Vater und Sohn – die Reise 98

Vater und Sohn – die Reise 98

Tobias Buhr


EUR 30,90
EUR 24,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 554
ISBN: 978-3-903861-75-6
Erscheinungsdatum: 13.09.2022
Tobias Buhr zieht den Leser auch in seinem dritten Band über die Befahrung des Jakobsweges in seinen Bann. Philosophisches vermengt sich mit Alltäglichem, Lehrreiches mit Detailbeobachtungen - ein Reisebericht und Sprachkunstwerk.
journal38

VON ESTELLA NACH STA CRUZ
24.06.98
MIÉRCOLES,
soviele Leute, und jeder der kommt, ist grad noch einer mehr.

Vorgestern Montag, in Frankreich sind wir vorbeigefahren in DEUX-CHAISES und in TROIS-ET-DEMI. Bei uns gibt es keinen Ort, der ZweiStuhl heißt oder Dreieinhalb, und wir haben Sachen gesehen, vorbeifahrend im Auto, par exemple:

Gestern Dienstag, Turin – Le Tunnel du Fréjus – Paray-le-Monial, Montluçon, Guéret, Limoges, Périgueux, Bergerac, Agen, Auch, Lourdes, Oloron – PUERTO DE IBAÑETA
ESTELLA.

Gestern Dienstag, ESTELLA, spätnachmittags;
wir brauchen einen Ort, wo wir das Auto den Monat über stehen lassen können. Die Pension San Andrés hat in einer Tiefgarage einen Abstellplatz besorgt, un estacionamiento en un garaje; der Vermieter ist der Apotheker schräg vis à vis; seine Nichte begleitet uns mit dem Schlüssel. Da hätten in der farmacia noch andere gestanden, die uns die Garage hätten zeigen können, Lohnabhängige, Angestellte, Verkäuferinnen; er aber hat uns die Nichte mitgegeben, fille merveilleuse; sie trägt, wie man es in ESTELLA nicht gesehen hat an dem Abend, den bodenlangen rosenfarbigen Jupe. Dieser ist hier völlig fremd und auswärtig; zudem ist die Farbe ganz Kunst, welche es derart in der Natur nicht gibt. Unter dem Saum hervor schreiten die weißen Sandalen, eine nach der andern, Schritt für Schritt, den Weg machend, chemin faisant. Sie ist eine aus Barcelona, und obendrein eine Zeitlang in Kalifornien gewesen, eine richtige Studentin aus einer richtigen Stadt, für eine Ferienwoche zum Onkel Apotheker in die Provinz gefahren, eine Internationale also, denn Wissenschaft macht im Handumdrehen international; folglich spricht sie englisch, was Vertrautheit gibt in dem spanischen Meer der Konversationslosigkeit. Gewiss war in der Stadt keine zweite wie sie, und wir beide erlebten erstmals, wie das ist für ein Mädchen, wenn alle einem nachgucken. Man hält den Blick gradaus und tut so, als merkt man’s nicht. Die hat’s ja leicht! Auf der Plaza de SANTIAGO, wo letztjahr die Basken im Regen gefeiert haben, wo heute die zwei Polizisten promenieren, so unaufhaltsam wie auch die zwei Prächtigen in der Galleria Vittorio Emanuele staatliche Präsenz machen, in der abendlichen Zeit der Kaffeehaustischchen, wo die Mütter sitzen und ein Auge auf ihre herumrennenden Kinder haben, schritt’s zu dritt, sich fremdländisch unterhaltend, unsere spanische Begleiterin in der Mitte, Sebi für sie zu jung, ich zu alt, die Calle Mayor hinauf, den Sottopassaggio links hinab und auf der Inmaculada Pasealekua zurück zur Tiefgarage des Apothekers, unsere Celia mit ihren zwei verstaubten Fernfahrern, als wär’s beim Staatsbesuch der schwarze Mercedes mit den zwei Motorrädern links und rechts; es ist mir gewesen, als hätte man in dem Getümmel uns drei Auffälligen eine Gasse gelassen, wie den beiden stolzen Marescialli in Mailand auch.

ESTELLA später, in der letzten Sonne, die Pensione, die Fonda San Andrés an der Calle Mayor, das Nachtessen oben auf unserem Balkon, welcher über der Dachtraufe ins Dach eingelassen ist. Auf dem benachbarten Terrässchen liegen zwei Paar Schuhe, aus der Balkontür herausgeworfene, die Sandälchen von dem kichernden Girl und die zwei Adidas von dem stummen Burschen.

