Majestätsbeleidigung

Majestätsbeleidigung

Die Zeit ist reif

Timothée Mercier


EUR 18,90
EUR 15,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 504
ISBN: 978-3-99131-760-9
Erscheinungsdatum: 17.05.2023

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Kapitel I
Jesus in die Herzen der Menschen schreiben

Der Mensch verirrt sich, wenn er zweifelt

Claus Leggewie von der Universität Gießen betont in der FAS im Mai 2007, dass auf den globalen Religionsmärkten neben esoterisch-spirituellen Strömungen evangelikale Freikirchen und charismatische Pfingstler-Bewegungen am stärksten blühen würden, jene die den Hauptströmungs-Protestantismus in den Vereinigten Staaten überholt hätten und sich auch im katholisch geprägten Lateinamerika, in Westafrika im Wettstreit mit der Re-Islamisierung, im „heidnischen“ postsowjetischen Osteuropa und in Asien ausbreiten würden. Evangelikale Sekten würden ihre globale, von ethnisch-nationaler Herkunft entbundene Präsenz besonders deutlich demonstrieren. Sie würden sich in das horizontal-egalitäre Sektenwesen Amerikas und in die für Europäer unübersichtliche, aber lebendig in lokalen Gemeinden verankerte Religionslandschaft fügen. Dieses Integrationsmuster scheine sich global durchzusetzen, deutet Leggewie, so dass eher West- und Mitteleuropa mit seinem organisierten und hierarchischen Kirchenwesen, allen voran Deutschland, den Sonderweg beschreiten würden.

In Europa würde aus der Erfahrung mörderischer Religionskriege für rivalisierende Religionsgemeinschaften mit ihren exklusiven Wahrheitsansprüchen die Anerkennung der Alleinzuständigkeit einer politischen Ordnungsmacht folgen, also des Gewaltmonopols eines als territoriale Gebietskörperschaft verfassten Staates, unterstreicht Leggewie. Dagegen hätte man in der „staatslosen Gesellschaft“ jenseits des Atlantiks in Erfahrung religiöser Intoleranz und multireligiöser Einwanderung stärker auf den friedlichen Wettbewerb der Sekten vertraut. Frieden würden nicht der Hobbesianische Staat stiften, sondern der Markt und die Nutzenerwägungen der Individuen, die sich zudem in lokalen Gemeinschaften zusammenschließen und ihre religiöse Identität pflegen würden. Die erstaunliche Anschlussfähigkeit der Pfingstkirchen würde damit zusammenhängen, so Leggewie, dass sie die religiöse Praxis von „kalt“ und „heiß“ umstellten: Die Glaubenserfahrung übertrifft die Glaubensdoktrin, Bewegung wird der Hierarchie vorgezogen, Emotion gilt mehr als Verstand. Und weil Wunder Wissenschaft übertrumpfen würden, fänden sogar der Kreationismus und die evolutionskritische Lehre vom „Intelligent Design“ in Europa Anhänger.

Die Informalisierung des Glaubens gehe auch an der stabilsten Amtskirche der Welt nicht vorbei. Der Vatikan sei, wie alle großen Massenorganisationen, mit dem Schwung episodischer Bewegungen und dezentraler Netzwerke konfrontiert und zur Anpassung gezwungen. Dagegen richte sich der unmissverständliche Protest gegen die christliche Selbstberuhigung, das Elend der Welt sei halb so schlimm, weil ein gnädiger Gott mit den Menschen immer schon „mitleide“. In den Ohren des großen Philosophen Leszek Kolakowski, der am 17. Juli 2009 im Alter von 81 Jahren in Oxford starb, klang das wie eine Ausrede, wie eine unmenschliche Verklärung des Leidens, und deshalb waren die Denkwege zwischen dem Postmarxisten und dem Katholiken zuweilen kürzer, als es der Vatikan erlauben würde, schreibt Thomas Assheuer in einem Nachruf für die Zeit. Denn erst die Abschaffung unmittelbarer Lebensnot durch eine „gerechte Verteilung des Mangels“ verschaffe dem Menschen die Möglichkeit, sich der „Zerbrechlichkeit seines Daseins“ innezuwerden – und eines „Leidens, dessen Quelle das Leben selbst ist“.

