Seelisch kranke Menschen wurden krank gemacht

Seelisch kranke Menschen wurden krank gemacht

Lasst mich doch wieder Mensch sein!

Otto Müller-Hofer


EUR 19,90
EUR 11,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 206
ISBN: 978-3-99048-192-9
Erscheinungsdatum: 14.12.2015

Leseprobe:

Irene und die hoch geachteten Männer

Als wir Irene in der Klinik besuchten, weil von dieser ein Übertritt in unser Haus vorgesehen war, lernten wir eine junge, in sich zusammengesunkene, mit ganz dunkeln Augenrändern versehene und in sich zurückgezogene Frau kennen. Sie saß ganz zusammengekauert auf einem Stuhl und betrachtete sehr lange meine Frau und mich genau.

Der Sozialarbeiter der Klinik fragte: „Irene, möchten Sie erzählen oder soll ich beginnen?“
„Obwohl ich müde von den vielen Medikamenten bin, die mich beruhigen sollten und dies doch nicht tun, erzähle ich einmal. Wenn die beiden mich gehört haben, dann wird es sowieso nichts mit einem Wechsel geben.“
„Möchten Sie die Klinik überhaupt verlassen?“, fragte meine Frau.
„Und ob. Lieber heute als morgen“, war die Antwort.
„Wir hören Ihnen gerne zu. Erzählen Sie einfach das, was Sie uns gerne sagen möchten“, sagte ich.
„Gut, mit 16 bin ich von zu Hause ausgerissen. Ich wurde von meinem Vater und meinem Onkel sexuell missbraucht.“
„Erklären Sie das näher, wie sie missbraucht wurden“, ergänzte der anwesende Sozialarbeiter.
„Ich wurde zum Geschlechtsakt mit beiden gezwungen. Ich musste vor beiden oder vor einem masturbieren und dann ihre Glieder streicheln und küssen. Das hat mich mit der Zeit dermaßen geekelt, dass ich das einfach nicht mehr tun wollte. Wenn ich nicht gefügig war, wurde ich einfach geschlagen. Ich bin jetzt 24 Jahre alt, aber mein Körper ist dermaßen ausgebrannt, dass ich nie mehr einen sexuellen Kontakt mit jemandem haben will. Ich schäme mich vor mir selber, dass ich mich je für so etwas hingegeben habe. Ich fühle mich so schmutzig, als ob ich in meinem Leben noch nie gebadet hätte. Als ich von zu Hause weglief, hatte ich weder eine Unterkunft noch hatte ich Geld. Ich kannte einen Künstler, der malte und der töpferte. Bei ihm fand ich Unterschlupf. Dann musste ich, da ich eigentlich einen schönen Körper habe, zum Malen Akt stehen. Dann begann er, meinen Körper zu streicheln und schlussendlich landeten wir wieder im Bett. Ich griff zur Flasche und trank reichlich Wein. Wann ich dann beduselt (betrunken) war, konnte ich das Spiel über mich ergehen lassen. Mit der Zeit reichte das Trinken auch nicht mehr aus, und zum Alkohol kam dann noch Haschisch, Heroin und Kokain. Ich musste dann auch noch den Drogenstrich machen, damit ich zu dem Stoff kam, den ich brauchte. Meine Familie wollte von mir nichts mehr wissen. Meine Eltern sind Italiener und streng katholisch. Ständig musste man noch mit diesen falschen Kerlen von Vater und Onkel in die Kirche springen. Es waren eben hoch angesehene Männer in unserem Dorfe. Mit dem Alkohol, der Droge spürte ich nicht mehr, was mit meinem Körper geschah. Denn ich konnte mich nur hingeben, wenn ich damit vollgepumpt war. Wollen Sie mich noch aufnehmen?“
„Erzählen Sie ruhig weiter. Wir möchten gerne Ihre ganze Geschichte hören“, gab ich zur Antwort.
„Da ich meinen Körper nicht mehr spürte, begann ich, mich an Armen und Beinen mit dem Messer, der Schere oder am besten mit Rasierklingen zu schneiden. Mein psychischer Zustand verschlechterte sich so stark, dass ich glaubte, böse Stimmen zu hören, wo gar keine Stimmen waren. In meinem Alkohol- und Drogendelirium sah ich Sachen, die die gar nicht da waren. Am Schlimmsten war es einmal, als ich LSD nahm. Ich sah die Farben viel stärker und fester, als dies sonst der Fall war. Die Menschen, die ich sah, waren keine Menschen mehr, sondern Monster. Das passierte mir immer öfter, auch wenn ich kein LSD nahm. So kam ich zum Entzug in die Klinik.“

Der Sozialarbeiter sagte nun zu uns: „Der Entzug ist vorbei. Irene hat keinen Alkohol und keine Drogen mehr bekommen. Der Entzug ist abgeschlossen. Wir müssen die Frau jetzt weiter platzieren. Allerdings muss ich sagen: Wir hatten bis jetzt kein Glück, einen geeigneten Platz für die junge Frau zu finden.“
„Das glaube ich, dass Sie kein Glück hatten“, meinte meine Frau und ging mit Tränen in den Augen zu Irene, umarmte sie und fragte: „Möchten Sie zu uns kommen?“
Auch Irene weinte leise vor sich hin, nickte und küsste meine Frau auf beide Wangen. Meine Frau blieb nun neben der Patientin sitzen und hielt sie fest an ihrem Arm.
Der Sozialarbeiter gab ein hörbares Aufatmen von sich, der Eintrittstermin wurde festgelegt. Ich fragte noch nach den Medikamenten. „Die werden wir Ihnen mitgeben, ich weiß im Moment nicht, was Frau Irene für Medikamente hat.“ Das war so das Übliche, wenn man in der Klinik nach den Medikamenten fragte.
„Ich habe noch eine letzte Frage: Ist mit dem Vater und dem Onkel von Irene nichts passiert?“
Der Sozialarbeiter: „Doch, die beiden wurden durch die Klinikdirektion dem Gericht gemeldet, aber bis jetzt kennen wir noch kein Urteil.“
Bevor wir die Klinik verließen, hängte sich Irene nochmals an meine Frau und fragte: „Ich darf aber sicher kommen?“
„Ganz sicher. In einer Woche sind Sie ja schon bei uns. Versprochen ist versprochen.“
Beim Verabschieden hatte die Frau Tränen in den Augen und drückte auch mir mit beiden Händen die Hand, was mich erstaunte nach den Erfahrungen, die sie mit Männern gemacht hatte.
Ein paar Tage später wurde uns Irene durch einen Psychiatriepfleger gebracht. Der übergab uns den Medikamentencocktail, indem er sagte: „Die Tabletten reichen für 10 Tage, bis dann müssen Ssie ihren Arzt konsultieren. Der ist dann weiter verantwortlich.“
Diesen Spruch kannten wir auch. Der Pfleger brachte uns noch das wenige Gepäck ins Haus und wollte wieder verreisen.
„Wo ist der Austrittsbericht der Patientin?“, wollte ich wissen.
Aus der Seitentasche des Autos nahm er einen Briefumschlag und übergab ihn mir: „Oh ja, den hätte ich beinahe vergessen.“
Nachdem ich diesen hatte, verzog sich der Pfleger, ohne sich von Frau Irene zu verabschieden. Ich studierte die Medikamentenliste: Halaoperidol 15 mg, Imipramin 225 mg. Und noch einige Medikamente. Die Methadonkur war offenbar abgeschlossen, wie ich noch lesen konnte.
Man muss wissen, dass es vielseitige Beziehungen zwischen den beiden Symptomkomplexen von Sucht und Psychose gibt. Bevor der Patient zur Droge greift, sind vorgängig psychische Störungen bei diesen Personen vorhanden. Bei Irene war es der ständige Missbrauch durch die Familienangehörigen. Wenn jemand Kopfschmerzen hat, dann nimmt er ein Schmerzmittel, damit er von der Qual befreit wird. Menschen mit psychischen Störungen greifen eben oft zur Selbstmedikamentation. Dies sind meistens Alkohol, Drogen wie Heroin, Kokain und das viel verwendete Ecstasy.

