Reifer werden

Reifer werden

Alltag, Meditation und Zeichen von Reife

Martin Striegel


EUR 22,90
EUR 13,99

Format: 15,5 x 22 cm
Seitenanzahl: 524
ISBN: 978-3-99107-363-5
Erscheinungsdatum: 29.03.2021
Zu den Merkmalen von Reife zählen Weisheit, Güte und Übernahme von Verantwortung. Aber in jedem Reifeprozess sind Gegenkräfte wirksam und es drohen globale Katastrophen. Fundiert und lebensnah werden Wege zu individueller und kollektiver Reife beleuchtet.
VORWORT

Ohne Reifen ist es wie in diesen Versen eines großen Dichters:

Denn Herr, die großen Städte sind
verlorene und aufgelöste;
[ … ]
Da leben Menschen, leben schlecht und schwer,
in tiefen Zimmern, bange von Gebärde,
geängstigter denn eine Erstlingsherde;
da draußen wacht und atmet deine Erde,
sie aber sind und wissen es nicht mehr.
[ … ]
Dort ist der Tod. Nicht jener, dessen Größe
sie in der Kindheit wundersam gestreift, –
der kleine Tod, wie man ihn dort begreift.
Ihr eigener hängt grün und ohne Süße
wie eine Frucht in ihnen, die nicht reift.

Was heißt also reifer werden?
Als Erklärung möchte ich Titel für dieses Buch anführen,
die ich in Betracht zog und verwarf
(bitte langsam zu Gemüte führen):

ERWACHSENWERDEN FÜR ERWACHSENE
EINFACH SEIN IST (NICHT) LEICHT
DAS GROSSE LABYRINTH DER LIEBE
ALLEN ERNSTES VON HERZEN LACHEN

Sie verstehen schon, was ich meine.

Oder nicht, oder zumindest nicht ganz? Dann lade ich Sie auf eine Reise ein, um unterwegs das zu ent-decken, was hinter den Worten liegt.
Beunruhigendes, Rätselhaftes, Bedenkenswertes, Anregendes und Beglückendes.
Unsere Reiseleiterin ist die Neugier, begleitet von ihrer großen Schwester, der Sehnsucht.
Die Sehnsucht, endlich klar zu sehen, was wir eigentlich wissen, und das zu sein, was wir eigentlich sind.
Und die Mutter von allen, die Liebe, wunderschön trotz ihrer Wunden, winkt uns entgegen.



1 EINFÜHRUNG UND GRUNDGEDANKEN

Wie alles, was lebt, dazu bestimmt ist, sich voll zu sich selbst zu entfalten, so auch der Mensch. Der Mensch aber wird, was er sein soll, nicht von selbst. Er wird es nur, wenn er sich selbst in die Hand nimmt, an sich arbeitet und sich zur Vollendung des Werkes ohne Unterlass übt. Das wichtigste Werk seines Lebens also ist er selbst, ER SELBST, als der „rechte Mensch“.
(Karlfried Graf Dürckheim, Psychologe,
Zen-Lehrer und Vermittler zwischen Ost und West)

Eine Welt, in der ein Mensch weniger leidet, ist eine bessere Welt.
(Caritas Schweiz)

Am ersten Tag deutete jeder auf sein Land. Am dritten oder vierten Tag zeigte jeder auf seinen Kontinent. Ab dem fünften Tag achteten wir nicht mehr auf die Kontinente. Wir sahen nur noch die Erde als den einen, ganzen Planeten.
(Sultan Ben Salman Al Saud, Astronaut)

Du bist zwar nicht verpflichtet, das Werk zu vollenden, aber es steht dir auch nicht frei, dich ihm zu entziehen.
(Aus der Mischna, einem Teil des jüdischen Talmuds)


