Nichts ist mehr

Nichts ist mehr

Eine wahre Geschichte über Krankheit, Geschwister und den Mut, dem Leben zu vertrauen

Iris Meri


EUR 17,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 142
ISBN: 978-3-99146-575-1
Erscheinungsdatum: 04.04.2024
Wie kann man helfen, wenn eigentlich alles vergebens ist? Was braucht ein todkranker Mensch? Die ALS-Erkrankung ihres Bruders erschüttert die Familie von Iris Meri. Doch sie sieht nicht tatenlos zu, sie unterstützt ihren Bruder auf seinem schweren Weg.
1
Hilflos

Die schlecht gelaunten Tage werden häufiger. Sagt mein Bruder. Wir trinken zusammen einen Kaffee und später wollen wir ins Kino.

Es ist offensichtlich einer dieser Tage und ich bekomme es ganz schön zu spüren.
Die Motorik seiner rechten Hand hat weiter nachgelassen. Er zeigt mir, dass, wenn er die Hand nach vorne ausstreckt, sein Ringfinger herunterhängt und er ihn nicht mehr hochheben kann. Das Schlucken ist noch schwieriger geworden. Noch mehr von den Dingen, die er gerne isst, kann er nicht mehr essen.

Er wirkt frustriert.

Während der letzten Monate hatten sich seine Symptome stabilisiert, zum Teil war sogar eine Besserung eingetreten. Dank all der Therapien, die er macht, hatte man den Eindruck gewonnen, er hätte einen Einfluss auf den Verlauf seiner Erkrankung. Ich merke, er hatte sich Hoffnungen gemacht, sie aufhalten oder verzögern zu können. Und ich spüre, dass er erkennt, dass er seine Erkrankung nicht aufhalten kann, dass er nie wieder gesund wird und dass es ihm Monat für Monat immer schlechter gehen wird, ohne dass er, ein Arzt oder Therapeut es aufhalten kann.

Ich rede, aber ich dringe nicht zu ihm durch.

Wir reden über die Möglichkeit, dass er eine Reha machen könnte. Möchte er nicht und sieht auch keinen Sinn darin.
Er könnte eine Reise machen. Mit dem Wissen, dass es wahrscheinlich die letzte Reise in seinem Leben wäre, würde ihm das keine Freude machen.
Wäre jetzt ein guter Moment, dass er sich psychologische Hilfe sucht, frage ich ihn. Mal sehen, er glaubt aber nicht.

Ein zähes Gespräch, ich laufe gegen Mauern.

Mir, der eigentlich immer etwas einfällt zu sagen, etwas Konstruktives und Aufmunterndes, fällt nichts mehr ein. Ich fühle mich hilflos.

Ich denke an ein Sprichwort aus Sansibar: „Ein Leben, das den Tod erwartet, ist kein Leben.“ Ist das so?

Hilflos, weil ich meinen Bruder erst in den letzten Monaten näher kennenlerne aber ihm noch nicht nah genug bin, um zu wissen, wie ich zu ihm durchdringen kann. Weil ich weiß, wie unterschiedlich wir sind, und dass ich ihm nicht meine Vorstellungen überstülpen darf.

Mein Bruder ist ruhig und bedächtig, er ist zurückhaltend und schüchtern. Ich hatte mir vorgenommen, ihm in den kommenden Monaten, vielleicht Jahren, zu helfen, ein wenig aus seinem Schneckenhaus herauszukommen, um das Leben auszukosten, das er noch hat, aber vielleicht will er das gar nicht. Ich muss immer wieder überprüfen, ob ich in meinen Grenzen bleibe, damit ich nicht übergriffig werde.

Wie hilflos muss er sich aber erst fühlen. Es wäre anmaßend zu denken, ich könnte mich in ihn hineinversetzen.

Wie muss es für ihn sein zu wissen, dass diese Erkrankung ihn ganz schleichend, aber unaufhaltsam immer hilfloser machen wird.



2
Normalität

Letztes Weihnachten war in unserer Familie noch alles normal. Das, was für uns normal ist.
Unsere kleine Familie, das sind meine Eltern, mein Bruder, meine beiden erwachsenen Kinder und ich.

Wie an fast jedem Weihnachten haben wir uns bei den Eltern getroffen, zu Abend gegessen, uns entgegen der seit Jahren geltenden Regel „Wir schenken uns nichts!“ natürlich doch beschenkt, uns darüber aufgeregt und gemütlich zusammengesessen.

