Was sein will, ist im Werden

Was sein will, ist im Werden

Leitfaden für ein integriertes Selbsterleben

Michael Worsch


EUR 22,90
EUR 18,99

Format: 14,5 x 20,5 cm
Seitenanzahl: 396
ISBN: 978-3-99131-715-9
Erscheinungsdatum: 24.11.2022
Selbsterleben ist eine Reise zum Herzen und von dort ins Freie. Folgen wir der Sehnsucht, können wir uns entfalten, wie es der eigenen Bestimmung entspricht. Was sein will, ist im Werden!
Einleitung

Was ist ein Leitfaden? Dieser zieht sich als Orientierungslinie durch Phasen unseres Lebens. Er ist auch ein Garn, aus dem der Stoff für Erzählungen gewoben wird. Und schließlich ist er ein Symbol für die Sinnbildung, wo es um das Erkennen und Herstellen von Zusammenhängen geht. Unüberschaubar ist die Vielzahl an Publikationen zum Begriff des Selbstkonzepts. Meine persönliche Auffassung leitet diese Abhandlung ein. Was ist ein Selbstkonzept? Am ehesten lässt es sich als Resümee sämtlicher Erfahrungen, des Wissens um einen selbst, sein Denken, Fühlen und Handeln verstehen. Unendlich viele Aspekte und womöglich unaufgelöste Konflikte bilden ein Netz aus Erfahrungswissen, Wünschen und Sehnsüchten, Hoffnungen und Befürchtungen, Interessen und Bedenken. Das Selbstkonzept ist auch eine Art Fundus für gelungene und misslungene Strategien, gleichsam die Konsequenz aus Versuch und Irrtum im Laufe des Lebens. Insofern ist das Selbstkonzept modifizierbar. Durch aufwühlende Ereignisse und erschütternde Vorfälle kann es zu Verwerfungen des bisherigen Selbstkonzepts kommen.

Wer sind wir und wie viele, wenn Gestalten auf der inneren Bühne in Dialog treten? Ich orientiere mich unter anderem am Ego-State-Modell nach Watkins und Watkins (2012). Es scheint so, dass aktuelle Konzeptionen des Selbst den Begriff der Identität modifizieren, insofern Identität einst als stabile Selbstgleichheit galt. Tendenzen in diese Richtung begannen Teilidentitäten und postmoderne Identitätskonstruktionen (Keupp et al., 1999) in den relevanten Diskurs aufzunehmen. Heute weist die gesellschaftliche Komplexität in Bezug auf Gender und Queer Dekonstruktionen normativer Identitätskonstruktionen auf. Anlässlich steigender Komplexität vermag psychotherapeutische Arbeit die Integration von Partialkonzepten des Selbst zu fördern. Daher werde ich mich mit dem integrierten Selbsterleben und dem kontrastiven Selbstkonzept befassen, das ich vom negativen Selbstkonzept unterscheide.

Ein integriertes Selbsterleben verstehe ich als Prozess, der fortlaufend zu Stimmigkeit und Konsistenz führt. Ein kontrastives Selbstkonzept zeichnet sich hingegen durch Trennwände zwischen konformen und non-konformen Verhaltensweisen aus. Wie ich erläutern werde, sehe ich dieses Konzept als ein in der Regel vorgängiges Modell, um mit den Widersprüchlichkeiten zwischen Innen und Außen zurande zu kommen. Insofern befinden sich Selbstgefühl, Selbstbild und Selbstwert miteinander im Clinch, was für Betroffene und ihre Bezugspersonen anstrengend sein kann. Folglich interessieren mich über weite Strecken vorliegender Arbeit Formen von Ambivalenz und Ambivalenzspaltung.

Wohin geht die Reise?
Für ein nahtloses Gewand braucht es einen passenden Stoff, den der Leitfaden für ein integriertes Selbsterleben weben soll. Es liegt der Schluss nahe, dass Lebenskunst erst damit beginnen kann, ein integriertes Selbsterleben zu realisieren, wenn Emotionen unmittelbar und strukturell an Symbolisierung gekoppelt werden können. Auf dem Feld der Kunst ist vieles davon möglich. Doch es bedarf therapeutischer Kompetenz, um Emotionalität und Symbolisierung im Sinne der Mentalisierungspraxis strukturell zu koppeln. Strukturelle Koppelung bedeutet, dass sich Komponenten und Funktionen, mehr als nur Relationen, zu einem System organisieren lassen. Ein komplexer Prozess, der Kompetenz in Hinblick auf die Selbstregulierung abverlangt.