Im Jahr 2016 fanden je eine Volksabstimmung und eine Präsidentschaftswahl statt, deren Ergebnisse nicht nur von historischer Tragweite sind, sondern die auch mich persönlich aufgewühlt haben. Die Rede ist von der Brexit-Abstimmung in Großbritannien und der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der USA. Ich fragte mich damals und frage mich heute: Wie konnte eine Mehrheit der Stimmenden (bzw. eine entscheidende Minderheit im Falle der USA, wo die Anzahl Wahlmänner und nicht die einfache Mehrheit der Stimmen ausschlaggebend ist) einen so offensichtlich unreifen Entscheid treffen? Unreif im Fall Großbritanniens in dem Sinn, dass das Land – langfristig betrachtet und unter Berücksichtigung aller mir vorliegenden Analysen, Zahlen und Fakten – unter dem Entscheid wirtschaftlich mit großer Wahrscheinlichkeit mehr leiden wird, als dass es davon profitiert; es isoliert sich auch in anderen, nicht-wirtschaftlichen Bereichen, der Zusammenhalt des Königreichs wird gefährdet und in Irland werden alte Gräben neu aufgerissen. Oder, im Fall von Trump, dass ein Mann, dem es an so vielen Eigenschaften mangelt, die von einem Staatspräsidenten in der Regel erwartet werden – Würde, Weitsicht, Sachkenntnis in politisch relevanten Themen sowie die Fähigkeit, seine Egozentrik zum Wohl der Nation etwas im Zaum zu halten –, dennoch mittels einer freien Wahl und in Kenntnis seines Charakters auf diesen Posten gehievt wurde? Ich schreibe dies 2020 und die Folgen sind noch nicht absehbar.
Auch weitere politische Erfolge von Populisten – etwa in den Philippinen, Polen, Ungarn und Brasilien – sowie deren Vormarsch in anderen Ländern stellen mich vor dieselbe Frage. Wieso gibt es derart viele Menschen, die so naiv sind, dass sie den simplizistischen und kaum einzuhaltenden Lösungsversprechungen dieser Politiker vertrauen und diesen ihre Stimme geben? Oder werden sie von anderen, selbstsüchtigen Motiven geleitet? Wählen sie mehr aus einer Stimmungslage heraus als mit dem Verstand? Wird ihre Stimmabgabe von Ressentiments – gegen das Establishment, gegen die Elite – diktiert? Direkt verbunden mit diesem Phänomen ist die Sturmflut von Obszönitäten, Verunglimpfungen, Hasstiraden und bewusster Lügen, die über die Landschaft der sozialen Medien, Online-Medien und sogar teilweise der Print-Medien in den letzten Jahren hereingebrochen ist. Als hätte sich der Deckel einer Büchse voller weltweit angestauter Neidgefühle, Ressentiments und Frustrationen geöffnet und sich der toxische Inhalt – wie bei der Büchse der Pandora – nicht mehr zurückhalten lassen und in alle Winde zerstreut …
Noch ernster: Der Klimawandel und das dadurch mitverursachte, extrem beschleunigte Massensterben und teils auch Aussterben von Pflanzen- und Tierarten bringen diverse Ökosysteme stets mehr aus dem Gleichgewicht, gefährden verschiedene Nahrungsketten und somit – zusammen mit dem steigenden Meeresspiegel – die Lebensgrundlage eines signifikanten Teils der Menschheit. Bekanntlich werden abstrakte Erklärungen und Statistiken zwar zur Kenntnis genommen; aufrütteln jedoch lassen sich die meisten von uns erst durch wiederholt vor Augen geführte drastische Beispiele. Das Abholzen der Regenwälder oder das Absterben der Korallenriffe gehören inzwischen zum Allgemeinwissen – betrachten wir deshalb zwei weniger bekannte Einzelfälle, die überdies den Zusammenhang zwischen Klimazerrüttung und Massensterben illustrieren:
Im Jahr 2015 verendeten auf einer ca. 20 km2 großen Grasfläche in Kasachstan innerhalb von nur einer Woche rund 200’000 Saiga-Antilopen. Dass sie sich gegenseitig mit einer Krankheit angesteckt hatten, war ausgeschlossen; dafür war der Zeitraum zu kurz. Obduktionen ergaben einen anderen Befund. In den Mandeln dieser Antilopen leben Bakterien der Art Pasteurella multocida, die unter normalen Umständen für die Tiere unschädlich sind. Aufgrund einer Hitzewelle in der Region, mit Temperaturen um die 37 °C, und einer extrem hohen Luftfeuchtigkeit, hatten sich die Bakterien jedoch derart vermehrt, dass sie bei ihren Wirten eine tödliche Blutvergiftung auslösten.