Erfahrungsgemäß beträgt die Häufigkeit behandlungsbedürftiger seelischer Defekte in der Normalbevölkerung ca. 10 %, bei Alkoholabhängigen ca. 40 % und bei Drogenabhängigen ca. 65 %. Das zeigt auch die Mehrzahl der Notfälle in psychiatrischen Kliniken. Die ständige Einnahme von bestimmten Drogen kann zu psychotischen Begebenheiten führen. Oder sie können latent vorhandene Psychosen effektuieren.

Heroin löst kaum Psychosen aus. Aber die meisten Substanzen der Stimulantien, wie Anphetamine, Kokain, Cannabis, LSD und bestimmte Pilze (Psylozipin) können Psychosen entfesseln.

Diese Patienten haben oft optische Halluzinationen. Darunter versteht man klassische Sinnestäuschungen des Sehens. Die Erfahrungen zeigen uns, dass bei den Halluzinationen vor allem Farbsensationen da sind, die uns auch den charakteristischen Einfluss der Drogen zeigen. Zudem ist es auch ein wichtiger Hinweis auf ein psychisches Symptom. Die qualitativ größte Rolle unter den psychoseinduzierenden Stoffen ist tatsächlich der Wirkstoff von Haschisch und Marihuana, Cannabinol. Man muss aber auch wissen, dass gegenüber Nikotin das Krebsrisiko bei diesen Stoffen fünfmal höher ist.

LSD ist eine typisch halluzinogene Droge. Ecstasy löst zunächst ein Gefühl der Nähe zu anderen Menschen aus und baut soziale Ängste ab. Leider können heute viele Menschen nicht mehr miteinander kommunizieren. Die jungen Leute sind bereits schon durch die Schule oder den Beruf gestresst und finden schon aus diesem Grunde keine richtige Beziehung mehr zum Mitmenschen. Unsere geistige und soziale Verarmung nimmt katastrophale Züge an. Ecstasy erleichtert und enthemmt den Zugang zum Nächsten. Bei einigen Menschen kann es aber auch zu den entgegengesetzten psychischen Effekten kommen.

Nach einem längeren Intervall nach Drogenkonsum können Späteffekte auftreten, das sind die sogenannten Flashbacks, die nach Tagen oder Wochen auftreten können.

In der Krankengeschichte von Irene konnte ich lesen, dass sie notfallmäßig in die Klinik eingeliefert wurde. Sie war völlig verstört und unkooperativ, sprach von hell leuchtenden und blitzenden Farben. Sie war gegenüber dem Klinikpersonal sehr feindselig und sprach ständig davon, dass sie dies alles nicht mehr ertragen und einen Suizid machen wolle. Sie wolle aber durch die Qual schwerer körperlicher Verletzungen endlich einfach wieder ihren Körper spüren. Das gehe nur, indem sie sich umbringe oder ihren Leib schwer verletze. Im Verlaufe des Tages traten in Abständen die typischen Flashbacks auf, die auch nach der Entlassung aus der Klinik noch ganz vereinzelt kamen.

Während der Begrüßung merkten wir, dass Irene oft einen unsicheren Gang hatte und plötzlich das Gesicht verzog. Wir fragten sie, ob sie Schmerzen hätte?
„Ja, hin und wieder habe ich noch ekelhafte Krämpfe. Ich bin dann im Gehen unsicher und oft schmerzt einfach der ganze Körper. Es ist einfach ekelhaft.“

„Diese Schmerzen werden Sie bald verlassen und Ihr körperlicher Zustand wird sich auch verbessern. Es braucht noch etwas Geduld und Zeit.“
Beim ersten Gespräch sagte uns Irene: „Wissen Sie, ich weiß eigentlich nicht, warum ich noch zu Ihnen gekommen bin, denn alles hat doch gar keinen Sinn mehr. Irgendwann ist bei jedem Menschen Schluss. Und warum soll nicht ich meinem Leben ein Ende setzen? Wer will sich mit einer ehemaligen Hure abgeben? Wissen Sie, die Depressionen, die hin und wieder einfach da sind, die lassen mich einmal da draußen in den See laufen, schwimmen kann ich schon gar nicht. Was bin ich noch wert?“ Es sind ganz entsetzliche Gedanken, die im Hirn von Irene herumspukten.