Insofern ist ein integriertes Selbsterleben die dynamische Organisation auch zuwiderlaufender Tendenzen. Integration kann vorankommen, wenn zwischen Polaritäten eine Synthese gelingt und Ambivalenz nicht mehr zu Spaltungen führt. Ambivalenz ist daher ein wesentlicher Faktor, den es zu modifizieren gilt. Das bedeutet an erster Stelle die Haltung zu inneren Konflikten sowie den Umgang mit äußeren Konflikten. So beinhaltet Selbstregulierung betreffend Konflikte auch Lösungskompetenz und Multiperspektivität als Voraussetzung für Ambiguitätstoleranz, ein Zulassen von Mehrdeutigkeit. Naturgemäß betrifft dies sowohl kreative als auch soziale Kompetenzen.

Welche Trajektorie (Anziehungskraft) dirigiert die generelle Ausrichtung von uns Menschen? Es ist unsere Wachstumstendenz, die qualitativ zu verstehen ist. Wenn qualitatives Wachstum zutreffen soll, dann impliziert dies (in Anlehnung an die Physik) Syntropie im Unterschied zu Entropie. Es ist im Hinblick auf den Unterschied zwischen integriertem Selbsterleben und kontrastivem Selbstkonzept naheliegend, die unzureichende Integration widersprüchlicher Facetten von der lebensgeschichtlichen Entwicklung her zu sehen. Integration erfordert in allen Fällen die Ablöse affektiver Überwältigung durch Symbolisierungsprozesse. Mentalisierungspraxis realisiert sie mithilfe kunstaffiner Gestaltungsmittel. Integration verweist auf eine holistische Tendenz von Wachstum, die regulative Zielvorstellung meines transdisziplinären Konzepts.

Ein holistisches Verständnis
Ein holistisches Verständnis sieht nicht nur globale Zusammenhänge, wie wir sie heute kennen, sondern ist ein Modell, das durch die Spekulative Philosophie von Alfred North Whitehead (1984) artikuliert wurde. Holismus als Überbau systemischen Denkens übersteigt unseren heutigen Horizont. Ich erachte ihn als Entwurf, wobei es für das Verstehen psychischer Selbstorganisation erheblich ist, biologische, soziale, kulturelle und transzendentale (spirituelle) Komponenten zu berücksichtigen. Ich deute den Begriff ‚Selbst‘ nicht adäquat als ‚Seele‘. Allemal bedeutet ein holistisches Verständnis seelischer Wirklichkeit, dass es sich um Felderfahrung handelt, die nicht beim individuellen Ichbewusstsein und seinem begrenzten Wissenshorizont haltmacht. Indem das ‚Selbst‘ im Grunde eine rückbezügliche Bezeichnung für ‚Eigenes‘ darstellt, lässt sich der Begriff ‚Seele‘ durchaus überindividuell und transpersonal auffassen. Mein Ansatz schließt ein Vorleben und Nachleben jener Entität, wie die ‚Seele‘ hinlänglich vorgestellt wird, aus. Meine Auffassung verweigert sich jedoch nicht der Annahme, dass es sich bei der seelischen Wirklichkeit um ein allumfassendes Informationsfeld handeln könnte.

Spekulationen über ein ‚wissendes Feld‘ sowie zahlreiche Phänomene im Kontext von Aufstellungen legen die Vermutung nahe, dass repräsentierende Wahrnehmung eine Informationserfassung ermöglicht, die nicht auf das subjektive Ich von Menschen beschränkt ist. Weiterreichende Spekulation betreffen den Begriff ‚Weltgeist‘, der von Friedrich Hegel (Taylor, 1983) stammt. Dieser große Geist gestaltet das Universum in der Weise, dass sich durch das Bewusstsein des Menschen das Universum explizit selbst reflektiert. Einen Schritt weiter in diese Richtung öffnet sich die Tür zum Mystizismus. Ich denke da an erster Stelle an Meister Eckhart.

