute Abend hat Enrique sogar eine Torte bestellt, um eine kleine Fiesta zu geben und um mich halb Havanna vorzustellen.
Alles ist unkompliziert. Was genau auf dem Tisch steht, ist völlige Nebensache, wichtig sind hier die Menschen. Neuigkeiten, Halbwahrheiten und Gerüchte werden vermischt und ausgetauscht.
Wer weiß denn nachher noch, was Tatsache ist? Ein echtes Problem für mich hier in Kuba. Exakte Auskünfte kriegt man weder aus dem Internet noch aus einer Zeitung. Stehen zum Beispiel auf einem Flyer Zeit, Datum und Preis eines Konzertes, so ist die Info immer mit Vorsicht zu genießen. Und sollte sogar noch Regen dazukommen, gilt gar nichts mehr.

Sogar der Pfarrer in der Kirche wartet eine Stunde auf seine Schäfchen.
„Warum geht’s denn nicht los?“ – „Aber siehst du denn nicht, dass es regnet?!“
Die Schulzimmer bleiben verwaist, sollte es schon bei Tagesanbruch regnen. Schüler, Lehrer und sogar die Direktorin verbringen ihren Tag lieber daheim im Trockenen! Ich werde dies bei Gelegenheit meiner Schulleitung vorschlagen.
Der Mangel an zuverlässiger Information hat mich immer öfter an meine Grenzen gebracht. Was ist wahr? Was ist nur ein Gerücht? Was gilt für mich, jetzt, hier?
Öfter widersprechen sich zwei Aussagen völlig. Die richtige herauszufiltern, bleibt schlussendlich jedem selbst überlassen. Wenn man etwa nach dem Weg fragt, wird einem jeder Kubaner in irgendeine Richtung zeigen. Auch wenn er es nicht weiß, er würde es nie zugeben.
Auf einer Kreuzung standen ein paar Männer, die mir sofort freundlich meinen Weg wiesen. Verständnislos schauten sie mich an, als ich mich vor Lachen kaum erholen konnte, denn jeder Arm zeigte in eine andere Richtung.
Besonders über Nichtanwesende wird gnadenlos gelästert. „Blick“, „Gala“, „Sonntagspost“ und andere Klatschblätter werden so überflüssig und der Papierverbrauch bleibt tief. So weit, so gut.
Doch eines ist heute absolute Tatsache und der Beweis ist nicht schwer zu erbringen:
Wir haben in unserer Wohnung kein Wasser mehr!
Der Wasserhahn tropft noch etwas und versiegt schließlich ganz, die Toilettenspülung gurgelt, die Dusche gibt wie erwartet auch kein Tröpfchen mehr her.
Die technischen Details, die mir Enrique zu erklären versucht, sind nicht in meinem Grundwortschatz, und das Wasserversorgungssystem jeder einzelnen Wohnung Havannas ist für sich schon ein Mysterium für eine Schweizerin.
Murrend schleppt Enrique ein paar Eimer Wasser zu den neuralgischen Punkten und brummt immer wieder etwas von einem Reservetank, den man aus Spargründen bei der Renovierung weggelassen hat. Die nötigen Ersatzteile werden auch nicht gleich beim Baumarkt um die Ecke besorgt werden können. Also mache ich mich lieber gleich auf eine längere Trockenperiode gefasst. Kuba live!
Im Moment beschäftigt mich nämlich etwas anderes noch viel mehr: Es ist die Verlängerung meiner Touristenkarte.
Jeder Kubabesucher braucht eine solche Karte, um überhaupt einreisen zu können. Sie ist dreißig Tage gültig. Der Reiseveranstalter verrechnet sie mit, wenn man Flug oder Aufenthalte bucht. Wer privat verreist, kann sich schon beim Besorgen der Karte ein erstes Bild von Bürokratie und Willkür von Kubas Behörden machen. So lässt beispielsweise die Botschaft Reisende gleich das Doppelte für diese Karte berappen, wenn man sie per Mail bestellt, anstelle sie persönlich in Bern in der Botschaft abzuholen. Ach, und wenn, dann bitte nur vormittags, ach ja, und mittwochs ist geschlossen und bitte den Pass nicht vergessen …!
Jetzt steckt meine Karte glücklich in meinem Pass und ist ja auch noch bis zum 6. Dezember gültig. Meine Kuba-Kenner von Zuhause hatten mir versichert, man könne sie zweimal problemlos verlängern. Das bedeutete, dass sie bis zur Ausreise am 22. Januar 2014 locker reichen würde.
Doch heute erfahre ich etwas ganz anderes: Man könne die Karte nur einmal verlängern!
Wahrheit?! Gerücht?! Lüge?!
Die Informationsträgerin ist Ursula, eine Schweizerin, die mit allen Kuba-Wassern gewaschen ist und sehr glaubwürdig klingt, denn sie lebt schon lange in Havanna und kämpft selbst mit dem Fluch dieses Reglements.
Die Nachricht glüht in meinem Kopf. Ich ärgere mich schrecklich. Wie kann mir so was passieren? Wieso informieren die mich alle falsch? Schließlich dreht sich alles nur noch um diese Frage.
Soll ich nach zwei Monaten schon heim? Oder wie es mir Ursula rät und selbst macht: kurz nach Mexiko ausreisen, übernachten und wieder zurück nach Kuba?
Was kostet dieser „Spaß“ und wann wäre der beste Zeitpunkt?
Jetzt, da ich meinen Schlafrhythmus endlich gefunden hatte, liege ich wieder die ganze Nacht wach …