„Sie sind uns alles wert. Ich begreife, dass Sie mit Ihrer Vergangenheit nicht glücklich sein können und auch nicht glücklich sind. Aber wir haben Zeit, um miteinander eine neue Zukunft aufzubauen.“

Ein paar Tage später machten wir mit Irene den Besuch bei unserem Arzt. Wir besprachen die Abgaben der Medikamente. Er kannte meine Einstellung zu den chemischen Wirkstoffen. Er fragte mich, was ich vorschlagen würde. Meine Antwort war: „Versuchen wir, langsam aus der Chemie herauszuschleichen.“
„Gut, ich bin einverstanden.“
Irene fragte dann mit ganz großen Augen: „Was geschieht dann, wenn ich wieder abstürze?“
„Dann sind wir da, um Sie zu begleiten uns Ihnen weiterzuhelfen. Wenn es Ihnen nicht gut geht, dann möchten wir einfach bei Ihnen bleiben, bis Sie sich wieder erholt haben. Sie müssen uns vertrauen, es wird Ihnen gar nichts geschehen.“
Der Arzt verabschiedete sich von Irene, indem er ihr sagte: „Sie kommen jetzt nur noch zu mir, wenn es Ihr Wunsch ist. Ich bin überzeugt, dass es Ihnen bald besser geht, denn Sie sind gut aufgehoben im Haus zur Rebe.“
Irene malte sehr gerne und viel. Eines Tages wurde ich in ihr Zimmer gerufen. Ich wollte meine Frau dabeihaben, denn ich wusste noch nicht, wie sie reagieren würde, wenn ich mit ihr allein im Zimmer gewesen wäre. Vorsichtsmaßnahme!
„Schauen Sie, wie diese Farben leuchten. Und sehen Sie, wie das zwischen diesem Rot und Grün blitzt. Und sehen Sie die Fratze, die sich hinter dem Grün versteckt?“
„Spricht die Fratze?“, fragte ich.
„Ihre Augen blitzen mich an. Sie kommen und verschwinden. Das sollten Sie doch auch sehen! Es ist ein unheimlich verzerrtes Gesicht. Ich habe Angst.“
„Sie brauchen keine Angst zu haben, meine Frau und ich bleiben bei Ihnen. Es kann Ihnen gar nichts geschehen. Wer ist oder wem gleicht das Gesicht, welches sich hinter dem Grün versteckt?“
„Hört Ihr jetzt das laute Grinsen dieser Maske? Genau so haben die Männer gegrinst und gelacht und ihr Gesicht verzogen, wenn sie ihre Befriedung mit mir hatten. Genau so. Das halte ich nicht mehr aus. Die haben alle meinen Körper und meine Seele missbraucht. Das ist der Teufel, der mich holen will.“
Meine Frau setzte sich neben sie aufs Bett und hielt ihren Arm. „Sie brauchen gar keine Angst zu haben. Hier holt Sie gar niemand heraus. Wir sind und bleiben bei Ihnen. Und einen Teufel gibt es bei uns auch nicht.“
Eine Schwester merkte, dass in Irenes Zimmer etwas Unruhe herrschte, klopfte an und kam herein. Ich glaube, sie merkte sogleich, was los war und frage: „Soll ich ein Depot aufziehen?“ Das heißt: Soll ich eine Spritze vorbereiten?
„Nein, nur das nicht im Moment. Irene wird sich beruhigen. Aber bitte bleiben Sie hier bei meiner Frau. Im Moment ist es sicher besser, wenn kein Mann hier ist.“

Diese psychoseähnliche Erregung war nun ein typischer Späteffekt, ein sogenannter Flashback. Dieser Zustand dauerte ca. vier Stunden, bis sie die Frau wieder etwas beruhigt hatte. Nach diesem Erlebnis war Irene sehr müde und schlief ein. Eine weitere Betreuerin blieb bei ihr im Zimmer bis am nächsten Morgen und bis sie wieder hellwach und ansprechbar war.

Beim nächsten Gespräch entschuldigte sich Irene. Sie sei nicht mehr bei Sinnen gewesen.
Die Farben hätten nur so unheimlich geleuchtet. Ihre Angst sei sehr groß gewesen und die Gesichter aller seien auch so komisch gewesen. Das Stöhnen und Grinsen war aber das Schlimmste. Alle Bettgeschichten seien wieder in ihr hochgekommen.
„Wissen Sie noch, ob die Fratzen oder Masken jemandem geglichen haben?“

„Das Dröhnen in meinen Ohren war derart stark, dass ich nicht mehr auf sie hören wollte. Und alle Gesichter um mich herum sahen auch so komisch aus. Selbst vor den Frauen hatte ich zeitweilig Angst. Beim nächsten Mal weiß ich, dass ich nicht allein sein muss und dass mir gar nichts geschehen kann. Ich habe jetzt auch nicht mehr so große Angst, wenn das wieder passieren sollte. Ach ja, das Gesicht, die Fratzen. In diesem Gesicht sind alle Männer enthalten gewesen, die mich missbrauchten. Einmal war’s dieser und einmal jener. Das Schlimme ist, dass man diese Qualen auch körperlich durchleben muss.“

„Möchten Sie in einem solchen Moment, dass Sie ein leichtes Medikament bekommen? Die Medizin der Klinik ist ja bereits abgesetzt, denn Sie sind ja schon einige Wochen hier bei uns. Dann haben Sie vom Teufel gesprochen. Ich gebe Ihnen hier ein Buch zum Lesen. Es heißt: Das theologische Ungeheuer, geschrieben von Peter Maslowski 1978. Wenn Sie das gelesen haben oder lesen möchten, dann wissen Sie, wie man über den Teufel auch denken kann.“
„Gerne, ich lese das Buch. Medikamente möchte ich nicht mehr. Lieber nochmals einen solchen Anfall, den ich überstehen kann, wenn ihr bei mir bleibt. Das nächste Mal können Sie ruhig mit Ihrer Frau bei mir bleiben. Ich merke, ich habe jetzt schon viel weniger Angst.“
„Ihr Gehirn ist durch die Drogen und den Alkohol sehr gestresst worden. Aber wie sich ein müder Körper erholen kann, so kann sich auch das Hirn erholen. Malen Sie nicht mehr weiter?“
„Doch, ich möchte schon, ich muss nur diese Schwierigkeiten überwinden. Ich habe jetzt gesehen und gespürt, dass ich nicht allein bin, wenn der Kampf losgeht. Ich möchte, sobald das geht und Sie es auch für gut befinden, die Kunstgewerbeschule besuchen.“
„Das freut uns sehr. Aber Sie wissen, dass gerade in dieser Gegend der Drogenhandel sehr belebt ist.“
„Davor haben Sie nun Angst?“, fragte sie mich.
„Ehrlich gesagt ja. Aber das heißt gar nicht, dass wir diesen Versuch nicht starten wollen. Melden Sie sich nur an. Sie müssen, glaube ich, noch eine Aufnahmeprüfung machen.“
„Ich möchte vorerst nur einige Fächer belegen. Ich muss ja selber sehen, wie es dort zugeht.“

Nachdem sich Irene angemeldet und auch ein Vorstellungsgespräch geführt hatte, bei dem sie auch einige ihrer Arbeiten zeigen musste, bekam sie nach einiger Zeit den Bericht, dass sie mit neuem Schulanfang die gewünschten Kurse belegen könne.