Das Menschliche schreit auch in den Guten. Menschlich gesprochen, habt ihr nicht unrecht, zu schreien. Ich habe euch euren Häusern, den Familien und den Geschäften entzogen; ihr seid gekommen und habt euch das Mir-Nachfolgen ganz anders vorgestellt.

Aber euer jetziges Schreien, euer innerliches Aufbegehren, wird sich eines Tages beruhigen; dann versteht ihr, dass es schön war, durch Nebel und Schlamm, durch Staub und unter brennender Sonne verfolgt, dürstend, müde und ohne Nahrung dem verfolgten, unbeliebten, verleumdeten Meister nachzugehen. Alles wird euch schön erscheinen; denn ihr werdet dann anders denken und alles in einem anderen Lichte sehen. Ihr werdet mir dankbar sein, dass ich euch auf meinen schweren Weg geführt habe …

Jesus pflückt einen runden Löwenzahn, der zwischen den Steinen hervorragt und der zur vollkommenen Reife gelangt ist. Er führt ihn vorsichtig an den Mund und bläst; das zarte Gebilde löst sich in winzig kleine Schirmchen auf, die sich in die Luft erheben. Schau … wie viele sind in meinen Schoß gefallen, als ob sie mich liebten? Zähle sie … Es sind dreiundzwanzig. Im ganzen waren es bestimmt dreimal soviel. Und die anderen? Schau! Einige fliegen noch, andere sind anscheinend durch ihre Schwere schon auf den Boden gelandet; einige steigen mit ihrem silbernen Haarbusch stolz empor, andere fallen in den Schlamm. Nun … schau, auch von den dreiundzwanzig, die mir in den Schoß gefallen waren, sind sieben weggeflogen! Diese Hornisse genügte, sie mit ihrem Flugwind fortzuwehen. Was hatten sie zu befürchten? Wer hat sie entführt? Vielleicht der Stachel oder vielleicht die schönen Farben schwarz und gelb, das anmutige Aussehen, die schimmernden Flügel … Sie sind weggeflogen … hinter einer trügerischen Schönheit her …

So wird es mit meinen Jüngern sein. Der eine aufgrund seiner Unruhe; der andere wegen mangelnder Ausdauer; dieser anhand seiner Schwerfälligkeit; jener aus Stolz oder Leichtsinn; einer aus Lust an Schmutz, ein anderer aus Angst oder Ungeschicklichkeit; sie werden mich verlassen.

Die staatsgebundene Religion oder das kirchenstaatliche Gefüge einer Religionsgemeinschaft, deren Wesenszüge sich als politisches Handeln mit Rückgriff auf religiöse Kerninhalte zeigen, kann im Klartext doch nur noch als das ausgemacht werden, was es ist: als Staat im Staate. Eine solche Institution erscheint dem bürgerlichen Pragmatismus aber abwegig und verkommt deswegen neben der staatstragenden Regierung zur Silhouette – zu mehr nicht. Auf der Grundlage eines soliden Staatsselbstverständnisses würde der Bürger seiner Regierung auch die umfassende Erziehung und Heranbildung zu einem eigenverantwortlichen Bürger anvertrauen, bedenkt Papst Benedikt gegenüber dem neuen Botschafter, als er auf das Konkordat Österreichs mit dem Heiligen Stuhl und auf das Engagement des Staates für die katholische Religionslehre zu sprechen kommt. Angesichts der steigenden Zahl von Schülern ohne Konfessionszugehörigkeit wird der Staat nun auch vor die Aufgabe gestellt, Kindern und Jugendlichen die Grundlagen des abendländischen Denkens und der vom christlichen Geist getragenen „Zivilisation der Liebe“ zu vermitteln.