ESTELLA nachts, am Bahnhof, was spärlich beleuchtet ist, schummerig und gelb-orange. Die Geleise sind abgeräumt und aus der Straße herausgenommen; Vitoria – ESTELLA, das sind jetzt Autobusse; es ist wie im Val Maggia, oder wie von Biasca nach Acquarossa, es ist der Ersatz der Schiene durch den Asphalt; Sebi ist ungehalten; wo es doch in Zürich neue Tramlinien gibt, sagt er. Jugendliche stehen herum, höchstens zwei beieinander, keine Gruppen, und nichts zu tun.

Heute Mittwoch, 24.06.98, in der Tiefgarage.
Wir laden ab, bicicletas y equipajes. Der Befestigungsknopf der LowRiders an Sebis Velo ist auf dem Transport kaputt gegangen. Wir machen einen Disput auf einem der freien Parkplätze der Tiefgarage; Sebi spricht für eine provisorische Lösung mit einer Schnur, ich setze mich durch, und es geschieht die nachhaltige Reparatur. Da die Gabel die entsprechende Bohrung nicht hat, müssen wir uns mit einer Bride behelfen. Wir versuchen es im Scheinwerferlicht unseres Autos. Aber unsere Hände werfen den schwärzesten Schatten auf die Arbeit, welcher schwärzer ist als die Dunkelheit der Garage. Es ist ein vierhändiges, unmutiges Werk. Sebi sagt, es ist eine Inbusschraube. Ich überhör’s. Was Zeit kostet. Alle anderthalb Minuten geht das Licht aus, abwechslungsweise rennt einer zum Tor hinauf, hält die Hand in die Lichtschranke und die Beleuchtung geht wieder an. Auch ist unser ganzes Material zweimal zur Seite zu räumen, weil ein Auto just auf unserm Arbeitsplatz parkieren will. Niemand aber wird so unkundig sein wollen, in den Misslichkeiten des Anfangs ein ungutes Vorzeichen zu sehen.

Begonnen hatte der Tag in dem Frühstücksraum von der San Andrés; einsame Geschäftsreisende haben da gesessen wie im IBIS von Darmstadt, stumme Männer fern von Frau und Kind, und wenn es mal zwei waren am selben Tischchen, dann haben sie die Geschäftsinterna sottovoce miteinander verhandelt, als wie wenn wir von dem Spanischen etwas hätten verstehen wollen. Der Velomechaniker weiter unten an der Straße hat Sebis Vorderrad gräden müssen; wir bitten ihn, uns zuschauen zu lassen, damit wir’s nächstes Mal selber können würden. Wir versuchen, ihm das Anliegen zu erklären; er weigert sich, die Arbeit unter unseren Augen auszuführen, scheucht uns vor die Tür. In der Wartezeit ist Sebi an alten Orten, bei den Läden und Kaufständen vom letzten Jahr. Das macht er immer so. Kommen wir wohin, wo er schon gewesen ist, geht er an seine alten Orte.

Dass es so begonnen hat, dass das dritte Drittel des ganzen Laufs der Dinge und der ganzen Reise von LE PUY nach SANTIAGO, so begonnen hat, ist alles eher als bedeutungslos. Denn so hat es begonnen. Die paar hergestreuten Banalitäten, nebensächlich sind die keineswegs. Jede Geschichte beginnt irgendwo und endet woanders; was zuvor war, und wies danach weiterging, wird nicht erzählt; ordinäre Leser sind hierüber unzufrieden. Sie wüssten es gern. Jedoch ist alles Faktische von dieser Art; das Faktische ist ein aus einem Endlosfaden herausgeschnittenes Stück; zufälliges; es handelt sich um den Widerspruch zwischen dem Faktischen und dem Vernünftigen.

Denn wurst, wo ein Ganzes entzweigeschnitten wird – der Geist bleibt der Geist vom Ganzen.

Denn der Sinn einer Sache ist ganz, ist alles, die Sache mag noch so halb sein.