In einer langen Reihe religiöser und spiritueller Traditionen positioniert sich Veit Lindau (2018), die Energie des Universums sei schlicht Liebe. Richard David Precht referiert diesbezüglich über den Logiker Charles Sanders Peirce (1839-1914). Die zentrale formende Kraft erkennt Peirce in der Liebe und für ihn ist sie untrennbar mit der Natur verbunden. Precht referiert: „Allein durch die Kraft der Liebe entwickelt sich die Evolution immer höher“ (Precht 2019, S. 461). Dies ist eine adäquate Vorstellung von Syntropie. Liebe wie Seele könnten demnach Felderfahrung vermitteln, die jene Allverbundenheit zu erkennen gibt, die auch mit dem übereinstimmt, was Wilhelm Schmid sagt: „Der Sinn der Liebe ist, dass sie Sinn schafft!“ (Schmid 2017, S. 21). Zudem orientiere ich mich am Buch der Wandlungen (Wilhelm, 1986), am Taoismus, der die großen Wechselwirkungen im Gleichgewicht der Gegensätze beschreibt.

Schluss mit dem Benutzen
Dieser Titel soll in aller Deutlichkeit darauf aufmerksam machen, welche Beweggründe mich zu meinem Engagement für Menschen veranlasst haben, die sich zutiefst wünschen, dass ihnen Liebe widerfährt, jedoch immer wieder an jemanden geraten, bei dem sie sich nach einer gewissen Zeit als benutzt erkennen. Colin C. Tipping empfiehlt in seinem Buch Ich vergebe (2010) einen radikalen Abschied vom Opferdasein. Sein Ansatz durchquert das konstruktivistische Paradigma, wonach wir gefühlte Wirklichkeit erzeugen, indem Überzeugungen sie konkretisieren oder in anderen Worten das manifestieren, was es seelisch und gefühlt zu lösen gilt. Aber auch aus psychoanalytischer Sicht sind wir zur Zurücknahme von Projektionen und Auflösung von Abwehrkonstellationen angehalten, die mit Schuldzuweisung und Wiedergutmachung korrelieren. Einfach gesagt, es gibt nichts zu richten, zu erzwingen, zu bedauern.

Wenn wir uns dabei ertappen, dass wir projizieren, können wir realisieren, dass wir wieder einmal rechthaben wollen, dass dahinter Urteile walten, die auf Genugtuung aus sind, für etwas, von dem wir glauben, dass es uns angetan wurde, obwohl es einfach geschah und nicht der Bedeutung entsprach, die wir diesbezüglich hineingelegt haben. „Häufig finden wir Menschen, die unseren auf sie projizierten Selbsthass nicht nur annehmen, sondern verstärken, indem sie ihn auf uns zurückprojizieren. Ein solches Verhältnis nennen wir ‚co-abhängig‘. Der Partner erfüllt die Funktion, den Mangel in uns zu kompensieren, indem er ständig wiederholt, dass wir in Ordnung sind. So vermeiden wir das Schamgefühl, dass wir so sind, wie wir sind. Wir tun im Gegenzug dasselbe. Beide lernen, sich gegenseitig durch eine stark an Bedingungen geknüpfte Liebe, die auf den darunter liegenden Schuldgefühlen beruht, zu manipulieren. In dem Moment, in dem uns die andere Person ihre Bestätigung entzieht, sehen wir uns wieder mit unserem Schuldgefühl und unserem Selbsthass konfrontiert. Dann bricht alles in sich zusammen. Liebe verwandelt sich unmittelbar in Hass, und jeder Partner greift den anderen an“ (Tipping 2010, S. 93).

Dass wir uns Entschuldung von anderen nicht mehr erwarten, sie für ihren Widerstand nicht ablehnen, dass wir keine Genugtuung fordern, wo wir enttäuscht werden, dass wir letztlich aus Anschuldigung, vorwurfsvoller Anklage und Beziehungsabbruch nicht den Schluss ziehen, erneut zum Opfer geworden zu sein, das ermöglicht allein die Auseinandersetzung mit dem Schatten in uns, aus dem heraus wir nicht nur einstecken, sondern auch heftig austeilen. Nur die Zurücknahme der übermäßigen Bedeutung, die wir uns für den Anderen zuschreiben, macht uns offen für den Sinn der Liebe, befreit von Erklärungsmodellen, mit denen wir recht haben wollen.

