Was für ein Mit-einander von Menschen mit und ohne Behinderungen

Was für ein Mit-einander von Menschen mit und ohne Behinderungen

Einblicke in unsere jüngere Zeitgeschichte

Eva Bohne


EUR 19,90
EUR 11,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 366
ISBN: 978-3-95840-449-6
Erscheinungsdatum: 26.04.2017
Der Weg zur Inklusion für Menschen mit Behinderungen war und ist steinig aufgrund starrer Strukturen in Lehranstalten, Kirchen, Kommunen und der Gesetzgebung. Eine Zeitzeugin, Betroffene und Aktivistin zeigt, welcher Kämpfe es bis zu einer Wende bedurfte.
Zum Geleit

Für viele Bürgerinnen und Bürger unseren Landes rücken jetzt, so ist meine Beobachtung, Menschen mit Behinderungen ab 2009 wieder vermehrt oder erstmals in ihr Blickfeld. Warum jetzt und wieso erst jetzt? Bedurfte es dazu dieses Anstoßes von außen mit der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), damit auch bei uns das seit Langem geforderte Umdenken zum Person-Sein der Menschen mit Behinderungen nicht länger engagierten Einzelnen und Gruppen überlassen bleibt umzusetzen, was bisher gegen bestimmte Interessengruppen im Behindertenbereich jeweils erkämpft und erstritten wurde?
Es wird einer breiten Leserschaft in unserer Bürgergesellschaft, für die einen bestätigend und für anderen „jetzt informierend“ Einblick gegeben in einen uns dank der UN-BRK nun alle angehenden, aber bisher wenig beachteten Problembereich. Trotz vorhandener Fachliteratur begegnet mir aus den wiederholt gestellten Fragen der Bürgerinnen und Bürger große Unwissenheit. Als 1932 Geborene, Zeitzeugin, Aktivistin und Betroffene beantworte ich bisher punktuell Fragen der Jahre ab Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 zum Thema und wirke damit aufklärend, welcher Kämpfe es in Deutschland-West bedurfte, die unhaltbaren Lebensumstände der Menschen mit Behinderung und von deren Angehörigen – als „Mit“-Betroffene – so in den Fokus zu nehmen, damit Kirche und Diakonie, Universitäten und Kommunen sowie gesetzgebende Institutionen endlich zu neuem Denken und zu verändertem Handeln gezwungen wurden die Wende einzuleiten. Diese Erfahrung wurde mir zum wichtigen Impulsgeber, den Inhalten mit dieser Publikation „Gestalt“ zu geben.
Ein Anliegen ist es, mit diesem Buch einen Bogen zu spannen zwischen der rein wissenschaftlichen, theoretischen und abstrakten Sichtweise bezüglich des Phänomens „Der Mensch mit Behinderungen“ auf der einen und der Lebenswirklichkeit Einzelner und der Familien mit behinderten Angehörigen auf der anderen Seite. Mit den von mir aufgezeigten Einblicken in unsere jüngere Zeitgeschichte wird bewusst der Blick auf die Auswirkungen der umzusetzenden geltenden wissenschaftlichen Grunderkenntnisse in Bezug auf die Lebenssituation der Menschen mit Behinderungen und von deren Angehörigen als Mitbetroffenen in unserem Land gelenkt und ausschnitthaft, aber dennoch exemplarisch und aufschlussreich „aufgeblättert“. So wird beispielsweise die Diskrepanz zwischen den normativen Vorgaben und den empirischen Tatbeständen deutlich und wie die fehlende praktische Umsetzung einer Verbesserung der Lebensumstände behinderter Menschen dazu in krassem Widerspruch stehen.
Verständlich für jede und jeden wird reflektiert und informiert über die lebensunwürdige Lebenssituation der „Behinderten“ und die „Beschäftigung“ mit ihnen in unserem Land nach 1945 sowie über die, die diese „Elendsstraße“ (Dr.?Jörn Halbe) für eine sogenannte „Randgruppe“ in unserer Gesellschaft nicht weiter fraglos als so gegeben hinnehmen wollten. Den interessierten Leserinnen und Lesern kann sich über den Inhalt des Buches erschließen, wer den not-wendigen Aufbruch ab Mitte der 1950er Jahre in Deutschland eingeleitet hat und wie er schrittweise erstritten und durchgesetzt wurde. Dieses Engagement und die Zivilcourage Einzelner und von Gruppen, deren Ziel es war, die Noch-Zustände im Behindertenbereich aufzudecken und zu verändern, gilt es würdigend herauszustellen. (Siehe auch: Teil I: „Aufbruch! Da kommt mein Kind nicht hin!