Zwei Jahre zuvor, 2013, verrotteten an der amerikanischen Westküste bis hinauf nach Alaska Hunderte von Millionen Seesterne – über 20 Arten waren betroffen – zu einem weißlichen Brei. Was war geschehen? Die klimabedingte Erwärmung des Pazifiks hatte die Tiere geschwächt und ein zuvor harmloses Virus in ihrem Körper virulenter werden lassen.
Vor der Jahrtausendwende warnten bloß Spezialisten vor der Gefahr der Klimaerwärmung und den drohenden ökologischen Katastrophen, heute ist dies Allgemeinwissen. Vor 2020 warnten bloß Spezialisten vor der Gefahr von Pandemien, heute ist dies Allgemeinwissen. Die globale Rezession als Folge der Coronakrise droht das zuvor schon inakzeptable Reich-Arm-Gefälle, das entsprechende Konfliktpotenzial und den dadurch verursachten Migrationsdruck weiter zu verschärfen. Zu den weltweit tickenden Zeitbomben zählen ferner (mehr als nur metaphorisch) die Entwicklung und Anhäufung von Waffen mit einer solch unvorstellbaren Vernichtungskraft, dass eine einzige davon, wenn eingesetzt, über irgendein „vernünftiges“ strategisches Ziel um ein Vielfaches hinausschießen würde. Und doch wird das weitgehend als normal hingenommen.
Es gibt immer noch eine enorm große Anzahl Menschen, die selbst in Kenntnis dieser und weiterer globaler Bedrohungen sowie bei mindestens verschwommener Wahrnehmung des eigenen Unwohlseins nicht bereit sind oder es schlicht nicht schaffen, ihre Denk- und Lebensweise entsprechend anzupassen. Wie dies im vorliegenden Buch begründet werden soll, ist das ein Zeichen von mangelnder Reife (kein Grund, liebe Leserinnen und Leser, für voreilige Abwehrreaktionen oder Minderwertigkeitsgefühle – Sie und ich und zahllose andere sitzen da im gleichen Boot). „Mangelnd“ nicht gemessen an irgendwelchen von außen aufgestülpten Normen, sondern schlicht an den konkreten Anforderungen an ein verantwortungsvolles Leben im 21. Jahrhundert. Noch gravierender wird die Problematik, sobald uns klar wird, dass die Diagnose „mangelnde Reife“ weltweit auch auf die Mehrheit der politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträger zutrifft. Das Krankheitsbild ist also gezeichnet.
Hat die Coronakrise etwas an dieser Diagnose geändert? Wir sind aufgerüttelt worden, zweifellos. In vielerlei Hinsicht wird die Welt post-Corona nicht mehr dieselbe sein wie zuvor. Vielleicht kommt es zu Fortschritten, die bis anhin bloß angedacht und diskutiert wurden – etwa bei der Arbeitslosenabsicherung, der Mobilität oder der Energiegewinnung (falls sich beispielsweise die Kohlen- und Erdölindustrie nicht mehr von der Krise erholen). Möglicherweise wird sich angesichts der weltumspannenden Wirtschaftskrise, welche die Pandemie verursacht hat, die Vordringlichkeit von Solidarität stärker einprägen. Die gezwungenermaßen weniger hektische Gangart des Lockdowns könnte bei vielen tatsächlich einen Gesinnungswandel auslösen. Die Zukunft wird es weisen. Gemäß Epidemiologen ist das Risiko groß, dass es infolge weiterer Virenmutationen künftig wiederholt zu Pandemien dieser Art kommen wird. Werden wir vorbereitet sein? Werden wir insgesamt ein Stückchen reifer geworden sein?
Was im Einzelnen unter Reife verstanden wird, soll in diesem Buch ausführlich beleuchtet werden. Als Ausgangspunkt habe ich drei Qualitäten gewählt, die meines Erachtens zentrale Kennzeichen einer reifen Person darstellen, nämlich Weisheit, Güte und Übernahme von Verantwortung (Eigen- und Mitverantwortung). Beim Reifungsprozess geht es demnach um ein Heranwachsen dieser Qualitäten. Was das auf der Alltagsebene bedeutet, wird speziell im Kapitel „Individuelles Reifen“ verdeutlicht, wo diese Grundaspekte in verschiedene konkrete Ausprägungen heruntergebrochen werden. Es soll dabei auch klargemacht werden, dass es kein Weiß oder Schwarz, kein Reif oder Unreif gibt. Wir sind alle unterwegs.