Mittwoch, 20. November

Ich gebe es ungerne zu, aber ich stecke bereits in meiner ersten persönlichen Kubakrise:
Wir sitzen auf dem Trockenen, Ausreisestress, Hinkefuß, Kühlschrank leer, seit Tagen keine SMS von meiner Tochter und Gabriela fliegt heute zurück.
Jetzt bin ich also in der Realität Kubas gelandet. Verloren sitze ich in der Küche vor meinem Tee, nicht mal Zucker habe ich gefunden, und übe mich im positiven Denken. Aber mit leerem Magen fällt mir das sehr schwer.
Ich habe erst eine leise Ahnung, wie schwierig es hier in Kuba ist, sich mit Nahrungsmitteln zu versorgen, denn bis jetzt saß ich ja immer wohlbehütet in einer casa und ließ mich bekochen. Hier aber gibt’s nur einen wackeligen Gasherd, drei kaputte Feuerzeuge und die Schränke voller rätselhafter Küchenutensilien.
Gestern hat mir Enrique zwar voller Stolz einige Läden in unserer Umgebung gezeigt, aber noch kann ich mir nicht vorstellen, dort Kunde zu werden.

Bei Martica wartet Gabriela schon auf gepacktem Koffer auf ihr Taxi. Sie versucht mich etwas aufzuheitern, aber konkret kann sie mir wenig helfen, außer dass sie meine Karten und Briefe mitnimmt und sie direkt der Schweizer Post übergibt.
Die kubanische Post hat dem Begriff „Zeit“ eine eigene Dimension gegeben. Wörter wie „unzuverlässig“ und „verspätet“ sind wohl noch weit zu optimistisch.
Ein Blick in eine große Schalterhalle ohne Warteschlangen und Kundschaft erstaunte mich bei einem meiner Habana-Vieja-Bummel: „Seltsam, das ist der erste Ort, wo niemand ansteht. Was befindet sich denn hier?“
„Ach, das ist bloß die Post. Es geht keiner mehr hin, wozu auch? Es kommt eh nichts an!“
Ich winke Gabriela nach. Sollte ich sie beneiden? In der Schweiz sind Aufenthalt, Einkauf, Versand, Reparatur und Kommunikation so selbstverständlich …!
Warum tust du dir das an? Warum musste es Kuba sein?
Fünf Minuten später hole ich Gertrudis in ihrer Wohnung ab. Vorsichtig taste ich mich die ersten drei Stockwerke hoch, abgebrochene Treppenstufen, fehlende Geländerstützen, miefiger Geruch. Zuoberst erblicke ich den Innenhof, auf den alle Wohnungstüren gehen, mit einem Glasdach zugedeckt. Ein seltsames Licht herrscht in diesem Haus, von überall her klingen Stimmen und Musik. Mir stockt der Atem und ich versuche, meine Abscheu nicht in meinem Gesicht erscheinen zu lassen. So müssen also die Habaneros leben? Ich schäme mich schon fast ob meiner kleinen Sorgen.
Die Wohnung selbst ist sehr groß für Gertrudis allein. Es sind vier Zimmer, aber die Möblierung ist spartanisch und alles ohne Tageslicht.
Sie bietet mir großzügig an, heute Abend bei ihr zu duschen, als sie von unserer Wassernot hört.
Hier duschen? Habe ich irgendwo einen Wasserhahn gesehen?
Weil ich merke, wie wichtig ihr dieses Angebot ist, nehme ich an. Zuerst aber drehen wir eine Runde durch Habana Vieja.
Am Malecón starten wir mit dem Fotokurs. Als Geschenk hatte ich ihr zu ihrem Geburtstag am 17. November meine alte Kamera überreicht. Die wichtigsten Knöpfe und Tricks lassen sich natürlich hier perfekt üben. Wo kann man stimmungsvollere Schnappschüsse machen als in Havanna?
Wir amüsieren uns prächtig. Von ihr übernehme ich ungehemmtes Herumblödeln, lautes Lachen und Schwatzen. Wir kichern wie Teenager über misslungene Bilder. Die ganze Spannung der letzten vierundzwanzig Stunden löst sich in Rauch auf. Que bueno.
Nach einem Pizzahalt starten wir mit der Duschaktion:
Fließendes Wasser hat es hier schon mal nicht. Woher sie das Wasser genau hat, hab ich nicht ganz durchschaut. So habe ich mir aus meinen Verständnislücken selbst zusammengereimt, dass auf dem Dach ein großer gemeinsamer Wasserbehälter sein muss, denn durch die Decke führt ein Schlauch direkt in eine königsblaue Wassertonne in der Küche. Von da schöpft sie immer wieder Wasser und erwärmt es in einem Behälter mit zentimeterdicker Kalkschicht auf dem Gasherd. Im Badezimmer steht eine weitere Wassertonne mit etwas kaltem Wasser, in diese leert sie so lange vom Aufgewärmten, bis wir es für duschtauglich befinden.
Mit einer Schöpfkelle leere ich mir das wertvolle Nass über die Haut, eine Seife, ein Luxusartikel für viele Kubaner, und ein Tuch liegen bereit.
Schnell mal duschen? Hier ist es ein Projekt! Entfernt erinnert mich das alles an die Dokusoap „Die strengsten Eltern der Welt“. Ob ich bald die Hühner und Schweine selbst schlachten muss?!
Lebensmittel suchen und kochen, duschen wie im Mittelalter, die Toilettenspülung mit dem Wassereimer, so schnell hat sich mein geordnetes Touristendasein umgewandelt in den typisch mühseligen Alltag der Kubaner.
Du wolltest ja was erleben, also beklag dich nicht! Zieh es durch und mach das Beste draus!
Dafür sind endlich wieder Neuigkeiten von daheim auf meinem Handy: Die ganze Familie samt Katzen ist wohlauf. Das hebt die Stimmung noch mehr, was macht es dann schon aus, wenn sich immer häufiger ein Geruch aus dem Badezimmer verbreitet und der Kühlschrank weiterhin leer ist? Denn dummerweise hat sich Enrique selbst auf Diät gesetzt. Er trainiert mit Hanteln, statt zu essen. Als gestählter Schönling will er in einem Monat zurück in die Schweiz. Tja, Pech für mich und meinen Hunger.

Die Sorge mit der Verlängerung der Touristenkarte spukt natürlich immer wieder durch meinen Kopf. Überall ziehe ich Erkundigungen ein, aber leider wird mein Albtraum bestätigt: In Havanna kann man nur ein Mal verlängern.
Ich werde erst einmal darüber schlafen, dann schaue ich weiter.