“) Es sind allen voran die mutig für ihre Kinder mit Behinderungen eintretenden Eltern, vor allem die Frauen der ersten Stunde ab den 1950er Jahren – die FRAUEN, KÄRRNER-MÜTTER, wie ich sie würdigend nenne, als die, die es wagten, die mühevolle Arbeit für neues Denken wegweisend einzuleiten und durchzusetzen – unterstützt durch das Engagement der Pioniere an der Basis und vorausdenkenden Promotoren in den Chefsesseln der Leitungsebenen. Es ist unbestritten, durch das Bemühen betroffener Eltern und einiger aufgeschlossener Fachleute wurde der gesellschaftliche und fachliche Diskurs zur Integration angestoßen. So sind endlich die für dieses neue Denken und neue Handeln bisher verschlossenen Türen aufgestoßen worden.
Mein Berufsalltag zwang mich ab 1970 dazu, die wissenschaftlichen Grunderkenntnisse zu überprüfen und zu reflektieren in Bezug auf deren Umsetzung in den Lebensalltag der Familien mit behinderten Töchtern und Söhnen. Deshalb verknüpfe ich biografische und publizistische Elemente mit grundlegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Thema, wobei ich keinesfalls den Anspruch auf Vollständigkeit erhebe. Aus dieser Perspektive rücke ich Begebenheiten unserer jüngeren Zeitgeschichte und eigene Erfahrungen reflektierend und biografisch unterlegt ins Blickfeld. Meine Erkenntnis aus diesen fünfundvierzig Jahren lautet: „Jedem Paradigmenwechsel geht eine Zeit voraus, in der mutige Vordenkerinnen/Vordenker gegen den Strom arbeiten.“ 1*
In dem wohlgeordneten Sozialraum unserer Kommunen mit Kirche und Gesellschaft gab es eine Sonderwelt, zu der ICH, die Normalbürgerin oder der Normalbürger, möglichst nicht dazugehören wollte: „Hauptsache gesund und nicht behindert!“ Die „Behinderten“ als sogenannte „Soziale Randgruppe“ existierte kaum im Bewusstsein unserer Bürgergesellschaft. Sie galt es, bewusst in den Fokus zu nehmen.
Nach Beendigung der Ermordung während der NS-Zeit 1945 wurden Menschen mit Behinderungen in West-Deutschland weiterhin ins Abseits gestellt in festgefügten, hierarchisch ausgerichteten Heim- und Anstaltsstrukturen. Enorme Hindernisse durch strukturelle Verkrustungen in Behörden, Ämtern und den Anstaltshierarchien standen dem Bürgerengagement und der Zivilcourage Einzelner entgegen, die die menschenunwürdigen Zustände aufdeckten, um diesen ein Ende zu setzen. (Siehe auch Teil I: „Wo kommen wir her?“) Im Unterschied zu den umliegenden europäischen Ländern hielt sich in Deutschland bis in die 1990er Jahre die allgemein bestimmende, verfestigte Einstellung, die bestehenden Strukturen mit Sonder-Welten im Behindertenbereich zu erhalten und möglichst auszubauen. So wurde einerseits viel für Menschen mit Behinderungen als Objekte des Handelns an ihnen und für sie getan. Andererseits gingen die seit 1956/1958 gegründeten Elternorganisationen bereits neue, andere Wege mit dem Auf- und Ausbau möglichst zentral gelegener, ambulanter Förder-, Bildungs- und Wohnmöglichkeiten für ihre Töchter und Söhne mit Behinderungen.
Wie schwer es ist, hier dem Wandel eine Chance zu geben, beschreibt Ingrid Körner, seit 2011 Senatskoordinatorin für die Gleichstellung der Menschen mit Behinderung in der Hansestadt Hamburg: „… gewachsene Strukturen, ob in der Wirtschaft, in der Wissenschaft oder in der Sozialpolitik, sind die, die sich per se durch Beharren auszeichnen: Konzepte und Organisationen sind erprobt, Gebäude und Anlagen errichtet, Kompetenzen erlernt. Man hat Erfahrung mit der jeweiligen Struktur, das System funktioniert und ist erfolgreich. Warum sollte man so etwas grundlegend verändern, einen anderen Weg einschlagen, dessen Risiken man nicht kennt und dessen Erfolg unsicher sein könne?“2
In vier Abschnitten versuche ich zu verdeutlichen, wie eng verflochten mit dem Phänomen „Der Mensch mit Behinderung“ diese in den Blick genommenen vier Handlungsfelder sind und einander bedingen:

Das jeweilige Zeitgeschehen: Geschichte lebt mit uns und prägt uns.
Normatives Denken und Handeln als Kennzeichen des Bildungsbürgers: Vorzeigen, was man hat, und ängstlich verstecken, was nicht der Norm entspricht.
Fragwürdige theologische Auslegungen: die Reduzierung von Menschen mit Behinderungen zu namenlosen „Objekten barmherziger Zuwendung“ und „erlösungsbedürftigen Wesen“.
Die schrittweise Durchsetzung des neuen Denkens und seine Herausforderung heute zu inklusivem Zusammenleben aller.

Die Einblicke sind ein Plädoyer dafür, wie inmitten fest gefügter Strukturen dennoch Veränderungen in unserer Gesellschaft möglich wurden, beispielsweise gegenüber dem „alten Denken“ das „neue Denken und neue Handeln“ zum Leben der Menschen mit Behinderungen durchzusetzen. Was damit gemeint ist, gilt es zu erklären und würdigend herauszustellen: Aus meiner Erwiderung auf die heute auffallend oft geäußerte Betonung der außerordentlichen und großen Herausforderung, vor der wir als Gesellschaft und als Kirche in Deutschland ganz neu ständen, diese UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) umsetzen zu sollen, wird dieses deutlich: „Jetzt wird offenbar! In unserer Bürgergesellschaft ist wenig Wissen darüber vorhanden, was in unserem Land seit mehr als vierzig Jahren mutig erkämpft und erstritten wurde und inzwischen schrittweise umgesetzt wird. Es ist das Fundament, auf dem heute Inklusion aufgebaut und umzusetzen ist!
Inklusion meint: Das Zusammenleben der Menschen mit und ohne Behinderungen – auf Augenhöhe – zu wagen, es einzuüben und auszugestalten! Die Vordenkerinnen und Vordenker begannen seit Mitte der 1950er Jahre mutig gegen den Strom zu arbeiten und hatten ihr neues Handeln deutlich benannt: ‚Es gilt das „alte Denken“ endgültig zu beenden, das insgesamt defizitär ausgerichtet ist im Beschreiben, Beurteilen, im Klassifizieren der Menschen mit Behinderungen durch beispielsweise die Mediziner, Pädagogen, Theologen und Juristen. Stattdessen kämpfen und streiten wir hierzu einem Paradigmenwechsel den Weg zu bahnen im Denken und Handeln – „Neuem Denken“, ausgerichtet an der seit 1948 geltenden Gleichwertigkeit aller Menschen durch die UN-Menschenrechtserklärung von 1948‘.“3
Dieser neuen Grundeinstellung zum Leben der Menschen mit Behinderungen folgend, ist genauer und reflektierend hinzuschauen:

Wie gingen wir nach der Befreiung vom Nationalsozialismus 1945 mit den Hinterlassenschaften des NS-Regimes um, mit seinem menschenverachtenden Umgang mit behinderten Menschen bis hin zur Vernichtungsaktion lebensunwerten Lebens?
Wie und durch wen gelang es, die Separation der Menschen mit Behinderungen zu beenden?
Wodurch haben internationale Verbindungen wie beispielsweise die Ökumene (WCC/ÖRK) und „Inclusion International“, ehemals „Liga von Vereinigungen zugunsten geistig Behinderter“, gegründet 1960‚ mit zu den Veränderungen beigetragen?
Warum muss überhaupt die uneingeschränkte TEILHABE der Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben völkerrechtlich abgesichert werden?
Beginnen wir mit den an uns gestellten Herausforderungen beim Stande null, die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) nun auf allen Ebenen unseres Zusammenlebens umzusetzen?
Wird nur, was rechtlich einforderbar ist, für alle umgesetzt und ist somit der Beliebigkeit bestimmter Interessengruppen entzogen?!
Anhand der „aufgeblätterten“ Begebenheits-Berichte kann sich für die interessierten Leserinnen und Leser erschließen, wie die notwendigen Änderungen zu den lebensununwürdigen Lebensbedingungen in unserem Land erkämpft und erstritten wurden.
Zur Erinnerung: Wir alle hatten Lehrer zum Thema „Behinderung ist …“. Was haben wir wie und wodurch gelernt zum Thema: „Behinderung und Medizin“, „Behinderung und Vererbung“, „Behinderung und Kirche“, „Behinderung und Theologie“, „‚Behinderte‘ im Drittes Reich“ (1933–1945)? Ich könnte die Liste beliebig verlängern. Was haben wir verinnerlicht und ist zu meiner heutigen Haltung geworden? Zum Beispiel weiß ein guter Pädagoge um seine Verantwortung, denn Pädagogik ist, ebenso wie andere Wissenschaften, in der Gefahr, auch tendenziös zu wirken: Die Rolle der Pädagogen in der Zeit des Nationalsozialismus (1933–1945) ist ein erschreckendes Beispiel dafür, wie ein ganzer Berufsstand teils bewusst, teils unbewusst, einem menschenverachtenden Regime zugearbeitet hat.
Wir Bürgerinnen und Bürger sind immer zugleich auch Lehrende zum Thema Menschen mit Behinderungen für andere. Sind wir uns dessen bewusst? Außerdem: Wir lernen personal! Unser So-Sein ist sichtbarer und spürbarer Ausdruck unserer Haltung. Unsere Körpersprache ist verräterisch echt! Unsere Authentizität drückt sich in der Sprache aus. Ob wir wollen oder nicht: wir reden ständig personal. Unsere ethische Haltung zu diesem Thema drückt sich in unserem Reden und Handeln aus.
Über meinem Schreibtisch hing gerahmt der Satz „Wer etwas ändern will, findet einen W e g, die anderen eine Ausrede.“ Auf diesem Weg würde ich nur in der Vernetzung mit anderen etwas bewirken können, denn wer grundlegende Änderungen einleiten will, rüttelt an den Grundfesten bestehender Strukturen, hier der Hilfesysteme. Und die zeigen wenig Neigung für Veränderungen. Dank der ersten Vernetzung bereits ab 1970 und dann ab 1980 erweitert zum Kreis der „Verbündeten in der Sache behinderter Menschen“ in der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche (NEK), heute Nordkirche, und darüber hinaus aus Theologen, Ärzten, Juristen, Laien, Studierenden, behinderten und nichtbehinderten Menschen bundesweit, wurde eine 25-jährige Pionierarbeit zugunsten eines veränderten neuen Denkens und neuen Handelns zu der stark veränderungsbedürftigen Lebenssituation der Menschen mit Behinderungen und deren Angehörigen auf- und ausgebaut. Dabei veränderten sich auch die sogenannten Nichtbehinderten. (Siehe auch Teil III: „Verbündete in der Sache behinderter Menschen“)
Mein Suchen nach Gesprächspartnern innerhalb der Kirche begann seit der 1970 begonnenen Bildungsarbeit mit und für Familien mit behinderten Kindern unter der Fragestellung: „In Kirchengemeinden leben Familien mit behinderten Angehörigen. Was ist im Jahr 1972 darauf die Antwort der Kirche?!“