Denn der Geist steckt in jedem Stück, näht die allerzufälligsten Fetzen in ein ganzes Kleid zusammen, welches von allem Anfang an, in principio, ganz ist; es ist das Ganze im Fragment. Ist ja alles immer schon da. Ist bloß schwergefallen und hat bloß Mühe gemacht, es mit einem Wort zu sagen. Denn immerhin wurzelt es in den Fakten, steckt bereits im Auftauchen und Wegtreten der Akteure beispielsweise, der Personen und ihrer Darsteller, wie’s im Programmheftchen vom Theater heißt. Die beiden unliebsamen Brüche des Geschichtlichen, der Bruch am Beginn und der Bruch am End, sind eine Farce; über die Brüche hinweg hilft der Geist, dieses Wunderding, was darin ist und darüberhinausgeht; man kann also durchaus zufrieden sein mit dem Blick auf einzelne Gegenstände in der Lagerhalle; jedes Objekt, das man vom Regal nimmt, gibt den Blick auf das Ganze,
auf den Sinn, der darin ist,
und auf den ganzen Jammer um Gott.
Denn nehmen Sie beispielsweise die Reinheit, die Lauterkeit, die Sauberkeit der Absicht; es kann etwas nicht sauberer sein als wie wir es in ESTELLA in der Tiefgarage im Sinne hatten. Gewiss, anderes Leben gibt es, und andere Leute mögen sich mit geringerem Leben zufriedengeben müssen.

Oder etwa die Intensität; sie ist tagaus, tagein brandneu, derselbe Blick nach vorn, auf die Straße, auf das, was kommt.

Les Suisses, ils réfléchissent, wird die Paulette später sagen, wobei sie auf réééf-léchissent mit der Stimme ein bisschen hochging und die Silbe dehnte.

Denn beginnen tut’s schlussendlich und Ends aller Ends in dem Moment, wo wir uns, heraus aus der niedrigen Betondecke über den Köpfen der Tiefgarage, draußen in der Pasealekua, auf dem Trottoir, in der Sonne, vielleicht um zehn Uhr, aufs Rad steigen und ein frohes Wort sagen, das allmorgendliche frohe Wort des Aufbruchs. Heute würd ich sagen, alle Zukunft sei schlecht und alle Vergangenheit gut. An dem Mittwoch aber, 24.06., ist es der Augenblick, der besagt, dass die unmittelbar gehabte Vergangenheit schlecht und ganz alle Zukunft gut ist; ist die rechte Zeit gewesen am rechten Ort.
Der rechte Ort: das Trottoir.
Die rechte Zeit: zehn Uhr vormittags,
als die Ungeduld Sebis, der schnell, schnell mit einer Schnur hätte repariert haben wollen, ihr Ende hatte, Sebi, immer die Kappe auf dem Kopf, ich für diesen einen Tag noch den Hut mit der breiten Krempe.

Sieben Kilometer sind wir falsch gefahren, sind auf der Straße zum PUERTO DE URBASA geblieben und haben die Abzweigung nach Vitoria verpasst.

In ARTABIA, an der Straße, steht im Geäst der Kirschbaumkrone die Frau auf der Leiter. Das war so festlich und fröhlich, dass man sich den Baum rundum noch mit den weißen Blüten vorstellen soll, alles voll schwarzer Kirschen und voll weißer Blüten am gleichen Baum. Sie grüßt herunter. Wohl tut sie das, lässt mich aber unbehelligt vorbei; den Sebi, den Bub, den kleinen Sohn, den hält sie ab vom Weiterfahren und gibt ihm die Kirschen aus dem Baum herab, die ganze Mütze voll; eine richtige Spanierin auf einer spanischen Leiter, steigt eigens aus dem Kirschbaum heraus und füllt ihm die Kappe. Sebi, im Weiterfahren, außer Sichtweite, weiter vorn am Rank, an der Abzweigung, im dreieckigen Schattenspickel einer Mauer, was nicht viel ist, knapp genügend, besteht er darauf, dass ich mit ihm esse. Dir hat sie die Kirschen gegeben; mich hat sie schnöd vorbeigelassen, sag ich. Er setzt sich durch; wir teilen; zwei gleiche Häufchen.

Die Kalkfelsabbrüche, die rechts über uns stehen, wir kennen das alles hier herum, wir sind ortskundig, letztjahr waren wir da, auf der Rückfahrt. Angelehnt, in dem Schatten von der Mauer, die Füße noch draußen in der Hitze, machen wir uns endlich die Mühe, die Karte anzuschauen. Es sind, ausgangs ESTELLA, beide Straßen mit Vitoria angeschrieben gewesen an den Tafeln, über STA CRUZ die eine, und die andere über ALTSASU eben auch; sieben Kilometer nordwärts statt westwärts sind wir gefahren, und in ARTABIA kehren wir um, vielmehr, biegen wir links ab, schneiden westwärts, um auf den rechten Weg zu kommen, ungerührt und ohne Bedauern, das falsche Dreieck auf Nebensträßchen ab, denn ein falsches Spanien ist uns so recht wie das richtige.