Betrachtet wird das Reifen aber nicht nur auf individueller, sondern auch auf kollektiver Stufe. Insbesondere angesichts der oben aufgelisteten Gefahren, kombiniert mit der gängigen Art der Medienberichterstattung, kommen viele Menschen heute zum Schluss, die Welt werde immer schlechter. Schlägt man einen großen historischen Bogen, so zeigt sich jedoch, dass sich die Lage der Menschheit als Ganzes auf vielen Kerngebieten nicht nur in materieller, sondern auch in nichtmaterieller Hinsicht deutlich verbessert hat (wobei immer noch allzu viele Bevölkerungsteile und Einzelpersonen von diesen Fortschritten ausgeschlossen sind oder höchstens marginal daran teilhaben). Beispiele dieses Fortschritts: Ächtung und weitreichende Abschaffung der Sklaverei („Sklaverei“ im Vollsinn des Wortes), Bildung und medizinische Grundversorgung für einen stetig wachsenden Anteil der Menschheit, Verringerung der Macht und Verfügungsgewalt von wenigen Menschen über viele dank der Demokratisierung, zunehmende Möglichkeiten und Rechte für Frauen, humanere und weniger willkürliche Rechtsprechung (vor 200 Jahren konnte ein Schafsdieb in England noch gehängt werden), seit 1945 kaum noch Eroberungsfeldzüge zwischen den Nationen und anderes mehr. Dies alles zeugt von einem – wenn auch weder rasch noch geradlinig noch allumfassend verlaufenden – Reifungsprozess der Menschheit (Kapitel 4.2.2). In die genannten Richtungen weitergehen kann der Prozess allerdings nur, wenn die vordringlichen globalen Gefahren erkannt und in breitem Maße angegangen werden – was das deutlichste Zeichen einer weiterhin reifenden Menschheit darstellen würde.
Auf politischer Ebene genügt es offensichtlich nicht mehr, einfach auf Führungspersönlichkeiten oder Regierungen zu hoffen, die es, wie man sagt, schon richten werden. Es braucht vielmehr das Mitwirken einer genügend großen Anzahl „reifer“, das heißt auch verantwortungsbewusster Menschen. Es gibt Anzeichen, dass dies teilweise schon passiert: Immer mehr Gruppierungen bilden sich rasch, dezentral und mit wenig bis keinem hierarchischen Machtgefüge und werden durchaus wirksam, auch dank den heutigen Kommunikationsmöglichkeiten. Dies gilt jedoch nicht nur für Gruppierungen, die aufbauend, kooperativ und zusammenführend wirken. Auch solche, die herabwürdigend, konfrontativ und spaltend wirksam sind, profitieren von diesen Kommunikations- und Vernetzungsmöglichkeiten.
Ferner soll aufgezeigt werden, dass sowohl im individuellen als auch im kollektiven Bereich ein Reifeprozess, im Gegensatz etwa zum Heranreifen eines Apfels, nicht von selber abläuft. Es braucht Anstöße von außen – zumeist leidvolle, die uns aus unserer Komfortzone stoßen – und danach ein bewusstes Mitwirken unsererseits. Außerdem verläuft kein Reifeweg geradlinig oder gleichmäßig. Wir verirren uns und lassen uns auf Abwege locken oder von Gegenkräften blockieren. Von einer einmal erreichten Reifestufe (beispielsweise in Sachen „Güte“) können wir unter bestimmten Umständen auf eine weniger hoch entwickelte Stufe zurückfallen. Diese Punkte werden in den Kapiteln 4.3 bis 4.5 beleuchtet.