Ausgrenzung der Menschen mit Behinderungen und ihrer Angehörigen war in sehr differenzierter Ausformung in der Gesellschaft weit verbreitet, auch in unserer Kirche der 1970er Jahre. Was hier Gemeindeglieder mit behinderten Angehörigen vorfanden, entsprach genau der kirchlichen Aufgabenteilung, nach der alles zum Thema Behinderung den Diakonischen Werken zuzuordnen sei. Ebenso galt noch: Behinderte gehören in die Anstalt! Die Folgen dieser Ausgrenzungsmentalität spürten die Familien besonders hart, in denen in der Geschwisterreihe ein Kind mit Behinderungen aufwuchs, denn Stephan mit einem Down-Syndrom war zum Unterschied seines Bruders und seiner Schwester von den Gemeindeaktivitäten für Kinder und Jugendliche einschließlich der Konfirmation ausgeschlossen. (Siehe auch Teil III: „Menschen mit Behinderungen leben unter uns – als eine Herausforderung an unsere Theologie und Kirche“)
Die in den 1950/1960 er Jahren schnell erstarkten Selbsthilfeorganisation betroffener Eltern und deren Verbündeten sind nach Ines Cremer Ausdruckszeichen des Aufbegehrens zu bestehenden „Miss“ständen: „(…) Selbsthilfe entsteht aufgrund einer Kritik an den bestehenden Hilfeformen, wie sie vom Staat und großen Verbänden angeboten werden. (…) Sie sind Ausdruck von und Anspruch nach Bürgerbeteiligung an Belangen des öffentlichen Lebens.“ 4 Hierzu wird beispielhaft geschildert, wie engagierte, tatkräftige Frauen, Kärrner-Mütter behinderter Kinder, 1970 in der Hansestadt Hamburg den Anstoß zu einer Behindertenarbeit mit einem Bildungs-Ansatz gaben. Vergleichbar einem ins Wasser geworfenen Stein, der Kreise zieht, wurde daraus eine 25-jährige Pionierarbeit. (Siehe auch Teil II: „Eine Anfrage – 1970 – und was daraus wurde“)
In der Bundesrepublik Deutschland ist mit dem Inkrafttreten der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) 2009 durchgängig ein Aktionismus zu Inklusion zu beobachten, der vor allem die Barrierefreiheit in den Vordergrund stellt und umsetzend voranbringt. Inklusion ist jedoch sehr viel umfassender und geht uns alle an! Die dazu erforderliche Bewusstseinsbildung der Bürgergesellschaft selbst wird, so ist meine Beobachtung, zurzeit noch zu oft und gern delegiert an die anderen. An die, die es angeblich vor allem anginge, wie zum Beispiel die Schule. Gemessen am gesamten Lebensweg eines Menschen ist die Schulzeit zwar ein bedeutender Lebensabschnitt, aber nur einer unter anderen. (Siehe auch Teil IV: „Neues Denken setzt sich durch …“)
Die Rede von einem weiteren Paradigmenwechsel zum Thema Inklusion ist weit verbreitet. Ein solcher benötige eben seine Zeit für die Umsetzung und Durchsetzung und rechtfertige, warum inklusive Schritte erst zögerlich sichtbar und spürbar sind. Diesen Ansatz stelle ich infrage. Mit der Argumentation, Inklusion sei das völlig Neue, lassen sich beispielsweise die nun zutage tretenden Lücken und Mängel von bisher nur zögerlich vollzogenem neuen Denken mit integrativen Umsetzungsschritten innerhalb einer Institution oder einer Organisation überdecken. Der Überbetonung eines Paradigmenwechsels, der nun seine Zeit für den Aufbau inklusiver Angebote benötige, liegt möglicherweise das verschleierte Eingeständnis zugrunde: Wir beginnen jetzt auch mit dem Umdenken.
Es geht meiner Ansicht nach um die Weiterentwicklung der seit 1980 begonnenen Integrationsbemühungen in Kita, Schule, Arbeit, Freizeit und Wohnen für Menschen mit Behinderungen. (Siehe auch Teil II: „Behinderung – eine ?geistige Herausforderung an uns alle“). Integratives Denken und Handeln braucht Einübungsfelder im realen Leben. Es betrifft unser Miteinander der Menschen mit und ohne Behinderungen auf allen Ebenen unseres Zusammenlebens.1** Diese praktizierte Ausrichtung im neuen Denken und neuen Handeln der Vordenkerinnen und Vordenker der 1970er bis 1990er Jahre ist aus meiner Sicht nahtlos übertragbar ins Heute, wo in unserer Bürgergesellschaft inklusives Denken und inklusives Handeln einzuüben ist.
Rückblickend stellen sich mir einem Spannungsbogen gleich die fünfundvierzig Jahre Engagement in der Sache für und mit Menschen mit Behinderungen und deren Eltern dar als ein Mosaik aus Stolpersteinen, Meilensteinen, Etappenzielen, mühsamen Langzeitvorhaben, Anleitungen zu gewagten Geh-Versuchen für sogenannte Nichtbehinderte, Aufdecken von unglaublichen Fällen, schmerzhaften Sprach- und Umdenkungsprozessen, zumutender Herausforderungen für die einen und erfahrenem Lebenszugewinn für die anderen und Wechselbäder der Gefühle, wenn strukturelle Schranken und Denkblockaden scheinbar unüberwindbare Grenzen „diktierten“.
Angefangen bei den Fragen von Müttern und Vätern von Kindern mit Behinderungen zur problematischen „Arzt-Eltern-Konstellation“ 1972 verlief der Prozess über