Mein Bruder machte auf uns alle einen merkwürdigen Eindruck. Er nuschelte, verschluckte sich häufig beim Essen, hatte ziemlich abgenommen und wirkte irgendwie verändert. Wir machten uns alle Gedanken und sprachen dann auch an dem Abend darüber. Er meinte, ihm sei seit dem Sommer aufgefallen, dass er auf einmal Schwierigkeiten habe, manche Wörter auszusprechen. In letzter Zeit hätte er Probleme beim Schlucken, und warum er so abgenommen habe, das wisse er auch nicht.
Er sei bei einer Hals-Nasen-Ohren-Ärztin gewesen, die eine Diagnose gestellt hatte, die alles hinlänglich erklären sollte. Die Medikamente, die er bekommen hatte, hatten keine Besserung gebracht. Seine Hausärztin hatte ihm empfohlen, zum Neurologen zu gehen, er würde aber nicht einsehen, warum, daher sei er dort nicht gewesen. Wir ermunterten ihn, doch noch mal zum Arzt zu gehen.

Wir waren alle besorgt. Ich sprach später mit meinen Kindern darüber und wir waren sehr verwundert, dass er es so hinnahm, dass es ihm nicht gut ging. Dass er sich mit dem, was die Ärztin gesagt hatte, zufriedengab, obwohl es ihm überhaupt keine Besserung gebracht hatte. Dass er den Rat der Hausärztin, zum Neurologen zu gehen, einfach ausgeschlagen hatte.

Vielleicht, weil ohne weitere Diagnose alles normal blieb?



3
Geier

Am ,Schlechte-Laune-Tag‘ waren wir im Kino, und anschließend wirkte mein Bruder entspannter. Knapp drei Stunden James Bond hatten ihn für eine Weile abgelenkt.

Ich selbst fühlte mich zerrissen, denn die unterschiedlichsten Gedanken und Gefühle tobten in mir herum. Da war nicht nur der Kummer, da war auch Ärger. Ich wünschte mir, mein Bruder würde die Zeit, die ihm noch blieb, irgendwie nutzen. Reisen, sein Geld rauswerfen oder sinnvoll einsetzen, soziale Kontakte pflegen, arbeiten, sich engagieren, irgendwas machen, nur nicht sich fast ausschließlich um seine Erkrankung kümmern und die meiste Zeit allein sein. Seine Passivität ärgerte mich. Gleichzeitig hatte ich aber auch die Hoffnung, er würde nicht den Kopf in den Sand stecken. Da war Angst. Wie würde es weitergehen? Wie würde es ihm gehen, wenn sich sein Zustand weiter verschlechterte? Was, wenn er nicht mehr alleine zuhause zurechtkäme? Was würde auf mich zukommen? Würde ich das alles schaffen? Und da war Scham. Denn auf dem Nachhauseweg freute ich mich, dass ich zwei Tage später in den Urlaub fahren und zwei Wochen Abstand zu allem haben würde. Für meine Vorfreude schämte ich mich.

Ich wollte weg von dem Geier, der seit Anfang des Jahres über uns kreiste. Von dem ich schon geträumt hatte, als er noch namenlos war.

Es war nun einige Monate her, da hatte ich von einer großen Katze mit hellem Fell geträumt. Sie war so groß wie ein Mensch, und genauso stand sie auch da, aufrecht auf ihren Hinterpfoten. Außerdem hatte sie eines meiner Lieblings-T-Shirts an. Das sah merkwürdig aus. Dann tauchte ein Geier auf, der genauso groß wie die Katze war und widerlich aussah. Die Katze stürzte sich ohne zu zögern auf ihn und begann, ihn aufzufressen. Der Anblick ekelte und gruselte mich, und trotzdem stand ich nur da und sah wie gebannt zu. Neben mir stand ein Mann.

Da der Traum nicht verblasste, sondern mir tagelang lebhaft vor Augen stand, erkundigte ich mich, welche Bedeutung die Tiere in meinem Traum gehabt haben könnten. Eine helle Katze könnte eine Warnung sein, sagte man mir. Ein Geier in einem Traum verhieße nichts Gutes, er sei etwas Bedrohliches und ein Hinweis auf Gefahr, das könnte auch eine Warnung vor einer schlimmen Krankheit sein.

War dieser Traum eine Vorahnung gewesen oder noch mehr als das?

Nicht lange nachdem ich den Traum geträumt hatte, bekam mein Bruder seine Diagnose: ALS – Amyotrophe Lateralsklerose. Das war Anfang dieses Jahres.

Und so hatte der Geier einen Namen bekommen.

Allerdings habe ich auch erfahren, dass nur in unserer Kultur der Geier mit Ablehnung und Angst betrachtet wird. In Südamerika zum Beispiel wird er als Umwandler und Reiniger gesehen, als ein Geschöpf, das dem Menschen hilft, alten Ballast abzuwerfen und seinen Weg zu gehen. Ein Krafttier, das in beiden Welten, im Hier und im Jenseits, zuhause ist und die Verstorbenen begleitet.

