Majestätsbeleidigung

Majestätsbeleidigung

Irren ist menschlich – eine Denkschrift über religiöse Demenz

Timothée Mercier


EUR 18,90
EUR 15,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 482
ISBN: 978-3-99131-758-6
Erscheinungsdatum: 17.05.2023

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Prolog

Glaube und das, was der Volksmund darunter versteht, sind kein intellektuelles Verdienst. Er rührt aus einer ganz einfachen persönlichen Initiative, Gott einbeziehen zu wollen. Wer das verschweigt, hat nicht den wahren Glauben. Im globalen Vergleich des Meinungsforschungsinstituts der Gallup International zeigt sich, dass die am wenigsten gebildeten Menschen zugleich am religiösesten sind. Am höchsten sei daher der Anteil der aktiven Kirchgänger mit 87 Prozent in Westafrika, während Schweden das Land mit den meisten Ungläubigen sei. Dennoch, die Theologen wissen, dass man Gläubige zum Altare, nicht wie Lämmer zur Schlachtbank führen soll, sondern bei der Liturgie immer etwas „denken“ und „empfinden“ muss. Der Glaube an Gott ist immer auch ein wohlwollender Gedanke an Ihn, wie man an einen Freund oder an einen Bruder denkt, mit Freude und Liebe und in Freiheit.

Warum aber gibt sich der Mensch bei den Nächsten immer mehr Mühe als bei Gott, der als unser aller Schöpfer vor seinen Geschöpfen geliebt und geachtet werden möchte? Weil das Gedenken selbst, um als solches ohne Einschränkung Gehör finden zu wollen, zunächst von jeder Absurdität und Banalität reingewaschen werden müsste. Zum Beispiel wäre da das kollektive Unschuldsbewusstsein, das wie selbstverständlich gleichsam bei Säkularen wie auch bei Gläubigen unaufhaltsam um sich greift (Erich Kästner im Nachkriegsdeutschland: „Die Unschuld grassiert wie die Pest!“). Im Laufe dieses Textes geht es darum, die Aufmerksamkeit auf die vielen Verbindungen und Zusammenhänge zu lenken, die im großen Aufschrei und Gebrüll der Menge untergehen. Letzteres führt zu nichts anderes, als dass Gott noch mehr beleidigt wird und die Menschen unvermindert leiden.
Was ist der Glaube? Gleich dem harten Samenkorn der Palme, oft klein, stützt er sich auf das kurze Sätzlein: „Es gibt einen Gott“, und wird von der einen Behauptung genährt: „Ich habe ihn gesehen.“ …
So war der Glaube unseres Volkes, der von den frühesten Patriarchen auf die späteren übergegangen war, von Adam auf seine Nachkommen, von Adam, dem Sünder, dem man aber glaubte, als er sprach: „Es gibt einen Gott, und wir sind hier, weil er uns erschaffen hat, und ich habe ihn gekannt!“ Dann wurde der Glaube immer vollkommener, da er immer mehr enthüllt wurde und er unser Vermächtnis ist, erhellt durch göttliche Offenbarungen, Erscheinungen von Engeln und das Licht des Heiligen Geistes. Immer sind es kleine Samenkörner im Vergleich zum Unendlichen. Aber sie haben Wurzel gefasst, haben die harte Scholle der Menschlichkeit mit ihren Zweifeln und Neigungen durchbrochen und über das Unkraut der Leidenschaften, der Sünden, über den Schimmel der Niedergeschlagenheit, über die Motten der Lasterhaftigkeit, über alles triumphiert. Die Seelen haben sich erhoben, sich zur Sonne gewandt und schwingen sich immer höher zum Himmel empor, bis sie sich aus der Beschränkung des Fleisches befreit und sich mit Gott vereinigt haben, mit seiner vollkommenen Erkenntnis, seinem vollkommenen Besitz jenseits des Lebens und des Todes, mit dem wahren Leben.