CdS;
die Caterina da Siena;
ihr Buch ist in der Lenkertasche:

Die Liebe des Vaters verrät ihre Liebesgeheimnisse. Er zeigt das Weltall von seiner Faust umschlossen, und keiner, sagt Er, werde Seiner Liebe entrinnen. Denn er hat die Welt aus Liebe erschaffen, und weil jedes Wesen in der Gottesliebe wurzelt, kann es nur sein und leben, wenn es selber liebt. Seine zur Liebe führende Liebe nennt Gott seine Vorsehung. Sie wirkt und waltet als heilige List schon in der Schöpfung selbst, da die Menschen in gegenseitiger Abhängigkeit geschaffen sind. Keiner hat oder kann alles, immer muss er sich von anderen helfen und beschenken lassen; keiner kommt ohne den andern aus, und so verhält es sich in allem. Der Mensch muss seine Armut sehen, muss sich sehnen, muss lieben, und nur eine Liebe, die die letzte zähe Wurzel des Eigenwillens ausgerissen hat, kann fruchtbar sein. CdS, XXI.

Es brennt aber die Mittagshitze in diesen paar Weilern. Das Mittagsgespenst ist herum, el Yantar. In der Ferne wird dünn der Angelus geläutet; der aber hält alles an, und jetzt, wo er geläutet ist, geht nichts mehr auf den Straßen und Wegen. So hell ist es, dass in der Helligkeit der Baum auf dem Hügel und der Hügel selbst zu hell sind, um noch gesehen zu werden. Einmal noch huscht ein Auto drüben den breiten Hang aufwärts zu seinen Häusern hinauf, aber der Hitze wegen hört man es nicht, denn es ist um die Zeit ein hitzigheißes, lautloses Land. Weite Äcker kommen von dort oben herunter, große falbhelle Erdwürfel frischer Pflügung, alles spindeldürr und hart wie Stein geschnitten. Wir stoßen mit dem Fuß dagegen; es ist hart wie Stein.

Das erste Essen unterwegs soll in genau dieser Gegend abgehalten sein; es ist zu zweit, und ist nicht einfach Verpflegung; wir sagen: es ist das erste Essen. Es ist unter der Eiche und in ihrem Schatten, einem Schatten so klein und rund wie im Winter die Wärme um unsern Holzofen daheim herum.

Jesaia 16/3
Ich schaffe ihnen einen Mittagsschatten, der so dicht ist wie die Nacht.

Es ist in dem Schatten zwischen den Steinen und Wurzeln wenig Stellfläche für das Brot und die Becher. Außerhalb des Schattens ist alles grell, Staub und Stein; gleich am ersten Tag ist es wohl das verständlichste Stück heißen Spaniens, das heißeste Stück verständlichen Spaniens, aber es geschah uns zu früh, und wir konnten das noch nicht wissen. Ich hatte den Dreizehnjährigen bei mir in demselben Schatten, aber wissen tat ich es nicht, weiß es erst heute. Ich sah nicht was ich sah und dachte nicht, was ich dachte. Kommt mir heute die Liebe, kommt sie zu spät und sitzt mir der Bub nicht mehr unter dem Baum. Draußen, in der Straße, an der Sonne, stehen die zwei Fahrräder gottverlassen; seins, so gar schwer beladen, fällt um. Fällt um, und er geht aus dem Schatten und taucht von dem Hügel in die Hitze hinaus, sucht sich einen flachen Stein und tut ihn unter den Ständer;
jetzt!, hätte man sich sagen müssen;
es sei Jetzt, und es sei gut.
Das reine Jetzt, welches die Kinder so phänomenal beherrschen, der Augenblick, nicht gestört durch Pré-Occupation, was schon Zukunft wäre. Damit meine ich noch nicht mal Besorgnis und Planung, sondern nur schon die pure Voraussicht, wie heut nachmittags eins nach dem andern kommen würde, und wie heute früh eins nach dem andern gekommen ist. Häufiger noch wird einem das Jetzt durch eine Trauer versaut. Trauer und Ärger sind Wolken, die wir vorüberziehen lassen. Verscheucht man sie, gibt man ihnen zu viel Beachtung. Sollen halt dabeisitzen wie unwillkommene Gäste. Unwillkommene Gäste! ein Leben, dass man mit unwillkommenen Gästen sich hat zurechtfinden müssen; werden dann schon wieder weggehen; werden von selbst merken, wie unwillkommen sie sind. Ich küsse mein Töchterlein; es liegt im Bett; es ist Nacht; ich rede ihm von den Wölfen, von Vater Wolfs schnüffelnder Schnauze, und wie es ein kleines Wölflein sei in der Höhle, die wärmenden Felle der Wolfsgeschwister um sich herum. Ich sag ihr nicht, dass ich’s Bild vom Kipling habe, aber mit dem Herzen bin ich nicht dabei, denn ich denke, dass dieses abendliche Spiel in eins zwei drei Jahren nicht mehr würde sein können, was es gewesen ist, und nicht mehr dasselbe. Die Trauer fällt darüber herunter, und mit ihr ist es nicht wie mit der Freude. Die Freude nimmt einem nichts aus der Hand. Mit der Freude kommt es in Fahrt. An einer Trauer oder an einem Träuerchen geht jede Fühlung kaputt. La Béatitude ist eine treibende Kraft; ob aber Diese sei, oder ob Jene, es sind zwei Bewusstseine, die sich gegenseitig auffressen.