die verschiedenen Auseinandersetzungen mit bestehenden Ausgrenzungen insbesondere in den Bereichen Bildung und Kirche,
die verbesserte Ausgestaltung der Bedürfnisse zur Lebenssituation inzwischen erwachsen gewordener Menschen mit Behinderungen wie Arbeit, Wohnen und Freizeit
bis hin zu den Facetten des Altwerdens und Sterbens von Menschen mit Behinderungen.

Vor allem das Zusammenwirken im gemeinsamen Bemühen der betroffenen Eltern und aufgeschlossener Fachleute um Bildung und mehr Partizipation am Leben in unserer Gesellschaft für ihre Töchter und Söhne mit Behinderungen hat deutlich gezeigt, wie sich die Entwicklungschancen dieser Menschen, altersbezogen und individuell verschieden, zum Positiven wenden können. Diesen mühsam erkämpften Zuwachs an Lebensqualität gilt es zu erhalten und diese Wende als unumkehrbar zu verteidigen.
Der Leitsatz „Wenn einer alleine träumt, ist es nur ein Traum, wenn viele gemeinsam träumen, so wird das der Beginn einer neuen Wirklichkeit“ von Helder Camara prägte das vernetzte Arbeiten miteinander. Der Kreis derer ist groß, denen ich zu danken habe, die mich in meinem So-Denken und So-Handeln unterstützt und auch ausgehalten haben,

die sich mit auf Spurensuche begaben und lernten, hinter glänzende Fassaden zu schauen,
die sich durch Stolpersteine nicht haben abschrecken lassen,
die mit gewirbelt haben,
die mutig das Wort ergriffen haben,
die Courage gezeigt haben.

„Jeder noch so weite Weg beginnt mit einem – meinem – ersten Schritt.“ Diesen Satz von Konfuzius habe ich bewusst um das Wörtchen „meinen“ Schritt erweitert. Nicht die anderen, ich fühlte mich herausgefordert und hoffte auf Verbündete. Wer sich mit Beginn der 1970er Jahre auf den Weg begab, die derzeitige Situation Behinderter und von deren Angehörigen in den Fokus zu nehmen, der wusste, welche Felsbrocken aus dem Weg zu räumen sein würden, bis aus rechtlosen Objekten der Barmherzigkeit Menschen mit Gesicht und Namen und eigener Sprache werden würden!

Ich lade die Leserinnen und Leser ein, über die exemplarisch ausgewählten Dokumente, die Berichte zu heruntergebrochenen AusWirkungsgeschichten auf das Alltagsgeschehen Einzelner und Familien mit behinderten Angehörigen, Einblick in den Kampf um Bildung als Eintrittskarte in unsere Gesellschaft zu nehmen. Dabei werden Sie erfahren, wie das gemeinsam leben Lernen der Menschen mit und ohne Behinderungen in vielen gewagten Einzelschritten in unserem Land ab Mitte der 1950er Jahre auf den Weg gebracht wurde. Es werden möglichst verständlich für jede und jeden dem wissenschaftlichen Blick auf die Problematik, der wenig handlungsrelevanten „Beschäftigung“ von Staat, Gesellschaft und Kirche mit „Behinderung“ Beispielgeschichten aus autobiografischem Erleben gegenübergestellt. Aus der Fülle der Begebenheiten ausschnitthaft zusammengestellt, sind sie dennoch als exemplarisch einzuordnen. Sie geben Einblick in unsere jüngere Zeitgeschichte, die heute das Fundament bildet, auf dem Inklusion zu verwirklichen ist.
Als Autorin verbinde ich außerdem die Hoffnung, den Leserinnen und Lesern möge sich über dem Inhalt des Buches in Ansätzen die Einsicht erschließen, warum und dass die UN-Behindertenrechtskonvention not-wendig wurde in der Völkergemeinschaft, aber auch in Deutschland, das Zusammenleben der Menschen mit und ohne Behinderungen nicht länger der Beliebigkeit zu überlassen, sondern völkerrechtlich abzusichern.

Eva Bohne, Hamburg, Oktober 2016

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