Was bewegt denn den Katholiken heute ideologisch noch in seinem Umfeld, geschweige denn die große Masse? Mitunter scheitert sogar die Bereitschaft zur Ökumene, weniger an der Liturgieordnung selbst, denn es waren tatsächlich 6 protestantische Gelehrte, die bei der Ausgestaltung der „Neuen Messe“ mit ihrem Beitrag zum II. Vatikanischem Konzil zugegen sein durften. Die Ökumene scheitert vielmehr auch an der Frage, ob Christus lebendig Fleisch und Blut annimmt beim Opfermahl. Interessant wäre an dieser Stelle eine Erhebung, wieviel Katholiken in Wirklichkeit daran glauben. Und wollte man sie dann auch alle vom Empfang der Hostie ausschließen, die in der Eucharistie nur einen symbolischen Akt für den Empfang der Liebe Christi sehen? Ein Dogma verrichtet nicht automatisch die nötige Überzeugungsarbeit beim Gläubigen beziehungsweise solchen, die im Begriff sind welche zu werden. Da ist jeder einzelne Katholik angehalten, sich die Tatsachen stetig ins Bewusstsein zu rufen, ebenso den Nutzen, der daraus durch uns auch für andere Menschen entsteht.

Neben der Form der Liturgieordnung, die den Gläubigen durch den Gottesdienst führt, bedarf es dringend auch jener geistigen Führung. Das steht doch völlig außer Frage, jenes Geschick, das auf das erhabene innere und äußere Wirken Gottes, das die Liebe ist, hinweist. Ein Wirken, das nach innen und außen in höchstem Maße fruchtbar wird, denn nicht in erster Linie eine vom Menschen vorgegebene Liturgieordnung, sondern die Liebe Gottes festigt die Bande und macht daraus eine einzige Vollendung, das heißt der Hl. Geist, der erste Ursprung jeder erschaffenen Vollkommenheit und daher jedes menschlichen Gedankens. Die künstlerische Ordnung der katholischen Liturgieform lässt da durchaus noch ungenutzten Spielraum zur Gestaltung offen.

Tatsächlich aber tritt der Zelebrant in ermangelnder Wirkung notwendigerweise vor allem als Moderator in Erscheinung, als Herr der liturgischen Ordnung, welcher in der Zelebrationsweise „versus populus“ vollends zum Zirkusdirektor ausreift. Ein Dienst, bei dem dreißig Minuten füllend in Wort, Mimik und Gestik alles vorgegeben wird, um ein ständig sich wiederholendes Programm darzubieten, das nur zum Nachsprechen animieren kann, ist milde gesagt kein Gottesdienst, sondern ein Dienst an der Liturgie und am Showmaster selbst. Deshalb dreht sich bei der Masse der Katholiken und insbesondere in den reichen Ländern vieles um sie selbst. Die katholische Kirche hat sich zu einem Paralleluniversum aufgebläht, mit vielen kleinen Planeten – ihren Gemeinden, in denen jede für sich ein eigener Geist weht, nämlich der des Moderators. Der Schöpfergeist indes weht woanders. Das ist der Hintergrund für den oft zu beobachtenden und bei Außenstehenden abstoßend wirkenden Personenkult in der katholischen Kirche, was dem nationalen Patriotismus nicht unverwandt ist.
Wenn jemand das Reich Gottes sehen und an seinen König glauben will, muss er auf geistige Weise wiedergeboren werden.
Das Himmelreich wird nur von solchen bewohnt, die das vollkommene geistige Alter erreicht haben. Jeder hat seine Methode, um den Hafen zu erreichen. Jeder Wind ist gut, wenn man das Segel zu handhaben versteht. Ihr spürt den Wind wehen und müsst das Boot manövrieren und darauf achten, in welche Richtung er bläst. Doch könnt ihr nicht sagen, woher er kommt, noch herbeirufen, den ihr nötig habt. Auch der Heilige Geist ruft, kommt rufend und geht vorüber. Doch nur, wer aufmerksam ist, kann ihm folgen. Das Kind kennt die Stimme des Vaters, der Geist kennt die Stimme des Geistes, von dem er erschaffen wurde.
Das Wasser der Taufe ist ohne den Geist nichts als ein Symbol. Wer mit Wasser gereinigt ist, muss sich dann mit dem Heiligen Geist reinigen und durch ihn sich entzünden und leuchten, wenn er auf Erden hier und im Ewigen Reich im Schoße Gottes leben will. Der Ältere legt die Axt der Meditation an die Wurzeln seines alten Denkens, entwurzelt den Baum und behält nur den Kern des guten Willens zurück. Während ein junger Mensch, wie wir ihn in der Person des Apostels und Evangelisten Johannes kennen, sein Fleisch abzutöten sucht und den Geist wiedergeboren lässt.
Es gibt nur ein ewiges Leben im Jenseits, nicht zu verwechseln mit dem einen Dasein von Fleisch und Blut auf der Erde, sondern die Rede ist vom unsterblichen Geist, der durch das Zusammenwirken von Taufe und Heiligem Geist zum wahren Leben wiedergeboren wird. Ihr müsst aufs neue geboren werden. Der heilige Johannes und viele seiner Ebenbilder, die Christus bis in unsere heutige Zeit in aufrechter Weise suchen und nachfolgen, legen ihr Ich auf den Scheiterhaufen der Liebe. Aus der Asche geht ihre neue geistige Blume hervor, eine wunderbare Sonnenblume, die sich unablässig der ewigen Sonne zuwendet. Denn was vom Fleisch gezeugt wird, ist und bleibt Fleisch und stirbt, nachdem es ihm in seinen Begierden und Sünden gedient hat. Doch was vom Geist gezeugt wird, ist Geist und kehrt zum Schöpfer-Geist zurück, nachdem es bis zum vollkommenen Alter den eigenen Geist empor geführt hat.