Ein mögliches Missverständnis soll an dieser Stelle im Keim erstickt werden: Reife bedeutet keinesfalls Vollkommenheit. Vollkommenheit als Mensch ist eine Illusion. Unser jeweiliger Reifegrad hingegen ist eine Realität bzw. ein Zwischenstand in einem Entwicklungsprozess. Irgendwo auf der Reifeskala stehen wir in jeder Phase unseres Lebens. Bei uns selbst können wir durch ehrliche Innenschau einigermaßen feststellen, in welchen Bereichen unserer Persönlichkeit wir gewachsen sind und, vor allem, wo noch Arbeit ansteht. Hingegen sind Versuche, andere Menschen einzuschätzen, von zweifelhaftem Wert. Zu sehr lassen wir uns von Fassaden blenden, zu wenig tief können wir ins Innere anderer blicken, zu wenig wissen wir Bescheid über ihre Vorgeschichte und über das, was sie im Leben gezeichnet hat. Wir fühlen uns zwar in der Gegenwart einer deutlich gereiften Person generell wohl und spüren andererseits das Unwohlsein und das unechte Gebaren einer Person, die anscheinend eine solche Reife noch nicht erreicht hat. Dennoch sollten wir davon absehen, über den Entwicklungsgrad anderer Menschen zu urteilen. Zu groß ist die Gefahr, dass uns ein solches Urteil einen unmittelbaren Zugang zu dieser Person versperrt.
Selbstkenntnis ist also einer der Schlüssel. Ohne zunehmende Selbstkenntnis findet kein Reifen statt. Und die Voraussetzung hierfür ist ein wacher und fokussierter werdendes Bewusstsein. Nicht nur nach außen, sondern eben auch nach innen. Wir alle geraten früher oder später in Situationen, die uns schmerzhaft unsere eigenen Schwächen, Illusionen und blinden Flecken aufzeigen. Wenn nötig so oft, bis wir nicht anders können, als ihnen ins Gesicht zu schauen. So würde man zumindest meinen. Wie leicht aber schauen wir selbst nach wiederholten Krisen nur nach außen, bloß um einen unverstellten Blick nach innen zu vermeiden. Wir empfinden uns als Opfer und weisen alle „Schuld“ an den Widerwärtigkeiten in unserem Leben den Mitmenschen, der Gesellschaft oder ganz einfach dem Schicksal zu. Und sehen keinen Grund, unser eigenes Verhalten zu ändern (die anderen – meine Partnerin oder mein Partner, meine Familienmitglieder, meine dumpfen Mitmenschen, die machthungrigen Politiker, die bösen Konzerne, die arrogante Elite – sie sollen sich ändern). Oder aber wir bemühen uns doch, klarere Einsichten in unsere guten und weniger guten Persönlichkeitsmerkmale zu gewinnen (ohne dass dies zu einer obsessiven Nabelschau auswächst). Wir erkennen dann sukzessive jene Elemente in unserer seelisch-geistigen Struktur, die unser zumeist reaktives und konditioniertes Verhalten mitbestimmen. Wir begreifen unsere eigene – mal größere, mal kleinere – Rolle in dem, was uns zustößt. Ferner bekommen wir eine Ahnung dessen, was noch unverdaut und unaufgearbeitet in unserem Schattenbereich lauert.
Außenstehende, besonders Freunde, können uns mit ihren zahlreichen direkten und indirekten Hinweisen bei diesem Prozess unterstützen. Therapien können helfen. Es gibt jedoch auch eine seit Jahrtausenden bestehende Praxis, die den Selbsterkennungs- und damit den Reifungsprozess entscheidend voranbringt, und das ist die Meditation.
Die Bezeichnung „Meditation“ soll hier als Sammelbegriff verwendet werden. Gemeint ist jede Praxis, bei der ein Wechsel von pausenlosem Tun zu wachem Sein stattfindet. Dieses „Sein“ kann auch mit Bedacht ausgeführte Bewegungen beinhalten. Sie umfasst somit neben der Sitzmeditation auch meditativ ausgerichtetes Yoga, Qi Gong, das kontemplative Gebet und weitere Formen der Sammlung, Versenkung und (wortlosen) Andacht. Meditation ist ein Weg, der mittels Stille und Wachsein in jenen inneren Raum führt, der zumeist durch Automatismen, Alltagshektik und emotionalen Wellengang verdeckt ist. Einen Raum, aus dem heraus wir entspannter, achtsamer und mit mehr Mitgefühl uns selbst und anderen gegenüber leben können. Meditation ist nicht kompliziert. Ähnlich wie beim Fitnesstraining für den Körper ist die gewählte Methode zweitrangig. Wichtig ist das kontinuierliche Dranbleiben. Man lernt dabei, der Stille zu vertrauen. Sie lässt eine innere Weite entstehen, aus der intuitive Einsichten und mitfühlendes Verständnis leichter aufsteigen können. Ausführungen hierzu finden Sie in den Kapiteln 2.2 bis 2.3.4.