Sollten wir ihn also wie in meinem Traum bekämpfen oder ihm gestatten, in unser Leben zu treten?

„It´s not yet dark“ („Es ist noch nicht dunkel“) schrieb der irische Filmemacher Simon Fitzmaurice ein Buch über sein Leben mit der Erkrankung ALS. Während seiner Erkrankung drehte er einen preisgekrönten Film, reiste, bekam ein weiteres Kind und beschrieb seine Freude am Leben, auch als er im Laufe seiner Erkrankung im Rollstuhl saß, künstlich beatmet und ernährt wurde und nur noch über Augenbewegungen kommunizieren konnte.
Auch wenn mit dem Fortschreiten der ALS alle Muskeln schwinden, die Augenmuskeln sind nicht betroffen. So bleiben die Augen am Ende das einzige Fenster zur Außenwelt, und Simon Fitzmaurice hielt so lange an seinem Leben fest, solange es für ihn noch nicht dunkel war.

Das Lesen des Buches hat mich sehr nachdenklich gemacht. Wie kann ich wissen, was das Leben eines anderen lebenswert macht? Wie stark hängt das von der Persönlichkeit ab? Wie sehr hängt das von seinem Umfeld ab? Der Filmemacher hatte eine Frau, fünf Kinder, einen großen Freundeskreis, und eine Arbeit, die er geliebt hat. Viele Gründe, das Leben auszukosten, solange es ging und auch viele Menschen, die ihn immer wieder aufgebaut und angetrieben haben werden.

Die meiste Zeit seines Lebens hat mein Bruder allein gelebt. Vor etwas über zwanzig Jahren hatte er mal eine Freundin, und ich habe damals meinen Bruder völlig verwandelt erlebt. Verliebt. Mein Bruder, der sich immer völlig versteifte, wenn man ihn zur Begrüßung umarmte und immer so zurückhaltend gewesen war, turtelte vor aller Augen mit seiner Freundin herum, dass unsere Mutter nur so die Augenbrauen hochzog.

Nach ein paar Jahren zog seine Freundin weiter zum Nächsten und mein Bruder blieb allein. Ich kann nur Vermutungen anstellen, aber ich glaube, es hat ihn sehr getroffen, ich glaube aber auch, dass er schon immer gut allein zurechtkam, und sich dann in seinem Leben allein gut eingerichtet hat.

Wie ist es wohl jetzt für ihn? Hätte er eine Partnerin, eine eigene Familie, würde es ihm dann leichter fallen, durch die schweren Zeiten zu gehen, die vor ihm liegen? Oder ist er erst recht froh, dass er jetzt keine hat? Macht er sich selbst wohl überhaupt Gedanken darüber?

Ich könnte ihn darauf mal ansprechen. Wenn ich mich trauen würde. Tiefgehende Gespräche sind nicht wirklich das Ding unserer Familie. Aber ich habe auch Angst, ihn mit meinen Fragen traurig zu machen.

Mein Bruder beschäftigt sich sehr intensiv mit dem Geier. Auf verschiedenen Internetseiten und in Büchern informiert er sich über die ALS und liest Erfahrungsberichte von Betroffenen. Trotz allen Wissens, niemand kann vorhersehen, wie sein persönlicher Verlauf sein wird. Wann und auf welche Art und Weise seine Muskulatur aufgeben wird, wann er fremde Hilfe benötigen, und ob eine künstliche Ernährung oder Beatmung notwendig werden wird.

In einem Gespräch kürzlich erwähnte er diese Ungewissheit, und auch ohne dass er es aussprach, war die unvorstellbare Belastung dieser Unsicherheit zu spüren.

Ich hoffe, der Geier wird im Laufe der Zeit nicht nur Bedrohung, Kampf und Verunsicherung bedeuten.
Ob er ein Begleiter wird, ein Umwandler oder gar ein Krafttier, das wird die Zeit zeigen.



4
Bruder und Schwester

Ich glaube, ich bin einfach nicht der Typ für ein E-Bike. Vielleicht bin ich auch einfach noch nicht so weit. Das sagte ich zu meinen Kolleg*innen. Und kaufte mir direkt am folgenden Tag ein E-Bike. Sehr glaubwürdig, ich musste über mich selbst lachen.

Mein E-Bike hat den Namen Maci bekommen, und nach kürzester Zeit bin ich mit ihr schon mehrere Hundert Kilometer geradelt.