Die postreligiöse Erscheinung greift überwiegend nur zu Kult und Ritus. Sie verspricht den Verstand zu befrieden, in einem Denkgebäude, in dem auch unsere Kultur der Individuen mit einer Vielzahl zermürbender Erscheinungsformen zu Hause ist. Mittels hässlicher Alltagsgewänder des sich anbiedernden Egoismus macht der Zweifelnde sich fest, von denen er sich im Verlauf dunkler Stunden vergebens loszureißen sucht, weil sie ihn verfolgen wie ein zweites Ich. Das Umfeld, meist ignorant für das Innenleben, bemerkt nichts. So sieht der Zweifler allmählich und im Fortschreiten seines Alters einen Verzweifelten im Spiegelbild und will vor Gott fliehen, weil er das wachsende Bedürfnis in sich verspürt, von sich selbst loszukommen, sich selbst fremd ist und obendrein verdrängt, sich wiederfinden zu können, aber den Mühen dafür ausweicht. Man bringt eine Vielzahl an Widersprüchen in sich nicht dadurch zum Erlahmen, indem man Gott in sich tötet, sondern indem man mit ihnen Haushalten lernt, so wie mit allen zutiefst eigenen Bedürfnissen.
Was man mit Strenge oft nicht erreicht, erreicht man mit Freundlichkeit. Es gibt Menschen, die nie von selbst zum Meister kommen würden, daher muss der Meister zu ihnen gehen. Andere würden wohl zum Meister kommen, aber sie schämen sich vor den Mitmenschen und auch sie muss der Meister aufsuchen. Die neuen Zeiten werden neue Methoden mit sich bringen. Bis gestern, bis zur Zeit des Täufers, war es die Asche der Buße. Heute jedoch, in Seiner Zeit, gibt es das süße Manna der Erlösung, der Barmherzigkeit und Liebe. Jede Zeit hat die für sie nützlichen Dinge. Niemand näht ein Stück neuen Tuches auf ein altes Gewand, denn beim Waschen geht der neue Stoff ein und der Riss im alten wird noch größer. Ebenso füllt niemand jungen Wein in alte Schläuche, denn die alten Schläuche würden durch die Gärung des Weines bersten, und der Wein würde auslaufen. Der alte Wein, der schon alle seine Umwandlungen durchgemacht hat, gehört in alte Behälter und der neue Wein in neue. Daher soll eine Kraft einer anderen, ebenso starken gegenübergestellt werden. Dies geschieht jetzt. Die Kraft der neuen Lehre erfordert neue Methoden ihrer Verbreitung, und Christus, der dies weiß, bedient sich ihrer.