Wir hatten noch viele Einzel- und Gruppengespräche, die ich ja – wie schon einmal erwähnt – mit dem Einverständnis unserer Klienten immer auf das Tonband aufzeichnete. So konnten wir immer wieder überprüfen, wie und wann sich unsere Meinungen änderten oder gleich blieben.

Irene erzählte, dass sie nach dem Missbrauch folgende Gefühle hatte: „Wissen Sie, ich kam mir vor wie ein Apfel, in den alle beißen und das Beste und den ganzen Saft in sich hineinschlürften. Aber was ist von mir übrig geblieben? Nur noch das harte Gehäuse und der Wurm, der im Apfel verborgen war. Da ich mich selber furchtbar hasste und ich mich selber nicht mehr ausstehen konnte, schlüpfte ich einfach in andere Identitäten. Ich selber konnte und wollte mich mit mir selber nicht mehr identifizieren. Damit ich leichter in eine andere Rolle schlüpfen konnte, oder besser gesagt, damit ich meine verhasste Identität besser wechseln konnte, waren mir der Alkohol und die Droge eine große Hilfe. Aber wissen Sie, mein Schuldgefühl, meine Scham, meine Trauer, die ich über meinen geschändeten Körper hatte, musste einfach mit Alkohol und Drogen ersäuft werden. Wie hätte ich das sonst aushalten können?“
„Wie stehen Sie heute zu Ihrem Körper?“, fragte ich.
„Mein Körper ist ausgebrannt. Ich glaube kaum mehr, dass ich noch mit einem Mann schlafen könnte. Schon wenn ich daran denke, wird es mir kotzübel! Aber ich merke hier, dass ich wieder als vollwertige Peron ernst genommen werde. Das tut mir gut. Ganz langsam kommen mein Selbstwertgefühl, mein Selbstbewusstsein und meine Handlungsfähigkeit wieder. Aber Sie müssen schon noch etwas Geduld haben mit mir, ich bin noch nicht ganz über den Berg und werde wahrscheinlich diesen Makel auch mein Leben lang mit mir herumschleppen müssen. Ich weiß noch nicht, ob ich überhaupt noch ein normales Leben führen kann. Aber ich merke, dass mein Leben bereits schon in Ihrem Hause eine andere Qualität bekommen hat. Oft ist es so, als müsste ich noch einzelne Teile meiner Seele stückweise zusammensuchen. Es gelingt mir aber nicht immer, diese Teile so zusammenzufügen und zu finden, dass ich wieder ICH bin.“

„Wir werden Ihnen helfen, dass Sie Ihr ICH wieder als eine gesunde Einheit fühlen können. Denn Sie haben ja sehr klare Vorstellungen und Gedanken. Und man merkt auch, dass Sie wollen und Ihrem Leben einen ganz neuen Sinn geben möchten. Ich finde es sehr gut, dass Sie auch über Ihre Vergangenheit und Ihren inneren Zustand sprechen können. Für Ihr Vertrauen möchte ich Ihnen ganz herzlich danken.“

Irene: „Ich bin sehr froh, dass man mich hier versteht. Wissen Sie, wann bei mir das Vertrauen gekommen ist? Erst war es noch weg und dann mit der Zeit kam es immer näher.“
„Das würde mich jetzt sehr interessieren, wann Sie das erste Mal gespürt haben, dass wir Sie für einen liebevollen und wertvollen Menschen gehalten haben.“
„Das war in der Klinik, als mich Ihre Frau – obwohl sie noch nicht viel von mir wusste, und was sie wusste, war sicher nicht schön – in die Arme nahm. Es war mir, als ob eine herrliche Wärme durch mich strömte. Es war für mich, als ob ich von einer liebenden Mutter in die Arme genommen würde. Ich fühlte meinen Körper wieder nach sehr langer Zeit. Von diesem Moment an habe ich etwas von meiner schrecklichen Kälte verloren.“
„Haben Sie das einmal meiner Frau gesagt?“
„Nein, aber ich will es noch nachholen. Es kam mir so vor, als ob ich als Kind endlich von einer Mutter in die Arme genommen würde. Von meiner Mutter habe ich nur Schläge und böse Worte erhalten. Dafür aber rannte sie jeden Tag in die Messe.“

Als Irene dieses Erlebnis meiner Frau erzählte, war auch sie sehr gerührt, und sie soll sie offenbar gerade wieder in die Arme genommen haben.

Es gab noch einige Male kleinere Rückfälle, bei denen Irene intensiv von uns allen begleitet wurde und wir einige Stunden mit ihr verbrachten. Immer wieder verweigerte sie die Einnahme eines Medikaments mit der Begründung: „Ich will mich spüren. Ich will mich erleben. In meinem Körper ist durch den Missbrauch und durch die anfänglich vielen Medikamente genügend abgestorben. Ich bin genügend sediert worden. Ich will wieder ich sein, auch wenn es noch sehr schmerzt. Ich bin froh, dass ich nicht alleine sein muss und nicht isoliert werde.“

Wir stellten bei allen unseren Patienten fest, dass diese Begleitung Wunder wirkte. Die seelisch schwer verletzten Menschen konnten zu ihrer Umwelt wieder Vertrauen fassen, und alle wussten, dass sie in den schlimmsten Situationen nicht allein gelassen wurden.

Das Vertrauen, das wir von unseren Klienten erfahren durften, die körperlich und seelisch positiven Veränderungen der uns anvertrauten Menschen gaben uns den Mut und die Kraft, außerhalb des Dienstplanes und ohne Uhr zu arbeiten.

Immer wieder konnte ich bei den Supervisionen hören, dass die beste Entschädigung doch die sei, dass es allen Patienten, wenn auch nach längerer Wartezeit, immer besser gehe. Alle freuten sich über den Erfolg, zu dem jeder Einzelne des Teams beigetragen hatte. Wir hatten zum guten Glück auch langjährige Mitarbeiter.