Diese unverhohlene Erwartungshaltung in der Verlautbarung einer offiziellen Vertretung des Kirchenstaates sagt schon sehr viel aus von der Symptomatik und den angestauten Abgründen einer vom Staatswesen durchsetzten Religionsgemeinschaft. Sie ist das krasse Gegenteil von spiritueller Eigenverantwortung und Empathie. Mit diesem Image kann die katholische Kirche in Europa und auf der globalisierten Erdkugel in naher Zukunft keinen sinnerfüllten Zufluchtsort für Frustration und Resignation beim Scheitern eines Menschen bieten. Für echten Einfluss fehlen ihr Glaubwürdigkeit und auch das vom Bürger zugesprochene Vertrauen. Das aber muss ausschließlich Sinn und Aufgabe einer Religion sein, wenn sie als solche Anerkennung im historischen Sinn geltend machen will, gerade wenn es darum geht, die unterschiedlichsten Kulturen Europas zu verschmelzen. Sie muss endlich auch eine tragende Lösung bieten im Hin und Her, dem Entweder-Oder. Das Wohl des Bürgers müsste vielmehr dadurch garantiert werden, dass der Staat sich verantwortlich zeigt für zeitliche Bedürfnisse, während die Kirche überzeugend tatkräftig um solche Bedürfnisse besorgt ist, die über das Zeitliche hinausgehen.

Gott ist die unzerstörbare Barmherzigkeit.

Wenn der berühmte Maler Markus Lüpertz auf die Straßen schauen würde, sehe er 20, 25 Prozent Menschen, die sich damit abgefunden hätten, dass sie derzeit und auch in Zukunft vom Staat leben würden. 15 Prozent seien oben, die würden bald gehen und sich in Sicherheit bringen. Und die Mehrheit in der Mitte, die würden den am stärksten gebeutelten, ausgebeuteten Teil des Volks bilden. Sie würden vom Staat gejagt, aus purer Not, weil die Politiker Geld bräuchten, um ihre sozialen Versprechungen zu halten. Wie könne aus einer solchen Stimmung eine Identität entstehen, fragt Lüpertz. Immer weniger verstehe sich der Staat als Ordnungsinstanz; dafür immer mehr als Verteilungsagentur, beschreibt es Guy Kirsch für die FAS. Es sei ein Paradox der Schizophrenie, beklagt Camille de Toledo in der Zeit: „Die freiwillige Knechtschaft eines jeden in einer kollektiv freien Wirtschaft, die die Moral des Landes ausbeutet und die Zukunft des Nachwuchses in fragwürdigen Formeln und Strategien definiert. Es ist nun einmal so, dass in jedem von uns ein für diese Epoche produzierender, arbeitender, handelnder Kapitalist und ein Künstler koexistieren. Der Künstler in uns tröstet sich über die existenzielle Leere hinweg, indem er eine Vergangenheit beweint, die nicht mehr ist, oder eine Zukunft, die sein könnte.“

Bliebe am Ende nur noch die allgegenwärtige Reklame, um die Überproduktionsgesellschaft vom Fluch des Zuviel zu befreien, schreibt Lütkenhaus. Sei es früher ihre vergleichsweise schlichte Aufgabe, die Ware an den potenziellen Kunden zu bringen, so hätte Reklame heute die Funktion, die riesige Lücke zwischen dem inflationären Konsum zu schließen. Sie sei die große Vermittlerin, sozusagen der ökonomische Engel der Erlösung, etwas weniger marktfromm gesagt: die neue große Hure Babylon, die alle mit allem verkuppeln würde. Die Arbeitsweise der Reklame sei indirekt; dramaturgisch gesehen intrigant: Das Überflüssige würde sie dem Konsumenten nahebringen. Jedes Product-Placement sei das Eingeständnis, dass niemand sie und die von ihr beworbenen Produkte eigentlich wolle, jede Reklamearena, jedes Studio sei Müllhalde und Leichenhalle des Überflüssigen zugleich. Und so fördere noch gerade die Reklame jenen Ekel vor dem Zuviel, dem die kapitalistische Produktion als zwanghafte Überproduktion immer mehr verfallen würde, untermauert Lütkenhaus. Nach Jean-Paul Sartres La Nausée buchstäblich ad nauseam, bis zum Erbrechen.