Meine Metapher zum Selbsterleben
Ich möchte mein Verständnis von Ich und Selbst mit einer Metapher vorstellen. Ich verstehe das Ich als Konstrukteur der komplexen Architektur psychischer Selbstorganisation. Indem Freud darauf hinwies, dieses ‚Ich‘ sei nicht Herr im eigenen Haus, deute ich aus heutiger Sicht die Lage folgendermaßen: Substrukturen der Architektur entsprechen Räumlichkeiten in diesem Gebäude. In dessen Räumen logieren Selbstanteile, die insgesamt vom Selbstsystem zur Selbstwertregulierung laufend organisiert und reorganisiert werden müssen, um letztlich dem integrierten Selbsterleben des Ich als Konstrukteur und Organisator möglichst wenig Schwierigkeiten zu bereiten. Doch verhalten sich manche Selbstanteile wie Störenfriede, da sie sich sowohl untereinander als auch in Bezug auf den Hausherrn nicht anstandsgemäß gebärden. Insofern werden diese besonders unliebsamen Bewohner in den Keller gesperrt. Andere greifen in das Regime des gestressten Gastgebers von den oberen Penthouse-Departements her ein, erheben relativ hohe Ansprüche und sparen nicht mit Kritik an den Gepflogenheiten der Haushaltsführung.

Manche Selbstanteile, deren Herkunft aus Beziehungsgeschichten mit der Außenwelt stammt, erweisen sich als bedürftig und maßloser als die Bewohner des Dachgeschosses. Wieder andere planen Aufstände, aus Gründen, die sich der Einsicht des Eigentümers vollständig entziehen. Wie ich die Metapher einlösen will, soll sich im Laufe der Abhandlung weisen. Dazu sind auch die Theoriehinweise im Anhang jedes Kapitels gedacht. Ich will vorausschicken, dass das ‚Ich‘ durch seine Funktionen bestimmt ist und als Konstrukteur der Selbstorganisation, als Bauherr der Architektur, teils aus Identifizierung, Imagination und Instinkt, jedenfalls als Urheber von Subjekt- und Objektprozessoren (Moser, 2008) zu verstehen ist. Kein leichter Job.

Im Anhang zur Einleitung verweise ich auf Konzepte der Ich- und Selbstpsychologie. Daniel Hells Anmerkung zum Spannungsfeld zwischen Selbstbild und Selbsterleben kündigt an, inwiefern ich auf mein Konzept zweier Regime des Ichbewusstseins und dessen geteiltes Selbsterleben gekommen bin. „Um das ursprüngliche seelische Selbsterleben lagern sich im Selbstbild die verschiedensten Schichten der historischen und biografischen Sozialisation ab. Was wir so als ‚Selbst‘ bildlich wahrnehmen, besteht nicht mehr nur aus unseren Gefühlen und Empfindungen, sondern auch aus den Vorstellungen und Reflexionen, die wir von Vorbildern übernehmen. […] Wird das Selbstbild für einen Menschen wichtiger als das Selbsterleben, erhält es eine Macht, die einen Menschen erdrücken kann. Kaum etwas anderes macht einen Menschen psychisch so verletzlich wie ein rigides oder überforderndes Selbstbild, das der Seele keinen Raum lässt“ (Hell 2013, S. 22-23). Hell nennt es ‚Selbsterleben‘, ich nenne es Selbstgefühl.

Die Organisationsstruktur des Systems Ich
Wer „Ich“ sagt, meint sich selbst. So ist das sprachgebräuchlich. Diese Selbstbezeichnung verweist auf die Urheberschaft des Subjekts. Und nur ein Ichbewusstsein kann dies sagen, denken, fühlen. In anderen Worten: Das Ich organisiert Wirklichkeit. Doch fordern zwei Fronten dieses Ich. Es gilt ein Regime gegenüber dem Außen zu errichten. Das handelnde Ich ist Organisator der Umweltbeziehungen. Ich nenne es das weltbezogene Ich. Das zweite Territorium dehnt sich nach innen aus, betrifft die Innerlichkeit des Subjekts. Auch sie will wahrgenommen sein. Daher nenne ich diese Ausrichtung des Bewusstseins das selbstbezogene Ich. Im Grunde ist das Ich strukturell einheitlich, nur seine Funktionen wechseln: Es richtet die Aufmerksamkeit nach außen, dann wieder nach innen. Im günstigen Fall gelingt die Oszillation zwischen den beiden Funktionen. Das ist ein komplexes Aufgabenspektrum.