Wir Großen, wir sind dazu verknurrt, dem Jetzt willentlich Raum zu schaffen und die Implosion allen Bewusstseins absichtlich zu veranstalten, um daran gesund zu werden. Erst sehr viel später würde ich begreifen, dass das Jetzt eine Chiffre, ein Anagramm ist für die Ewigkeit, für die göttliche Zeitlosigkeit. Jetzt aber und heute an dem Tag, ist es fürs Erste unsere Reise wieder, die diesjährige, welche wir letztjahr haben fahren lassen; die Reise ist wieder da; in genau der Gegend haben wir sie ein Jahr lang liegen lassen, wir zwei, er und ich, als wärs der weggeworfene Stecken, den man beim nächsten Spaziergang wieder aufliest. Aber davon mache ich an dem 24.Juni nur eine flache Wahrnehmung, nur grad so viel Wahrnehmung, als man auf dem Bahnhof zur Verfügung hat, ob nämlich der Zug schon da sei, und alles Gepäck mitdabei.

Unversehens sind wir in die vollständige Wucht Spaniens und Sommers hereingeraten. Noch sind wir von der Plackerei in der Tiefgarage die schwarzen Hände nicht los, und den fröhlichen Ärger über die sieben vertanen Kilometer. Ob man den Umweg wieder fände, ARTABIA – MURIETA; den absonderlichen Schatten auf der Anhöhe an der Straße, und das andere Hügelchen vis-à-vis, drüben am andern Ufer des grellen Lichtsees, die siebzehn Kugelbäume darauf, die knisternden Ginster- und Wacholdersträucher, ihr defensives Grün unter der Verstaubung, Ausstoßungen ihrer allerletzten Gerüche, die brennenden Steine. Und das aus gehälfteten Barrels zusammengeschweißte und zusammengeschraubte Windrad mit der Sodbrunnenpumpe und den Wasserschläuchen auf den Rabatten?

Dem Schlosser ist viel Witz und wenig Material zur Verfügung gestanden; das Ding ist so, dass jede Luft, woher immer sie herbläst, sich im Innern der halbierten Ölfässer fängt und sie auswärts antreibt. Auf die Weise dreht sich das ganze Gestell bereits bei mindestem Wind konstant im Gegenuhrzeigersinn. Sollte jemandem die Drehrichtung nicht zustattenkommen, braucht er nur die Fässer umgekehrt zu montieren. Der Bauer aber, es ist Mittag, es ist Siesta, er wird nun irgendwo auf dem Rücken liegen, und seine Plantage bewässert sich von selbst.

GANUZZA,
METAUTEN,
MURIETA; hier geht die A132 durch, was nach unserem Abstecher der rechte Weg ist; in dem Ort ist der quadratische Platz unter dem Schattenbaum, das Kriegerdenkmal, die Bar, und darin die Señora; sie redet mit uns so viel und so geschwind als wärs deutsch; es ist ihr leicht gefallen, aus dem Aussehen auf unsere Bedürfnisse zu schließen, 1 agua mineral, el helado, 3 mal cerveza. Das Bier kommt aus drei winzigen grünen Fläschchen in ein glasklares Glas, der Gelato hat die Nationalfarben, gelb und rot. Kleiner Sohn, sagt sie zum Sebi; wirklich ist er klein, pequeño; auch die Frau auf dem Kirschbaum hat es herausgehabt; und die Schwestern von SAN MIGUEL DE LAS DUEÑAS werden schreiben:
Un saludo afectuoso en el Señor de parte de la Comunidad al pequeño Sebastián que ya habrá crecido mucho.
Die guten Nonnen;
eine Nonne ist immer Frau;
und Frau sagt: gewiss ist er gewachsen.