Donnerstag, 21. November

Bei uns gleich um die Ecke ist mein wundervoll renoviertes Lieblingsplätzchen, die
Plazuela del Santo Angel, und ein neues Lokal, in dem es sündhaft teuren Cappuccino gibt. An diesem schönen Fleck Havannas wurde auch ein Video von Descemer Bueno, meinem Lieblingssänger, gedreht. Da setze ich mich hin, schlürfe das Getränk genüsslich und dazwischen skizziere ich andere Touristen. Langsam sind Auge und Hand wieder ein eingespieltes Team, die Linien fließen endlich lockerer. Auch auf der Insel mit dieser dichten Kreativität ist noch kein Meister vom Himmel gefallen.
Immer ärgert es mich, wenn die Touristen ihre Ferienwelt nur durch den Sucher oder das Display betrachten. Ganz so extrem wie mit den Asiaten in Luzern ist es hier nicht. Aber als Hobbymalerin betrachte ich die Dinge und Menschen intensiver. Wenn ich mich eine halbe oder eine ganze Stunde mit einer Landschaft beschäftigt habe, so könnte ich das Produkt eigentlich wegwerfen, denn das Bild ist in meinem Herzen.
In der Wohnung in der calle Habana ist der übliche Trubel von Besuchern, laut und unkompliziert, eben Kuba. Auf einem Kulturblatt habe ich zufällig die Ansage für das Konzert eines Chores entdeckt, der vor zwei Jahren in Luzern zu Gast war. Bernhard hatte damals die Tournee organisiert.
Jetzt stehe ich vor der Kirche San Francisco, es herrscht Gedränge. Konzertbesucher ohne Ticket wie ich stehen sich die Beine in den Bauch, während massenweise geladene Gäste an uns vorbei in die Kirche schlüpfen. Fast will ich schon aufgeben, als wir endlich auch eingelassen werden.
Die Stimmen der etwa dreißig Sängerinnen und Sänger füllen den Raum. Hier sind begnadete Musiker am Werk, wie schwerelos reihen sie Lied an Lied, wechseln Rhythmus, Stil, Sprache, jeder Laut und Ton ohne Hilfe eines Notenblattes.
Ich lasse mich verzaubern und vergesse meine momentanen Kümmernisse. Sogar „unser“ Lied singen sie zum Abschluss. Wie ein weltumspannender Regenbogen von Luzern bis Havanna klingen die Melodien von Juramento in meiner Seele nach, es ist unbeschreiblich.
Auch Enrique ist verspätet reingehuscht, holt sich meine Kamera und hält alles für meine Chorfreunde in der Schweiz fest.
Der Abend endet unschön. Er legt erstmals eine Tatsache offen, mit der jeder Kubabesucher früher oder später konfrontiert wird, wenn er einheimische „Freunde“ hat:
Der Tourist bezahlt, die Kubaner schlagen sich auf seine Kosten die Bäuche voll.
Kultur- und Sprachunterschiede führen heute zu Missverständnissen. Ich bin sauer, fühle mich ausgenutzt und plötzlich scheint mir alle Freundschaft nur kalte Profitgier.
Ja, das hat mir in dieser Woche gerade noch gefehlt. Der Einzige, dem ich klagen kann, ist Ruedi, keinen anderen ertrage ich heute noch. Er versichert mir, dass die Welt morgen wieder anders aussieht. Was heißt morgen, es ist schon zwei Uhr!