Indem das Ich Wirklichkeit organisiert, verkürzt gesagt, Eindrücke aufnimmt und Ausdruck dafür finden soll, wird es sich dementsprechend auch dem Erleben, nicht nur dem Handeln, widmen. Aus diesem Grund systematisiert das Ich sein Selbsterleben. Wie ich mit meiner Metapher gezeigt habe, und Freud zustimme, ist das Ich nicht Herr im eigenen Haus. Mit dieser Gegebenheit interner Schwierigkeiten versucht das Ich auch, im Binnenraum ein Regime zu errichten. Es läuft da draußen nicht immer alles so, wie es locker zu verkraften wäre. Eindrücke erwirken schwer verdauliche Erlebnisse. Manches, was sich in der Welt ereignet, lässt sich durch das selbstbezogene Ich zur Aufrechterhaltung der Hausordnung nur dadurch bewerkstelligen, dass es zwar Ereignisse nicht verhindern, aber Erlebnisse verdrängen kann. Zu diesen Erlebnissen zähle ich in erster Linie die Enttäuschung von Wünschen und Erweckung von Ängsten. An dieser Feststellung lässt sich bereits erkennen, dass die Binnenstruktur des Ichbewusstseins zwei Erlebnisweisen organisiert.

Ich verwende im Lauf der Abhandlung zwei Formen des Selbsterlebens, die ich nun vorstelle. Ich fange mit jenen Erlebnissen an, die das selbstbezogene Ich in den Keller sperrt, weil sie das weltbezogene Ich bei seiner Arbeit stören. Diese Erlebnisweise nenne ich das Selbsterleben in Wahrheit. Davon ist abzulesen, dass abzüglich der weggesperrten Erlebnisse die weltbezogene Seite den Namen Selbsterleben aus Gewohnheit verdient. Der Vorteil dieser zwei Namen soll sich als handhabbar erweisen. Es besteht die Möglichkeit, Erlebnisweisen wegzusperren, sie auf ihre Grundmotive hin zu prüfen, letztlich alle Erlebnisse zu einem einheitlichen Selbsterleben zu verknüpfen, worunter ich das integrierte Selbsterleben verstehe.

Um die Situation andersherum zu beschreiben: Was hinlänglich als Authentizität bezeichnet wird, verstehen wir auch als Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit uns selbst, manchmal auch anderen gegenüber. Dies würde bedeuten, dass sich die beiden Erlebnisweisen gegenseitig nicht ausschließen. Ich möchte dieses Verständnis nachschärfen. Das weltbezogene Ich orientiert sich ausschließlich an Ereignissen in der Außenwelt und ist dadurch strukturell mit Handlungen, Auftreten, Erscheinen und nicht zuletzt mit ‚Ankommen‘ befasst. Der Ertrag dieses Wirkens für den Selbstwert und das Selbstbild füllt das Selbsterleben aus Gewohnheit wie einen Speicher.

Ist der Speicher voll, fühlen wir uns gut, ist er wenig befüllt oder leer, fühlen wir uns schlecht. Das selbstbezogene Ich befasst sich mit diesem Ertrag und den im Speicher befindlichen Erlebnissen. Nun hat es strukturell die Aufgabe, diese Erlebnisse auf die Grundbedürfnisse, Wünsche und Selbstachtung hin zu prüfen. Das Ergebnis dieser Prüfung ist in dem Fall das Selbsterleben in Wahrheit, oftmals als Selbstgefühl benannt, welches Wohlbehagen und Stimmigkeit signalisiert, weil der Selbstwertpegelstand hoch ist. Andernfalls, weil das Ergebnis der Prüfung Unbehagen und Unstimmigkeit signalisiert, werden Aspekte des Selbsterlebens in Wahrheit in den Keller gesperrt. Was den Selbstwert stabilisieren und das Selbstbild intakt erscheinen lassen soll.