Nachdem ich mit meinen Kindern ein Bikepacking-Wochenende mit meinem Hollandrad verbracht hatte, hatte ich überlegt, mir für sportlicheres Radfahren doch noch ein weiteres Fahrrad zuzulegen. Obwohl ich mein Hollandrad liebe. Am Berg und auf langen Touren ist es aber auf Dauer doch ziemlich anstrengend. Der Weg zur Arbeit war mit dem Rad zwar immer traumhaft, durch einen steilen Anstieg am Ende kam ich aber immer ganz schön ins Schwitzen.

Ich besprach das mit meinem Bruder, der, selbst E-Bike-Fan, mir riet, ein solches zu kaufen. Gemeinsam fuhren wir zu einem E-Bike-Laden. Der Berater ging uns beiden gleichermaßen auf die Nerven, das vorgestellte Rad entsprach so gar nicht meinen Vorstellungen, und prompt war ich der Meinung, einfach nicht der E-Bike-Typ zu sein. Ich selbst wollte das Projekt erst einmal aufschieben, mein Bruder ließ aber nicht locker und schleifte mich zu einem anderen Fahrradladen, diesmal mit einem netten und kompetenten Berater. Und ich hatte die Wahl zwischen normalem Rad und E-Bike. Es war eine ganz knappe Entscheidung, aber Maci hat am Ende gewonnen, und ich habe es bisher keine Sekunde bereut. Ich fahre so viel mit ihr, das Auto kann noch mehr stehenbleiben, und der Berg auf dem Weg zur Arbeit bringt mich nicht mehr ins Schwitzen.

Das ganze Handling des E-Bikes war schon eine Umgewöhnung, aber genau wie bei dem Kauf war mein Bruder mir eine große Hilfe und hat mir alles erklärt.

Im Vergleich zu den letzten Monaten hatten wir ein kleines bisschen die Rollen getauscht. Er kümmerte sich um mich, half mir. Er ergriff die Initiative. Er war ein wenig der große Bruder gewesen, den ich immer gerne gehabt hätte. Aber nie hatte.

Weder in unserer Kindheit noch später als Erwachsene standen wir uns besonders nah. Wahrscheinlich waren wir einfach so gegensätzlich, unsere Rollen in unserer Familiengeschichte so unterschiedlich und unsere Entwicklung so verschieden, dass sich zu keiner Zeit eine tiefe Verbindung zwischen Bruder und Schwester entwickeln konnte.

Was aber jetzt so hilfreich wäre. Dann hätte ich jetzt vielleicht keine Angst, ihm unangenehme Fragen zu stellen. Würde mich vielleicht nicht so hilflos fühlen.

Direkt nach der Diagnose waren wir uns auf einmal nah, so nah wie noch nie. Wir haben uns gedrückt, zusammen geweint und besprochen, was wir jetzt tun können. Sehr schnell waren wir uns einig, dass es am besten wäre, wenn er in unsere Nähe, in meine und die unserer Eltern zöge, da die Entfernung unserer Wohnorte von knapp 200 Kilometern ein Problem werden würde. Er hat mir eine Generalvollmacht ausgestellt. Wir haben über eine Patientenverfügung und vieles andere mehr gesprochen. In das gemeinsame Besprechen und Organisieren zu gehen, tat uns gut und gab uns das Gefühl, etwas tun zu können. Und ich war überwältigt von diesem Wir, das es auf einmal gab, wie nah wir uns auf einmal standen und wie sich in kürzester Zeit unser Verhältnis verändert hatte.
Ein paar Monate später, und aus dem Wir waren wieder ein wenig der Bruder und die Schwester von früher geworden.
5 Sterne
"Nichts ist mehr" von Iris Meri  - 28.04.2024
Anne Jansen

Nichts ist mehrVon Iris MeriWas für ein brillanter Titel! Je nachdem, wie er betont wird, entsteht eine gegensätzliche Bedeutung.Der körperliche Verfall und der nahende Tod des eigenen Bruders verändern das Leben der Erzählerin. Das Buch behandelt jedoch nicht vorrangig eine Krankheitsgeschichte. Es geht in der spannend erzählten Geschichte vielmehr um den Wert des Lebens, um das, was bleibt, wenn anderes verschwindet, um die Kraft und die Zuversicht, die darin liegt für jemanden da zu sein.Angereichert mit Hinweisen und Zitaten aus anderen Büchern nähert sich die Autorin der Frage nach dem Sinn. Sie macht das ohne erhobenen Zeigefinger. Sie gibt viel von sich selbst preis und regt den Leser, die Leserin an, über das eigene Leben nachzudenken, und es bewusst zu steuern.Eine wunderbare Lektüre!

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