Jesus heißt Retter. Die Rettung betrifft die Seele und den Leib. Wer den Namen Jesus mit wahrem Glauben ausspricht, steht von Krankheit und Sünde auf, weil in jeder geistigen oder körperlichen Krankheit die Krallen Satans stehen. Er erzeugt die körperlichen Leiden, um den Menschen durch die Leiden des Fleisches zur Auflehnung und zur Verzweiflung zu bringen und durch die moralischen oder geistigen Krankheiten versucht er, ihn in die Verdammnis zu stürzen.

Seinetwegen sind Krankheit und Tod in die Welt gekommen. Auch Verbrechen und Verderbtheit sind durch ihn in die Welt gekommen. Wenn ihr einen von irgend einem Unglück Geplagten seht, dann denkt daran, dass er wegen Satan zu leiden hat. Wenn ihr seht, dass einer Ursache des Unglücks ist, dann wisst, dass er ein Werkzeug Satans ist.

Das Einzige, was so von Schwarz-Rot-Gold noch übrig geblieben ist, sei das Gelb. Die Farbe für Neid, Aggressionen, für eine gewisse Art von Hinterlist, attestiert Lüpertz in der Zeit. Deutsche sind das Opfer ihrer eigenen Integrität mit einer skurrilen Wirtschaft- und Gesellschaftspolitik. Produzieren um des Produktes und der Produzenten willen aber wo sind der Mensch und seine Grundbedürfnisse nach Freiheit, Kreativität und Selbstkundgabe in seinem demokratischen System geblieben? Die Vollbeschäftigung ist das Objekt von Ausbeutung des modernen Kapitalismus. Der treue Arbeiter schließt selbst den Kreis zwischen Nachfrage und Überproduktion, die er mit seinem Überfluss an Wochenarbeitsstunden stützt und in der Anlehnung seines üppigen Freiheitspensums im Konsumrausch zu kompensieren hilft.

Die Mehrheit hat keine Wahl, sie lässt sich von einer eitlen Elite aus Politik und Wirtschaft wie „Lämmer zur Schlachtbank führen“. Als Erbe übernommen von der amerikanischen Militärregierung (OMGUS) erschöpft sich die Praxis der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik in einem umverteilungspolitischen Interventionismus, der nach der Ordnung, nach den Regeln des zwischenmenschlichen Umgangs in Wirtschaft und Gesellschaft nicht einmal mehr fragt. De Toledo fragt jedoch nach: „Was ist an der Hässlichkeit nur so anziehend, dass es einer Renaissance des Inneren entgegensteht? Welcher Charme, welche Verlockung lähmt uns? Warum wählen wir weiter Regierungen, die uns missachten?“ „Die Maschine ist klarer Favorit. Ständig wird das Monster verbessert“, so der Schachweltmeister Wladimir Kramnik, zu seiner Partie gegen den Schachcomputer Deep Fritz. Nicht zuletzt schuf Wilhelm Reich einmal den Satz: „Der Weg des Faschismus ist der Weg des Maschinellen, Toten, Erstarrten, Hoffnungslosen. Der Weg des Lebendigen aber ist grundsätzlich anders, schwieriger, gefährlicher, ehrlicher und hoffnungsvoller.“ Auch Hannah Arendt deutete einmal mit einigen wenigen Worten die Zeichen dieser Zeit: „Wenn der Sinn von Politik die Freiheit ist, so heißt dies, dass wir in diesem Raum – und in keinem anderen – in der Tat das Recht haben, Wunder zu erwarten.“

Papst Benedikt XVI. gibt sich bei der Messe zu München-Riem optimistisch und sieht es relativ: „Die katholische Kirche in Deutschland ist großartig!“ Man kann das Geschehen aber auch aus einem als atheistisch beschimpften Blickwinkel beäugen und sagen: „Deutschland geht es verhältnismäßig gut, aber nicht wegen seiner Kirche, sondern trotz ihr.“ Sie hat nämlich ein gravierendes Problem: Ihre aktiven Gläubigen schwinden dahin. Der Papst lässt an dieser Stelle keinen Euphemismus aus und lobt bei der Begegnung mit der Deutschen Bischofskonferenz im Vatikan das (wohl auch notwendig finanzielle) Engagement der „aktiv“ Verbliebenen.