Freitag, 22. November

Es hat wieder Wasser! Duschen, waschen, spülen, kochen, Abwasch, alles macht echt Freude! Ich habe zwar immer noch nicht begriffen, wieso, aber was spielt denn das jetzt noch für eine Rolle?
Gegen Mittag ziehe ich mit Gertrudis zum Morro, die geschichtsträchtige Befestigung am Eingang des Hafenbeckens von Havanna. Um dahin zu gelangen, fährt man mit einem Bus unter der Meerenge durch einen kurzen Tunnel und steigt zum Morro hoch. Riesen Ungetüme von rostigen Kanonen richten sich immer noch gegen Norden und zeugen von unruhigen Zeiten. Auch wer sich nicht für Eroberungszüge von Spaniern und Engländern interessiert, hat von hier aus einen göttlichen Ausblick auf Havanna.
Von der Ferne erkennt man weder Zerfall noch Gerüste. Majestätisch überragt die Kuppel des Capitolio die Hauptstadt. Seltsam, wie oft war ich schon am Hafen und am Malecón, noch nie habe ich ein Schiff ein- oder auslaufen sehen!
Auch an den Traumstränden für Touristen gibt es nur wenige Schiffe und Fischerboote, gar keine Jet-Skis und nur vereinzelt Surfbretter.
Ich erinnere mich an eine Bemerkung von Angel, als ich ihn darauf ansprach.
„Wo denkst du hin? Mit einem Surfboard könnte jemand Richtung Miami abhauen! Selbst die Kubanische Marine besitzt kein einziges Schiff.“
Er lachte sich halb tot.
Das war doch wohl ein Scherz?! Und wir wären wieder bei der Frage angelangt, was man einem Kubaner glauben kann.
Tatsache ist, dass Gertrudis in ihren neunundfünfzig Lebensjahren noch nie hier war. Ich versuche, mich nicht allzu erstaunt zu zeigen. Wie kann man in Havanna leben und den Morro nicht kennen?
Immer mehr wird mir bewusst, in welcher eigenen kleinen Welt die meisten Kubaner leben.
Das Wort „Hobby“ hat hier keine Bedeutung. Wer nicht gerade arbeitet, ist auf Lebensmittel- oder Kleidersuche, wenn man nicht mit dem Lösen von Familienproblemen beschäftigt ist, trifft man Freunde. Aber Hobbys? Alle hier träumen vom Reisen, nur wenige haben seit den Neunzigerjahren ihre Heimatstadt verlassen können. Kuba selbst kennen sie sehr spärlich, Auslandsreisen sind ohne zahlungskräftige Freunde oder Familienangehörige außerhalb Kubas gleich utopisch wie ein Trip zum Mars.
Zurück in Habana Vieja schaffe ich es irgendwann, die ewig quasselnde Gertrudis nach Hause zu schicken, und erhoffe mir einen Moment Ruhe mit meinem Tagebuch und Ruedi.
Aber nichts da, die Bude ist voll, und irgendwann meldet jemand Hunger an. Ich schaffe es, Spaghetti mit Tomatensoße zu kochen. Wieder ein kleiner Schritt in die Normalität und Selbstständigkeit.
Um zehn Uhr abends sind plötzlich alle weg. Na so was? Hatte ich mir so meine Reise vorgestellt? Ja, ich bin glücklich, sauge wie ein Schwamm alle Eindrücke auf, nie fühle ich mich hier fremd oder im falschen Film. Und morgen will ich das Problem mit der Verlängerung anpacken.