Westwärts die sehr gerade geführte Straße, stetig unmerklich steigend; RIO EGA heißt das Flüsschen, das vom Puerto Azáceta herunterkommt, worüber die Sonne jetzt niedergeht, wo jenseits Vitoria liegt, wo der Tomás Luis de Vittoria her ist. Alles ist haushälterisch bebaut in diesem Tal; es müssen darin fleißige Leute sein, fleißigere als anderswo in Spanien; selbst die Feldwege, die auf die Hauptstraße herauskommen, münden derart sauber im rechten Winkel, dass keine grasbewachsene und ungenutzte Ausrundung übrigbleibt, worauf ein Zelt hätte stehen können. Später, weiter oben, anderntags, droben an dem Ort, wo es von einer Geographie in die andere geht, in der gewundenen Kleinklus, wo die Kalkbrocken am Boden liegen, wohindurch die Täler ihre Lüfte und Feuchtigkeiten tauschen, dort schon, da wäre Platz gewesen, wären viele Plätzchen gewesen bisschen ebenen Bodens für das Zelt.

ACEDO,
STA CRUZ,
in STA CRUZ dunkelt es und ist es ein schlechtes Dorf, irgendwie feucht in den Mauern; niemand hat einem gefallen, die Burschen nicht, die Mädchen erst recht nicht, und die Alten auch nicht. Von mesón zu mesón, suchen wir was zum Essen, und haben außerhalb des Dorfs Richtung Antoñana eine Bar gefunden; da sind wie überall die Männer drin und überall das Spiel Spanien-Bulgarien, die Bulgaren im weißen Leibchen, erkennbar an den komischen Namen auf dem Rücken. In den andern Lokalen sind es auf ebensolchen Bildschirmen dieselben weißen Leibchen gewesen, auf demselben grünen Rasen des immer gleichen Stadions, und nichts zu essen. Und tagsdrauf, in NÁJERA, Belgien-Südkorea.

Unmittelbar nach dem Sägewerk geht rechts ein schlechter Weg abwärts zu einem Wäldchen, und verliert sich unten beim Bach im Gesträuch. Der Wald ist kein Wald, ist schiefer Wildwuchs, und darin mitten in den Himbeerstangen das Zelt. Ein unwirtlicher Ort.
Uneben. Unbequem. Feucht.
Sebi, wie liegst?
Wie letztjahr am PUERTO DE URBASA, sagt er.
Es ist, was sich für heutnacht anbietet. Keine Dusche, es ist zu kalt, nur die Füße waschen im Bachwasser. Die Taschenlampe ist ins Kraut gefallen und verlöscht, mag liegenbleiben bis morgen. Gestern das Hotel, morgen der Refugio von NÁJERA, heute unter dem Zeltboden die Wurzelstöcke der abgerissenen Himbeerstauden; draußen, unmittelbar hinter der Zeltwand Geräusche als gälten sie uns, ein fallender Ast, ein gefräßiges Tier, ein gurgelndes Wässerlein, und drinnen in dem kleinen Tuchhaus ein Atemholen, das Rascheln der Schlafsäcke und der Schlafsackhülle, wohinein die Tageskleider gestopft sind, was als Kopfkissen dient; die Geräusche draußen und die Geräusche drinnen, c’est vivant, es lebt; an dem abwegigen Ort leben wir alle miteinander.

Merkwürdig, fremd war der Ort nicht, keineswegs fremd; er war ein Ort wie viele andere zuvor. Morgen Abend würden wir in NÁJERA den Camino kreuzen. Der geht von ESTELLA über NÁJERA nach S.to Domingo dela Calzada, und nach Burgos.
Wir hingegen fahren von STA CRUZ über NÁJERA nach VALVANERA und SANTO DOMINGO DE SILOS.
In NÁJERA der Camino aber, das sind Pilger.
Wer mag’s diesjahr sein?
Was wird es werden.
5 Sterne
Aufbruch aus Estella - 25.10.2022
Franz Stb.

Ich besitze das Buch; Sie haben in der Leseprobe die Bilder weggelassen; die Celia ist da mit dem Rosajupe, und das Windrad mit den halbierten Ölfässern; der Text ohne die Zeichnungen und Bilder ist eine halbe Sache.

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