Hans Maier von der FAS aber ist sich sicher, die christliche Zeitlinie dürfe nicht aufgegeben werden – sie könne auch nicht zum Kreis gebogen werden im Sinn einer ewigen Wiederkehr. Fluchtbewegungen aus dem strikten Zusammenhang des „Gestern-Heute-Morgen“ würden nicht nur das christliche Zeitverständnis preisgeben, sondern auch die Kultur der Verantwortung, ja die Struktur unseres öffentlichen Lebens im Ganzen in Frage stellen. Einerseits würde die technische Zivilisation alle Menschen die unerbittliche Linearität der Geschichte empfinden lassen – die schattenlose Verantwortlichkeit des Menschen in einer „weltlichen Welt“. Andererseits würde der Mensch erschrecken vor seinen Taten: Viele würden ausbrechen wollen aus dem christlich initiierten „Ein-für-allemal“, hinein in alte und neue Kosmologien, in Esoterik, Wiederkehr des Gleichen, Wiedergeburt, zählt Maier auf.

Wie wolle man politische und soziale Rechenschaftspflicht begründen, fragt Hans Maier für die FAS, wenn an die Stelle des linearen Fortgangs der ewige Kreislauf trete? Gelte dann nicht allein der Wille vor aller Vernunft, werde dann nicht jedes Recht notwendig zum Vorrecht der Mächtigen, lande man dann nicht in einer Gesellschaft, in der nichts wahr und daher alles erlaubt sei? Der Gedanke, dass der Zeitgeist streckenweise demente Züge aufweisen würde, scheint nicht von weit hergeholt. Immerhin würde er (der Zeitgeist) sich zunehmend in Selbstverwirrungen versteigen, betont Maier. Die Globalisierung in ihrer Eigenart als fortschreitende Grenzauflöserin würde das ihrige dazu beitragen. Alles würde diffundieren und verschwimmen in einem Meer des Ungefähren. Mehr und mehr würde das Temporäre Raum greifen. Das Dauerhafte müsse weichen. Wie bei einer Demenz erscheine jeder Augenblick Neues zu schaffen, obwohl doch alles schon einmal oder mehrfach da gewesen sei. Der Blick für das Beharrliche, Langsame, Unablässige würde einer Schimäre weichen des immer Jungfräulichen. Dabei sei letztlich das Neue zumeist nur eine Illusion, ein pseudomorphotisches Gewese und gleichzeitig ein ökonomischer Imperativ. Die Unrast, die Hektik der Moderne würde der senilen Bettflucht gleichen; die Unfähigkeit, zu verweilen, den Augenblick festzuhalten, der später folgenden Inkontinenz. Der Sinn für größere Zusammenhänge, der in der immer komplexer werdenden Lebenswelt kaum noch gewährleistet werden könne, würde in modernen Zeiten einem einfältigen Schematismus weichen, einem Scheinpositivismus oder doch unterschiedlichen Simplifizierungen, was letztlich dem symptomatischen Verschwimmen von Traum und Realität der Demenz ähneln würde, schließt Maier.

Sollte ich nicht Erbarmen haben, da ich bin, der ich bin?