Augenfällig allemal ist, Er, Christus, lässt sich keineswegs von althergebrachten Traditionen oder vorgefertigten, theatralischen Modellen in Gefangenschaft nehmen. Er selbst bildet das Grundelement für Treue und damit den Eckstein für rationale Gebundenheit, um schließlich der Willkür vorzubeugen und Glaubwürdigkeit zu unterstreichen. Es geht darum, dass wir allzu oft dem traditionellen Denken und den Institutionen des Pharisäertums verhaftet und geistige Kinder dieser Epoche geblieben sind – emotional wie rational. Den wenigsten Traditionalisten steht nämlich vor Augen, welche Tradition sie zu Ehren bringen wollen. Jenes psychologische Gebilde, in das man sich bereits seit Jahrzehnten und womöglich von Kindheit an mit seinem rationellen Denken häuslich eingerichtet hat, ist in der Tat vom inneren Wachstum mit der Religion oder der Reifeprüfung des geistigen Alters säuberlich zu trennen, weil sie in Opposition dazu stehen.

Etwas einfältig erscheint das Aufblähen des täglichen Gottesdienstes mittels Anreihung gleichlautender liturgischer „Komponenten“. Wenn nämlich mehrere Elemente in Folge immer wieder dasselbe sagen wollen und noch dazu an der falschen Stelle, droht die vielgelobte sich steigernde Ordnung einer Messfeier, das Ergebnis am Ende zu sprengen, und ein Chaos im menschlichen Geist anzurichten. Bei regelmäßigen Besuchen mancher Gottesdienstfeiern etwa entsteht dann im Kopf eine Art Endlosschleife. Letztere gereicht dem Gläubigen noch nicht einmal dahingegen, sich ein geistiges Zuhause zu errichten, sondern wird im Überfluss des Gesagten und Gestauten mühevoller Stein des Anstoßes. Die Masse einer derlei gearteter Ansammlung von Ungesagtem erscheint monströs, verkommen zu Worthülsen, die unverkennbar die Routine in den Vordergrund rücken. Routine aber ist die Basis jeder Konformität und in unserem Fall die Grundlage für geistige Entfremdung beziehungsweise religiöse Demenz. Routine lässt der Seele eines Gläubigen nicht den geringsten pragmatischen Spielraum zur Einheit mit Gott und seinem Erlöser, geschweige denn ist von Qualität beim Lob des Herrn zu sprechen.
Im Widerstreit seiner Gefühle findet der Christ im liturgischen Gebäude des Gottesdienstes indes langfristig nur vordergründig Halt und Trost, vielmehr bringt der regelmäßig begangene Ritus im Gegenteil sein selbsttätiges Denken wirkungsvoll zum Erliegen, ähnlich der geistigen Rückbildung in einer Demenz. Zu oft driftet der Gläubige bei der Eucharistiefeier zwischen Schuldbekenntnis und „Vater unser“, dem Gebet aller Gebete, geradewegs in die Gedankenlosigkeit ab; zu langatmig wirkt der Monolog des Zelebranten auf den Gottesdienstbesucher, der schon zu lange auf die Folter gespannt wurde und endlich angekommen bei der Eucharistie nun durch das viele Vorbeten des Zelebranten auf sich selbst zurückgeworfen wird. Gloria und Sanctus könnten ähnlicher nicht sein in ihrer Eigenschaft, Gott zu preisen. Jene Bestandteile, welche in wörtlicher oder dem Sinn nach bereits in anderer Form vorher schon mal gesagt wurden, könnten vereinfacht werden, um aus dem großen Drehbuch des Gottesdienstes eine vielversprechende geistige Einladung zu machen.

Wenn einer allein unter
Heiden, ohne Kirche und ohne
Bücher wäre, hätte er alles,
was zur Betrachtung
erforderlich ist, im „Vater
unser“, und eine offene Kirche
in seinem Herzen durch dieses
Gebet. Er hätte eine Regel und
ein sicheres Mittel, sich zu
heiligen.