Irene und die hoch geachteten Männer

Als wir Irene in der Klinik besuchten, weil von dieser ein Übertritt in unser Haus vorgesehen war, lernten wir eine junge, in sich zusammengesunkene, mit ganz dunkeln Augenrändern versehene und in sich zurückgezogene Frau kennen. Sie saß ganz zusammengekauert auf einem Stuhl und betrachtete sehr lange meine Frau und mich genau.

Der Sozialarbeiter der Klinik fragte: „Irene, möchten Sie erzählen oder soll ich beginnen?“
„Obwohl ich müde von den vielen Medikamenten bin, die mich beruhigen sollten und dies doch nicht tun, erzähle ich einmal. Wenn die beiden mich gehört haben, dann wird es sowieso nichts mit einem Wechsel geben.“
„Möchten Sie die Klinik überhaupt verlassen?“, fragte meine Frau.
„Und ob. Lieber heute als morgen“, war die Antwort.
„Wir hören Ihnen gerne zu. Erzählen Sie einfach das, was Sie uns gerne sagen möchten“, sagte ich.
„Gut, mit 16 bin ich von zu Hause ausgerissen. Ich wurde von meinem Vater und meinem Onkel sexuell missbraucht.“
„Erklären Sie das näher, wie sie missbraucht wurden“, ergänzte der anwesende Sozialarbeiter.
„Ich wurde zum Geschlechtsakt mit beiden gezwungen. Ich musste vor beiden oder vor einem masturbieren und dann ihre Glieder streicheln und küssen. Das hat mich mit der Zeit dermaßen geekelt, dass ich das einfach nicht mehr tun wollte. Wenn ich nicht gefügig war, wurde ich einfach geschlagen. Ich bin jetzt 24 Jahre alt, aber mein Körper ist dermaßen ausgebrannt, dass ich nie mehr einen sexuellen Kontakt mit jemandem haben will. Ich schäme mich vor mir selber, dass ich mich je für so etwas hingegeben habe. Ich fühle mich so schmutzig, als ob ich in meinem Leben noch nie gebadet hätte. Als ich von zu Hause weglief, hatte ich weder eine Unterkunft noch hatte ich Geld. Ich kannte einen Künstler, der malte und der töpferte. Bei ihm fand ich Unterschlupf. Dann musste ich, da ich eigentlich einen schönen Körper habe, zum Malen Akt stehen. Dann begann er, meinen Körper zu streicheln und schlussendlich landeten wir wieder im Bett. Ich griff zur Flasche und trank reichlich Wein. Wann ich dann beduselt (betrunken) war, konnte ich das Spiel über mich ergehen lassen. Mit der Zeit reichte das Trinken auch nicht mehr aus, und zum Alkohol kam dann noch Haschisch, Heroin und Kokain. Ich musste dann auch noch den Drogenstrich machen, damit ich zu dem Stoff kam, den ich brauchte. Meine Familie wollte von mir nichts mehr wissen. Meine Eltern sind Italiener und streng katholisch. Ständig musste man noch mit diesen falschen Kerlen von Vater und Onkel in die Kirche springen. Es waren eben hoch angesehene Männer in unserem Dorfe. Mit dem Alkohol, der Droge spürte ich nicht mehr, was mit meinem Körper geschah. Denn ich konnte mich nur hingeben, wenn ich damit vollgepumpt war. Wollen Sie mich noch aufnehmen?“
„Erzählen Sie ruhig weiter. Wir möchten gerne Ihre ganze Geschichte hören“, gab ich zur Antwort.
„Da ich meinen Körper nicht mehr spürte, begann ich, mich an Armen und Beinen mit dem Messer, der Schere oder am besten mit Rasierklingen zu schneiden. Mein psychischer Zustand verschlechterte sich so stark, dass ich glaubte, böse Stimmen zu hören, wo gar keine Stimmen waren. In meinem Alkohol- und Drogendelirium sah ich Sachen, die die gar nicht da waren. Am Schlimmsten war es einmal, als ich LSD nahm. Ich sah die Farben viel stärker und fester, als dies sonst der Fall war. Die Menschen, die ich sah, waren keine Menschen mehr, sondern Monster. Das passierte mir immer öfter, auch wenn ich kein LSD nahm. So kam ich zum Entzug in die Klinik.“

Der Sozialarbeiter sagte nun zu uns: „Der Entzug ist vorbei. Irene hat keinen Alkohol und keine Drogen mehr bekommen. Der Entzug ist abgeschlossen. Wir müssen die Frau jetzt weiter platzieren. Allerdings muss ich sagen: Wir hatten bis jetzt kein Glück, einen geeigneten Platz für die junge Frau zu finden.“
„Das glaube ich, dass Sie kein Glück hatten“, meinte meine Frau und ging mit Tränen in den Augen zu Irene, umarmte sie und fragte: „Möchten Sie zu uns kommen?“
Auch Irene weinte leise vor sich hin, nickte und küsste meine Frau auf beide Wangen. Meine Frau blieb nun neben der Patientin sitzen und hielt sie fest an ihrem Arm.
Der Sozialarbeiter gab ein hörbares Aufatmen von sich, der Eintrittstermin wurde festgelegt. Ich fragte noch nach den Medikamenten. „Die werden wir Ihnen mitgeben, ich weiß im Moment nicht, was Frau Irene für Medikamente hat.“ Das war so das Übliche, wenn man in der Klinik nach den Medikamenten fragte.
„Ich habe noch eine letzte Frage: Ist mit dem Vater und dem Onkel von Irene nichts passiert?“
Der Sozialarbeiter: „Doch, die beiden wurden durch die Klinikdirektion dem Gericht gemeldet, aber bis jetzt kennen wir noch kein Urteil.“
Bevor wir die Klinik verließen, hängte sich Irene nochmals an meine Frau und fragte: „Ich darf aber sicher kommen?“
„Ganz sicher. In einer Woche sind Sie ja schon bei uns. Versprochen ist versprochen.“
Beim Verabschieden hatte die Frau Tränen in den Augen und drückte auch mir mit beiden Händen die Hand, was mich erstaunte nach den Erfahrungen, die sie mit Männern gemacht hatte.
Ein paar Tage später wurde uns Irene durch einen Psychiatriepfleger gebracht. Der übergab uns den Medikamentencocktail, indem er sagte: „Die Tabletten reichen für 10 Tage, bis dann müssen Ssie ihren Arzt konsultieren. Der ist dann weiter verantwortlich.“
Diesen Spruch kannten wir auch. Der Pfleger brachte uns noch das wenige Gepäck ins Haus und wollte wieder verreisen.
„Wo ist der Austrittsbericht der Patientin?“, wollte ich wissen.
Aus der Seitentasche des Autos nahm er einen Briefumschlag und übergab ihn mir: „Oh ja, den hätte ich beinahe vergessen.“
Nachdem ich diesen hatte, verzog sich der Pfleger, ohne sich von Frau Irene zu verabschieden. Ich studierte die Medikamentenliste: Halaoperidol 15 mg, Imipramin 225 mg. Und noch einige Medikamente. Die Methadonkur war offenbar abgeschlossen, wie ich noch lesen konnte.
Man muss wissen, dass es vielseitige Beziehungen zwischen den beiden Symptomkomplexen von Sucht und Psychose gibt. Bevor der Patient zur Droge greift, sind vorgängig psychische Störungen bei diesen Personen vorhanden. Bei Irene war es der ständige Missbrauch durch die Familienangehörigen. Wenn jemand Kopfschmerzen hat, dann nimmt er ein Schmerzmittel, damit er von der Qual befreit wird. Menschen mit psychischen Störungen greifen eben oft zur Selbstmedikamentation. Dies sind meistens Alkohol, Drogen wie Heroin, Kokain und das viel verwendete Ecstasy.