Und wenn du ewig leben willst, musst du vorher zumindest mit deinem Gewissen überleben. Es gilt die Gratwanderung von Automation und Bewusstheit im Alltag hervorzuheben, um auf die Notwendigkeit zu schließen, für ein menschenwürdiges Maß auszuloten und zu reduzieren. Die Überbewertung von Automation und Algorithmen im Berufsleben bringen unüberschaubare Wiederholungen in das Schema menschlicher Handlungen. Genialität und Wahnsinn gehen Hand in Hand. Die Menschheit würde heute über Leistungssteigerungen zu außerordentlicher Produktivität herangezogen, berichtet Harmut Rosa. Das gesteigerte Produktionstempo habe „ökonomisch zwingend“ eine „Erhöhung der Konsumtionsakte zur Folge“, argumentiert er in seinem Buch Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne. Weil der Bedarf weitgehend gedeckt und der Markt gesättigt sei, drehe die Produktion leer und werde zum Selbstzweck. Die ethischen Ziele des Wirtschaftens gingen verloren, so Rosa, und eine erpresserische Sachzwanglogik trete an ihre Stelle. Der kapitalistische Geist sei tot, während sein Gehäuse stahlhart geworden sei. Ganz besonders die Industrienationen und solche, die im Begriff seien, es werden zu wollen, seien davon betroffen, weil sie ohne Rücksicht auf Verluste und mittels zum Zwecke das Arbeitervolk für den Weltmarkt krankhaft zu beeinflussen und zu dominieren suchen.

Die menschliche Psyche erkrankt an Neurosen bei der zweckbestimmten Überbeanspruchung, weil sie dauerhaft dazu gezwungen ist, durch ständig sich ähnelnde Arbeitsabläufe ihr natürliches Maß an Geistesgegenwärtigkeit einzuschränken. Dass dieser Prozess auch anatomische Veränderungen im Gehirn nach sich ziehen kann, beweist die Studie eines amerikanischen Universitätsprofessors, der neue Hintergründe über die Volkskrankheit Alzheimer entdeckt haben will und ganz konkret dabei erkennen konnte, dass Alzheimer immer auch einen Entzündungsherd im Gehirn aufweist. Nicht zuletzt wird Alzheimer auch von unbehandelten Schädel-Hirn-Verletzungen oder der zersetzenden Wirkung übermäßigen Drogen- oder Alkoholkonsums begünstigt. Allesamt verursachen wohl unaufhaltsam eine fortschreitende Entzündung des Gehirns. Sie lösen aber am Ende keinen ähnlich zerstörerischen Prozess aus, wie es bei der klassisch genetisch bedingten Alzheimerischen Krankheit der Fall ist, bei der am Ende sogar das Organversagen steht aufgrund fehlender Hirntätigkeiten.

Im Klartext hieße das, dass Alzheimer neben ihrer genetischen Verbreitung zum einen mutmaßlich auch durch äußeren Einfluss ausgelöst werden kann. Zumindest aber könnten äußere Einflüsse auf die Gehirntätigkeit den vorzeitigen Ausbruch dieser Krankheit beziehungsweise starke kognitive Einschränkungen begünstigen. Umgekehrt wissen wir auch, dass das bewusste Gegenwirken, also das Vermeiden von dominant einseitigen Gehirntätigkeiten im Laufe eines überproportional einseitigen Berufslebens, die Erhaltung kognitiver Fähigkeit des Menschen nachhaltig beeinflussen kann. Weitere schädigende äußere Einflüsse sind mitunter psychologischer Natur und legen dem Gehirn ebendies ein einseitiges Denkmuster in der Endlosschleife zugrunde, wie zum Beispiel Traurigkeit, ungelöste Trauma durch Missbrauch jeder Art, Verbitterung oder Hass. Für Letzteres bieten Geschiedene nicht selten die Grundlage, wenn unter den ehemals Liebenden über einen sehr langen Zeitraum gestritten oder rivalisiert wird. Der Mensch zeichnet sich nicht selten dadurch aus, keine Barmherzigkeit zu zeigen, um sich in seinem Denken ausschließlich in strategischen Rachefeldzügen als Sieger zu bewegen. Jedoch das Gehirn leidet anatomisch darunter und fällt womöglich in eine irreversible Denkstarre.

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