Wenn das Wirken im Außen und das Fühlen im Innen übereinstimmen, dann wurde nichts in den Keller gesperrt. Es handelt sich um integriertes Selbsterleben, das sich stimmig anfühlt. Es lässt sich erahnen, was es bedeutet, wenn das Selbsterleben in Wahrheit keinen Einlass ins Selbsterleben aus Gewohnheit findet. Die Bedeutung des Wirkens nach außen und der Erfolg von Anpassung an die Umwelt werden übergewichtig. Stellen wir uns vor, eine Persönlichkeit orientiert sich vornehmlich an Wirkungen im Außen und vernachlässigt deren Überprüfung in Bezug auf das Selbstgefühl. Wie Alexander Lowen (1986) sagt, investiert das Ich nur noch ins Image (engl.). Dieser Begriff ist vom inneren Bild Image (franz.) zu unterscheiden.

Falls das selbstbezogene mit dem weltbezogenen Ich verwechselt wird oder sie gegeneinander ausgetauscht werden, entsteht ein schwerwiegendes Problem. Dadurch ist die Verleugnung des Selbstgefühls nicht ausgeschlossen. Es gibt einen Trick. Ich gehe von einem kontrastiven Selbstkonzept aus, wenn es dem Subjekt gelingt, sich gleichsam in zwei Welten, wenn nicht daheim seiend, so zumindest abwechselnd hin und her zu bewegen. Wir können uns das so vorstellen: Jemand wirkt mit Erfolg des weltbezogenen Ichs und von daher im Selbsterleben aus Gewohnheit gut angepasst an die Realität, während er oder sie das Selbsterleben in Wahrheit gut kennt, nicht in den Keller sperrt, sondern in eine Gegenwelt verlegt. Das, so meine ich, verdient die Zuschreibung kontrastives Selbstkonzept. Ich sage dazu vereinfacht heimliches Selbst. Kontrastiv bedeutet ein heimliches Selbsterleben in Wahrheit, das schon in harmloser Tagträumerei seinen Ausgang nimmt, um auf Kurzurlaub – mit Abstand von Forderungen des Alltags und konventionellen Realitätserfahrungen des Selbsterlebens aus Gewohnheit – Bedürfnisse und damit Entgrenzung auszuleben. Diese Entgrenzung schließt naturgemäß, wie es beim Tagtraum bereits der Fall ist, Illusionieren nicht aus. In vielen Fällen übernimmt das Illusionieren die Aufgabe der Selbstbelohnung. Ich werde im Laufe der Abhandlung auf den Motivator ‚Lust-Ich‘ zu sprechen kommen.

Natürlich wird es immer Situationen und Anlässe geben, wo wir keineswegs bereit sind, und es auch unklug wäre, das Selbsterleben in Wahrheit öffentlich preiszugeben. Daher ist es verständlich, dass wir uns auch verstellen, um uns zu schützen: vor Schmach, vor Angriffen, vor Enttäuschung. Das sollte uns aber nicht daran hindern, die Wahrhaftigkeit vor uns selbst zu bekennen, sie nicht zu vernebeln oder zu verschleiern. Das Selbsterleben aus Gewohnheit erträgt ein erstaunlich hohes Maß an Unstimmigkeit zwischen Selbstbild und Selbstgefühl, sofern das weltbezogene Ich Bestätigung des Selbstwerts organisiert. Die Wahrscheinlichkeit einer Selbsttäuschung und schließlich Selbstverleugnung nimmt zu. Dies betrifft nicht allein private Beziehungen. Es betrifft durchwegs Selbstausbeutung aufgrund oft jahrelangen Erduldens von Unzumutbarkeit, von Leistungsdruck durch innere Antreiber, die damit einhergehende Selbstüberforderung in beruflichen Handlungsfeldern. Hingegen ist das Selbsterleben in Wahrheit darauf bedacht, dass zwischen Selbstbild und Selbstgefühl Stimmigkeit vorherrscht. Dafür muss aber das selbstbezogene Ich online bleiben. Es wird hinreichend viele Gelegenheiten geben, anderen gegenüber Aufrichtigkeit zu zeigen, unverhohlen einen Standpunkt zu vertreten und dem Selbsterleben in Wahrheit die Treue zu erweisen.

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