Erfahrungsgemäß beträgt die Häufigkeit behandlungsbedürftiger seelischer Defekte in der Normalbevölkerung ca. 10 %, bei Alkoholabhängigen ca. 40 % und bei Drogenabhängigen ca. 65 %. Das zeigt auch die Mehrzahl der Notfälle in psychiatrischen Kliniken. Die ständige Einnahme von bestimmten Drogen kann zu psychotischen Begebenheiten führen. Oder sie können latent vorhandene Psychosen effektuieren.

Heroin löst kaum Psychosen aus. Aber die meisten Substanzen der Stimulantien, wie Anphetamine, Kokain, Cannabis, LSD und bestimmte Pilze (Psylozipin) können Psychosen entfesseln.

Diese Patienten haben oft optische Halluzinationen. Darunter versteht man klassische Sinnestäuschungen des Sehens. Die Erfahrungen zeigen uns, dass bei den Halluzinationen vor allem Farbsensationen da sind, die uns auch den charakteristischen Einfluss der Drogen zeigen. Zudem ist es auch ein wichtiger Hinweis auf ein psychisches Symptom. Die qualitativ größte Rolle unter den psychoseinduzierenden Stoffen ist tatsächlich der Wirkstoff von Haschisch und Marihuana, Cannabinol. Man muss aber auch wissen, dass gegenüber Nikotin das Krebsrisiko bei diesen Stoffen fünfmal höher ist.

LSD ist eine typisch halluzinogene Droge. Ecstasy löst zunächst ein Gefühl der Nähe zu anderen Menschen aus und baut soziale Ängste ab. Leider können heute viele Menschen nicht mehr miteinander kommunizieren. Die jungen Leute sind bereits schon durch die Schule oder den Beruf gestresst und finden schon aus diesem Grunde keine richtige Beziehung mehr zum Mitmenschen. Unsere geistige und soziale Verarmung nimmt katastrophale Züge an. Ecstasy erleichtert und enthemmt den Zugang zum Nächsten. Bei einigen Menschen kann es aber auch zu den entgegengesetzten psychischen Effekten kommen.

Nach einem längeren Intervall nach Drogenkonsum können Späteffekte auftreten, das sind die sogenannten Flashbacks, die nach Tagen oder Wochen auftreten können.

In der Krankengeschichte von Irene konnte ich lesen, dass sie notfallmäßig in die Klinik eingeliefert wurde. Sie war völlig verstört und unkooperativ, sprach von hell leuchtenden und blitzenden Farben. Sie war gegenüber dem Klinikpersonal sehr feindselig und sprach ständig davon, dass sie dies alles nicht mehr ertragen und einen Suizid machen wolle. Sie wolle aber durch die Qual schwerer körperlicher Verletzungen endlich einfach wieder ihren Körper spüren. Das gehe nur, indem sie sich umbringe oder ihren Leib schwer verletze. Im Verlaufe des Tages traten in Abständen die typischen Flashbacks auf, die auch nach der Entlassung aus der Klinik noch ganz vereinzelt kamen.

Während der Begrüßung merkten wir, dass Irene oft einen unsicheren Gang hatte und plötzlich das Gesicht verzog. Wir fragten sie, ob sie Schmerzen hätte?
„Ja, hin und wieder habe ich noch ekelhafte Krämpfe. Ich bin dann im Gehen unsicher und oft schmerzt einfach der ganze Körper. Es ist einfach ekelhaft.“

„Diese Schmerzen werden Sie bald verlassen und Ihr körperlicher Zustand wird sich auch verbessern. Es braucht noch etwas Geduld und Zeit.“
Beim ersten Gespräch sagte uns Irene: „Wissen Sie, ich weiß eigentlich nicht, warum ich noch zu Ihnen gekommen bin, denn alles hat doch gar keinen Sinn mehr. Irgendwann ist bei jedem Menschen Schluss. Und warum soll nicht ich meinem Leben ein Ende setzen? Wer will sich mit einer ehemaligen Hure abgeben? Wissen Sie, die Depressionen, die hin und wieder einfach da sind, die lassen mich einmal da draußen in den See laufen, schwimmen kann ich schon gar nicht. Was bin ich noch wert?“ Es sind ganz entsetzliche Gedanken, die im Hirn von Irene herumspukten.