Bevor wir uns jedoch mit diesem Themenbereich befassen, wenden wir uns dem Ausgangspunkt und dem Endpunkt eines jeglichen Reifeprozesses zu, nämlich unserem Alltag (Kapitel 2.1 und 2.3). Was nehmen wir wahr? Was geht in uns Augenblick für Augenblick vor? Wie wirkt sich das auf unser Sprechen und Handeln aus? Wir sind bekanntlich geprägt von unseren genetischen Gegebenheiten sowie von unserer Erziehung und Umwelt. Zusammen mit den gesammelten Erfahrungen führen diese Faktoren zu Gewohnheiten und Automatismen bei unserem täglichen Tun und Lassen – und zwar je länger wir leben, desto mehr. Wie viel Raum bleibt da noch für freie Entscheide? Können wir die immer stärker ausgetretenen Pfade unserer gewohnheitsmäßigen Muster einfach verlassen und in unserer Denk-, Fühl- und Verhaltensweise Neuland betreten? Denn das würde Wandel bedeuten. Und wenn Wandel stattfindet, zu wie viel Prozent ist er unser Verdienst, zu wie viel Prozent „Geschenk“ (so wie das Leben selbst Geschenk ist)? Einem Geschenk, dem wir uns einfach öffnen müssen, indem wir unsere Widerstände aufgeben?
Dies bringt uns zu einer weiteren Dimension unserer Wirklichkeit, nämlich dem Fundament von allem sowie der Kraftquelle für unsere Entwicklung. Was trägt uns letztlich? Was hält alles zusammen? Woher kommt die Energie, von der auch alles Materielle bloß eine verdichtete Form darstellt? Woher das Leben, woher das Bewusstsein? Wohin führt unser Leben, wohin führt die gesamte Evolution? Was gibt all diesem einen Sinn?
In allen Kulturen waren es über die Jahrhunderte primär die Religionen, die mittels Mythen, Theologien und Philosophien mehr oder weniger systematische Antworten auf derartige Fragen anboten. Mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert (als sich die Philosophie und andere Wissenschaften endgültig aus der Schirmherrschaft der Religion lösten), der Evolutionstheorie im 19. Jahrhundert und der Verbreitung und Vertiefung der Psychologie sowie dem exponentiellen Zuwachs an Kenntnissen in den Naturwissenschaften im 20. Jahrhundert kamen weitere Erklärungsmodelle hinzu. Zum Teil traten sie mit den Religionen in Konkurrenz, zum Teil ergänzten sie diese und zwangen sie zum Weiter- bzw. Umdenken (ein Prozess, dem sich die fundamentalistischen Stränge der Religionen bis heute größtenteils verweigern). Im 20. Jahrhundert kam es auch zu einem weiteren, nie zuvor dagewesenen Phänomen: eine materialistische Welterklärung verbunden mit einem politisch aufgezwungenen Atheismus. Erfasst davon wurden zeitweise halb Europa und ein wesentlicher Teil Asiens (insbesondere die Sowjetunion und der von ihr abhängige Ostblock, Albanien, China und Nordkorea, kurzzeitig auch Kambodscha). Die zugrundeliegende Ideologie erwies sich aber als nicht durchsetzungsfähig. Oder anders gesagt: Der Urdrang der Menschen nach einer spirituellen Dimension erwies sich als stärker. In all diesen Ländern (außer Nordkorea) wird Religion von den Machthabern inzwischen wieder toleriert oder sogar, in ihrem Sinne zwar, gefördert.
In der westlichen Welt hat sich die religiös-spirituelle Landschaft auch nachhaltig verändert – nicht als Folge von Zwang, sondern aufgrund der Säkularisierung. Religion ist nicht, wie manche im 20. Jahrhundert voraussagten, verschwunden, aber sie befindet sich mitten in einem tiefgreifenden Wandlungsprozess; tendenziell weg von institutionsgebundener Ausübung und hin zu mehr individualisierter Spiritualität. Im Kielwasser des Westens zeigen sich Ansätze dieses Wandels – teils unter der Oberfläche – auch in weiten Teilen der restlichen Welt. Wie sich dieser Wandel vollzieht und warum die spirituelle Dimension als Kraftquelle und Orientierungshilfe beim Reifen der Menschen so wichtig ist, wird in den Kapiteln 3 bis 3.2 erläutert.

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