Samstag, 23. November

Ich mache mich also bald auf zu einem Reisebüro-Marathon. Wie ich nach einigen Etappen erfahre, ist jede agencia nur für ganz begrenzte Angebote zuständig. Nach jeweiliger Warteschlaufe werde ich zur nächsten Station geschickt, aber wer weiß schon genau, wer meine Wünsche wirklich erfüllen kann?
Beim Hotel Plaza bekomme ich freundlich Auskunft. Die billigste Variante sei ein Flug zu den Bahamas, eine Übernachtung ist im Preis von 300 CUC enthalten!
Dauernd blättert die Angestellte in einem Ordner hin und her, ihre Finger sausen Zahlenreihen rauf und runter. Ich solle, um definitiv zu buchen, am Montag wiederkommen, jetzt gehe das nicht mehr. Die Frage nach dem Warum kann man sich wie immer sparen. Es ist halt einfach so. Punkt.
Ich setze mich nachher ins Atelier von Martalena. Drei bis vier Künstler arbeiten hier, in verschiedenen Räumen sind die Wände übervoll von Gemälden, Collagen und Drucken. Die zwei einzigen wohlgenährten Katzen Havannas machen sich auf den bequemsten Sesseln breit und schauen auch hochnäsig von fast jedem Bild Martalenas auf den Betrachter herab.
Ich skizziere die Chefin des Ateliers und einen stark erkälteten Besucher, der sich nicht begeistert über das Gesundheitssystem äußert.
Beide haben schrecklich müde Augen und tiefe Tränensäcke. Mein Bleistift ist gnadenlos und neigt nicht zum Schmeicheln.
Sie habe große Schlafprobleme, erklärt mir Martalena, seit einem Nervenzusammenbruch nehme sie immer Schlaftabletten. Sie erzählt mir, dass ihre beiden Kinder kurz nacheinander ausgewandert seien. Das habe sie fast nicht verkraftet. Um morgens wieder wach zu werden, schluckt sie ebenfalls Medikamente.
Mich wundert es, wie sie mit ihrem trüben Blick so farbenfrohe und witzige Bilder malen kann. Und kochen kann sie auch, denn unverhofft sitze ich später an ihrem Küchentisch. Zur Malerrunde gesellt sich noch ein tätowierter ehemaliger Seemann aus Dänemark, der jetzt im Ruhestand malend seine Winter in Kuba verbringt. Wow, genau das wäre mein Traum!
Später zieht es mich weiter durch die calles von Habana Vieja. An jeder Ecke vertraute Gesichter, jeder hat Zeit und freut sich über Neuigkeiten. Angel ist immer ein Thema, Gerüchte über seine Rückkehr jagen sich. Will ich ihn überhaupt wiedersehen? Egal, bis er in Havanna ist, bin ich schon lange wieder weg.
Mit meinem Skizzenblock sitze ich wieder mal im Montserrate und versuche die Stimmung festzuhalten. Ich bin viel entspannter ohne Angel, seine Sucht hat ihn leider unberechenbar gemacht. Seiner genialen Musik wenigstens hat der Rum keinen Abbruch getan.
Der Trompeter Ivan erzählt mir von seinem früheren Arbeitsplatz im Tropicana. Sieben Tage pro Woche spielte er, für den gleichen Lohn wie hier: 15 CUC pro Monat. Jetzt muss er wenigstens weniger arbeiten und hat noch Chancen auf etwas Trinkgeld.