„Sie sind uns alles wert. Ich begreife, dass Sie mit Ihrer Vergangenheit nicht glücklich sein können und auch nicht glücklich sind. Aber wir haben Zeit, um miteinander eine neue Zukunft aufzubauen.“

Ein paar Tage später machten wir mit Irene den Besuch bei unserem Arzt. Wir besprachen die Abgaben der Medikamente. Er kannte meine Einstellung zu den chemischen Wirkstoffen. Er fragte mich, was ich vorschlagen würde. Meine Antwort war: „Versuchen wir, langsam aus der Chemie herauszuschleichen.“
„Gut, ich bin einverstanden.“
Irene fragte dann mit ganz großen Augen: „Was geschieht dann, wenn ich wieder abstürze?“
„Dann sind wir da, um Sie zu begleiten uns Ihnen weiterzuhelfen. Wenn es Ihnen nicht gut geht, dann möchten wir einfach bei Ihnen bleiben, bis Sie sich wieder erholt haben. Sie müssen uns vertrauen, es wird Ihnen gar nichts geschehen.“
Der Arzt verabschiedete sich von Irene, indem er ihr sagte: „Sie kommen jetzt nur noch zu mir, wenn es Ihr Wunsch ist. Ich bin überzeugt, dass es Ihnen bald besser geht, denn Sie sind gut aufgehoben im Haus zur Rebe.“
Irene malte sehr gerne und viel. Eines Tages wurde ich in ihr Zimmer gerufen. Ich wollte meine Frau dabeihaben, denn ich wusste noch nicht, wie sie reagieren würde, wenn ich mit ihr allein im Zimmer gewesen wäre. Vorsichtsmaßnahme!
„Schauen Sie, wie diese Farben leuchten. Und sehen Sie, wie das zwischen diesem Rot und Grün blitzt. Und sehen Sie die Fratze, die sich hinter dem Grün versteckt?“
„Spricht die Fratze?“, fragte ich.
„Ihre Augen blitzen mich an. Sie kommen und verschwinden. Das sollten Sie doch auch sehen! Es ist ein unheimlich verzerrtes Gesicht. Ich habe Angst.“
„Sie brauchen keine Angst zu haben, meine Frau und ich bleiben bei Ihnen. Es kann Ihnen gar nichts geschehen. Wer ist oder wem gleicht das Gesicht, welches sich hinter dem Grün versteckt?“
„Hört Ihr jetzt das laute Grinsen dieser Maske? Genau so haben die Männer gegrinst und gelacht und ihr Gesicht verzogen, wenn sie ihre Befriedung mit mir hatten. Genau so. Das halte ich nicht mehr aus. Die haben alle meinen Körper und meine Seele missbraucht. Das ist der Teufel, der mich holen will.“
Meine Frau setzte sich neben sie aufs Bett und hielt ihren Arm. „Sie brauchen gar keine Angst zu haben. Hier holt Sie gar niemand heraus. Wir sind und bleiben bei Ihnen. Und einen Teufel gibt es bei uns auch nicht.“
Eine Schwester merkte, dass in Irenes Zimmer etwas Unruhe herrschte, klopfte an und kam herein. Ich glaube, sie merkte sogleich, was los war und frage: „Soll ich ein Depot aufziehen?“ Das heißt: Soll ich eine Spritze vorbereiten?
„Nein, nur das nicht im Moment. Irene wird sich beruhigen. Aber bitte bleiben Sie hier bei meiner Frau. Im Moment ist es sicher besser, wenn kein Mann hier ist.“

Diese psychoseähnliche Erregung war nun ein typischer Späteffekt, ein sogenannter Flashback. Dieser Zustand dauerte ca. vier Stunden, bis sie die Frau wieder etwas beruhigt hatte. Nach diesem Erlebnis war Irene sehr müde und schlief ein. Eine weitere Betreuerin blieb bei ihr im Zimmer bis am nächsten Morgen und bis sie wieder hellwach und ansprechbar war.

Beim nächsten Gespräch entschuldigte sich Irene. Sie sei nicht mehr bei Sinnen gewesen.
Die Farben hätten nur so unheimlich geleuchtet. Ihre Angst sei sehr groß gewesen und die Gesichter aller seien auch so komisch gewesen. Das Stöhnen und Grinsen war aber das Schlimmste. Alle Bettgeschichten seien wieder in ihr hochgekommen.
„Wissen Sie noch, ob die Fratzen oder Masken jemandem geglichen haben?“

„Das Dröhnen in meinen Ohren war derart stark, dass ich nicht mehr auf sie hören wollte. Und alle Gesichter um mich herum sahen auch so komisch aus. Selbst vor den Frauen hatte ich zeitweilig Angst. Beim nächsten Mal weiß ich, dass ich nicht allein sein muss und dass mir gar nichts geschehen kann. Ich habe jetzt auch nicht mehr so große Angst, wenn das wieder passieren sollte. Ach ja, das Gesicht, die Fratzen. In diesem Gesicht sind alle Männer enthalten gewesen, die mich missbrauchten. Einmal war’s dieser und einmal jener. Das Schlimme ist, dass man diese Qualen auch körperlich durchleben muss.“

„Möchten Sie in einem solchen Moment, dass Sie ein leichtes Medikament bekommen? Die Medizin der Klinik ist ja bereits abgesetzt, denn Sie sind ja schon einige Wochen hier bei uns. Dann haben Sie vom Teufel gesprochen. Ich gebe Ihnen hier ein Buch zum Lesen. Es heißt: Das theologische Ungeheuer, geschrieben von Peter Maslowski 1978. Wenn Sie das gelesen haben oder lesen möchten, dann wissen Sie, wie man über den Teufel auch denken kann.“
„Gerne, ich lese das Buch. Medikamente möchte ich nicht mehr. Lieber nochmals einen solchen Anfall, den ich überstehen kann, wenn ihr bei mir bleibt. Das nächste Mal können Sie ruhig mit Ihrer Frau bei mir bleiben. Ich merke, ich habe jetzt schon viel weniger Angst.“
„Ihr Gehirn ist durch die Drogen und den Alkohol sehr gestresst worden. Aber wie sich ein müder Körper erholen kann, so kann sich auch das Hirn erholen. Malen Sie nicht mehr weiter?“
„Doch, ich möchte schon, ich muss nur diese Schwierigkeiten überwinden. Ich habe jetzt gesehen und gespürt, dass ich nicht allein bin, wenn der Kampf losgeht. Ich möchte, sobald das geht und Sie es auch für gut befinden, die Kunstgewerbeschule besuchen.“
„Das freut uns sehr. Aber Sie wissen, dass gerade in dieser Gegend der Drogenhandel sehr belebt ist.“
„Davor haben Sie nun Angst?“, fragte sie mich.
„Ehrlich gesagt ja. Aber das heißt gar nicht, dass wir diesen Versuch nicht starten wollen. Melden Sie sich nur an. Sie müssen, glaube ich, noch eine Aufnahmeprüfung machen.“
„Ich möchte vorerst nur einige Fächer belegen. Ich muss ja selber sehen, wie es dort zugeht.“

Nachdem sich Irene angemeldet und auch ein Vorstellungsgespräch geführt hatte, bei dem sie auch einige ihrer Arbeiten zeigen musste, bekam sie nach einiger Zeit den Bericht, dass sie mit neuem Schulanfang die gewünschten Kurse belegen könne.

Wir hatten noch viele Einzel- und Gruppengespräche, die ich ja – wie schon einmal erwähnt – mit dem Einverständnis unserer Klienten immer auf das Tonband aufzeichnete. So konnten wir immer wieder überprüfen, wie und wann sich unsere Meinungen änderten oder gleich blieben.

Irene erzählte, dass sie nach dem Missbrauch folgende Gefühle hatte: „Wissen Sie, ich kam mir vor wie ein Apfel, in den alle beißen und das Beste und den ganzen Saft in sich hineinschlürften. Aber was ist von mir übrig geblieben? Nur noch das harte Gehäuse und der Wurm, der im Apfel verborgen war. Da ich mich selber furchtbar hasste und ich mich selber nicht mehr ausstehen konnte, schlüpfte ich einfach in andere Identitäten. Ich selber konnte und wollte mich mit mir selber nicht mehr identifizieren. Damit ich leichter in eine andere Rolle schlüpfen konnte, oder besser gesagt, damit ich meine verhasste Identität besser wechseln konnte, waren mir der Alkohol und die Droge eine große Hilfe. Aber wissen Sie, mein Schuldgefühl, meine Scham, meine Trauer, die ich über meinen geschändeten Körper hatte, musste einfach mit Alkohol und Drogen ersäuft werden. Wie hätte ich das sonst aushalten können?“
„Wie stehen Sie heute zu Ihrem Körper?“, fragte ich.
„Mein Körper ist ausgebrannt. Ich glaube kaum mehr, dass ich noch mit einem Mann schlafen könnte. Schon wenn ich daran denke, wird es mir kotzübel! Aber ich merke hier, dass ich wieder als vollwertige Peron ernst genommen werde. Das tut mir gut. Ganz langsam kommen mein Selbstwertgefühl, mein Selbstbewusstsein und meine Handlungsfähigkeit wieder. Aber Sie müssen schon noch etwas Geduld haben mit mir, ich bin noch nicht ganz über den Berg und werde wahrscheinlich diesen Makel auch mein Leben lang mit mir herumschleppen müssen. Ich weiß noch nicht, ob ich überhaupt noch ein normales Leben führen kann. Aber ich merke, dass mein Leben bereits schon in Ihrem Hause eine andere Qualität bekommen hat. Oft ist es so, als müsste ich noch einzelne Teile meiner Seele stückweise zusammensuchen. Es gelingt mir aber nicht immer, diese Teile so zusammenzufügen und zu finden, dass ich wieder ICH bin.“

„Wir werden Ihnen helfen, dass Sie Ihr ICH wieder als eine gesunde Einheit fühlen können. Denn Sie haben ja sehr klare Vorstellungen und Gedanken. Und man merkt auch, dass Sie wollen und Ihrem Leben einen ganz neuen Sinn geben möchten. Ich finde es sehr gut, dass Sie auch über Ihre Vergangenheit und Ihren inneren Zustand sprechen können. Für Ihr Vertrauen möchte ich Ihnen ganz herzlich danken.“

Irene: „Ich bin sehr froh, dass man mich hier versteht. Wissen Sie, wann bei mir das Vertrauen gekommen ist? Erst war es noch weg und dann mit der Zeit kam es immer näher.“
„Das würde mich jetzt sehr interessieren, wann Sie das erste Mal gespürt haben, dass wir Sie für einen liebevollen und wertvollen Menschen gehalten haben.“
„Das war in der Klinik, als mich Ihre Frau – obwohl sie noch nicht viel von mir wusste, und was sie wusste, war sicher nicht schön – in die Arme nahm. Es war mir, als ob eine herrliche Wärme durch mich strömte. Es war für mich, als ob ich von einer liebenden Mutter in die Arme genommen würde. Ich fühlte meinen Körper wieder nach sehr langer Zeit. Von diesem Moment an habe ich etwas von meiner schrecklichen Kälte verloren.“
„Haben Sie das einmal meiner Frau gesagt?“
„Nein, aber ich will es noch nachholen. Es kam mir so vor, als ob ich als Kind endlich von einer Mutter in die Arme genommen würde. Von meiner Mutter habe ich nur Schläge und böse Worte erhalten. Dafür aber rannte sie jeden Tag in die Messe.“

Als Irene dieses Erlebnis meiner Frau erzählte, war auch sie sehr gerührt, und sie soll sie offenbar gerade wieder in die Arme genommen haben.

Es gab noch einige Male kleinere Rückfälle, bei denen Irene intensiv von uns allen begleitet wurde und wir einige Stunden mit ihr verbrachten. Immer wieder verweigerte sie die Einnahme eines Medikaments mit der Begründung: „Ich will mich spüren. Ich will mich erleben. In meinem Körper ist durch den Missbrauch und durch die anfänglich vielen Medikamente genügend abgestorben. Ich bin genügend sediert worden. Ich will wieder ich sein, auch wenn es noch sehr schmerzt. Ich bin froh, dass ich nicht alleine sein muss und nicht isoliert werde.“

Wir stellten bei allen unseren Patienten fest, dass diese Begleitung Wunder wirkte. Die seelisch schwer verletzten Menschen konnten zu ihrer Umwelt wieder Vertrauen fassen, und alle wussten, dass sie in den schlimmsten Situationen nicht allein gelassen wurden.

Das Vertrauen, das wir von unseren Klienten erfahren durften, die körperlich und seelisch positiven Veränderungen der uns anvertrauten Menschen gaben uns den Mut und die Kraft, außerhalb des Dienstplanes und ohne Uhr zu arbeiten.

Immer wieder konnte ich bei den Supervisionen hören, dass die beste Entschädigung doch die sei, dass es allen Patienten, wenn auch nach längerer Wartezeit, immer besser gehe. Alle freuten sich über den Erfolg, zu dem jeder Einzelne des Teams beigetragen hatte. Wir hatten zum guten Glück auch langjährige Mitarbeiter.

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