Er fragt immer wieder besonders interessiert nach meinen Ausflügen, Cayo Largo, Santiago de Cuba oder Baracoa, welches ich hoffentlich bald sehen werde. Er hat nämlich in seinem Leben Havanna kaum verlassen, kennt außer den Stränden von Playa del Este hier um die Ecke kaum etwas von seiner Heimatinsel.
Dass ich als Touristin von Kuba mehr gesehen habe als die meisten Einheimischen, begreife ich kaum. Ich muss mir jedes Mal auf die Zunge beißen, um mir bissige Bemerkungen über ihre Regierung zu verkneifen.
„¡Increíble!“, ist mein einziger Kommentar auch diesmal. Unglaublich!
Auf dem Heimweg mache ich einen Großeinkauf: Instantkaffee, Kondensmilch, Wasser, einige Tomaten und eine Avocado fast so groß wie eine Melone.
Zum Sonnenuntergang will ich am Malecón ein paar stimmungsvolle Bilder aufnehmen. Erst im Gegenlicht der untergehenden Sonne zeigt sich der Reiz dieser weltberühmten Uferstraße.
Immerhin, während der Dämmerung ist es dieser Stadt vergönnt, ihren Zustand zu verbergen. Ganze Häuserreihen sind am Malecón zerfressen wie bröselnde Zähne. An keinem anderen Ort der Welt gewährt man Gebäuden so lang bis zu ihrem schließlichen Einsturz das Recht auf Verwitterung, Schwäche und Zerfall.
Besonders die Menschen könnte ich pausenlos ablichten, das getraue ich mich aber nicht. Nur ein paar arg pubertierende Girls werfen sich gerne in Pose und zeigen sich begeistert über das Resultat.
Eines der Mädchen bestätigt mir, dass es gleich alt ist, wie meine Sechstklässler daheim. Hab ich’s doch geahnt, denn ihr aktuelles Hormonchaos hat interessanterweise hier die gleichen Symptome wie auf der anderen Seite des Atlantiks, wenn Jungs in Sichtweite sind …
Gegen acht Uhr taucht Gertrudis wieder in der calle Habana auf. Zünftig aufgetakelt wünscht sie, zum Abendessen ausgeführt zu werden. Ihre aufsässige Art und ihr Kleidungsstil gehen mir langsam, aber sicher auf die Nerven. Ständig plappernd will sie mich vor all dem Übel und den Schmarotzern Havannas bewahren. Herrgott, merkt sie denn nicht, dass sie selbst perfekt in diese Schublade passt?
Sie lästert über Enrique und andere meiner Freunde, würde mich am liebsten vierundzwanzig Stunden lang bemuttern, beraten und beschützen. Aber wie soll sie das denn machen? Selbst hat sie ja keine Erfahrung mit dem Amt für Emigration oder dem Buchen von Flügen.
Mit Erstaunen muss ich feststellen, dass hier jeder jedem misstraut, wenn man nicht gerade blutsverwandt ist. Mit Betrügereien muss man sich irgendwie über Wasser halten. Wirklich kriminell sind aber die wenigsten, doch wie soll man denn ein paar pesos ergaunern, wenn nicht vom Nachbarn?
Es soll das letzte Mal sein, dass ich sie zum Essen einlade.

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Brigitta Frank-Weinelt

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