Weil sich die katholische Kirche, mehr noch: weil sich die gesamte westliche Ratio vom leidvergessenen griechischen Denken habe anstecken lassen, sei sie taub geworden gegenüber dem „Aufschrei der Unschuldigen“, der „Autorität der Leidenden“. In diesem Sinn habe der Theologe Johann Baptist Metz, der vor Jahrzehnten die katholische Kirche aus ihrem eschatologischen Schlummer gerissen und heilsam in Unruhe versetzt habe, keinen Zweifel daran gelassen, rezitiert die Zeit: „Die Geschichte des Abendlandes wäre weniger grausam gewesen, wenn das jüdische Gottesgedächtnis, die Revolte gegen die ‚Normalität’ von Herrschaft und Gewalt, nicht unterdrückt worden wäre – wenn nicht nur Athen und Rom, sondern auch Jerusalem die ‚geistige Landschaft‘ Europas bestimmt hätten. Indem die Kirche das Christentum als Synthese zwischen dem ‚Glauben’ Israels und dem ‚Geist‘ Athens begreift, reduziert sie den jüdischen Anteil auf den bloßen ‚Glauben‘. Sie schlägt das ‚Denkangebot‘ aus, das Israel dem Christentum mit auf den Weg gab: die memoria passionis, das Eingedenken von geschichtlichem Leid, von Unrecht und Gewalt. Die Kirche hat das Christentum halbiert. Sie hat ihre jüdischen Wurzeln verleugnet und will nicht wahrhaben, dass Christus selbst der gefolterte und gekreuzigte Jude ist.“

Der Übergang vom Beugen der Knie nach dem Kyrie zum Himmelhochjauchzen im Gloria ist allenfalls rasant und für ein menschliches Herz nicht nachvollziehbar, weshalb viele ihre Knie gar nicht mehr beugen. Selbst wenn diese Aneinanderreihung in der Logik die Erlösung zum Ausdruck bringen will, sprengt sie jede Andacht im Sinne des Nachspürens der eigenen unausweichlichen menschlichen Sündhaftigkeit im Laufe des Gottesdienstes und bietet damit ausreichend Nährboden für die Unbußfertigkeit unter Katholiken. Der krasse Übergang zum Gloria ist eine totale Verfehlung der Intonation und macht das Schuldbekenntnis zu einer bloßen Farce, das in einem theatralischen Schauspiel der lauthalsen Herzen endet. Im selben Atemzug, mit dem das Gloria angestimmt wird, ist alles so, als ob nichts gewesen wäre und der Gläubige findet sich spätestens im Alltag wieder im elenden Kreislauf der eignen Sündhaftigkeit, zurückgeworfen auf ein außer Rand und Band geratenes Unschuldsbewusstsein. Er wird damit mit jeder heiligen Messe aufs Neue ins eiskalte Wasser geworfen. Wer tut sich das freiwillig an? Euphorische Selbstüberschätzung mit all ihren tragischen Folgen, wie sie der Verlauf dieses Buches noch ernüchternd zu erkennen gibt.

Die Liturgieordnung der „neuen Messe“ als solches wäre an sich ein herrliches Konstrukt und eine echte Errungenschaft der katholischen Kirche für die ganze Menschheit, bei der in der Wahrnehmung des Menschen tatsächlich die Herrlichkeit des Schöpfers zum Ausdruck gebracht werden könnte. Nur diese teilweise seltsame Anordnung der liturgischen Elemente als Wohlfühlprogramm ist spektakulär misslungen. Es bedarf an der Stelle des kollektiven Schuldbekenntnisses eines einleitenden Tiefganges im Wort, um dem Evangelium schwerpunktmäßig mehr Raum der Entfaltung zu geben und das Gedenken an Christus als das zu feiern, was es ist, nämlich als Aufruf sich retten zu lassen und als die Erlösung des wahrhaft Gläubigen von seiner bußfertigen Schuldhaftigkeit hin zum ewigen Heil. Das muss sich von Anfang bis Ende wie ein roter Faden durch den Gottesdienst ziehen, wenn er als solches seinen Namen verdienen will. Was nun in der katholischen Liturgie als solches gehandelt wird, ist mit der künstlichen äußeren Trennung der Eucharistie vom einleitenden Schuldbekenntnis genau das Gegenteil und mitunter ein haarsträubender Widerspruch, denn ein aufrichtiges Schuldbekenntnis ist bereits Eucharistie durch und durch.
Wer schon einmal mit Demenzkranken zu tun hatte, der kennt deren totale Verweigerung, persönliche Fehler einzugestehen. Es fällt ihnen deshalb so schwer, weil das ganze Leben zu einem Verlust geworden ist. Das ist psychologisch begründet und nachvollziehbar. Wie viel Liebe brauchen diese Menschen von ihren pflegenden Angehörigen oder Personal, um sie halbwegs in der Spur zu halten? Man kann diese Mühe gar nicht hoch genug würdigen und schätzen. Aber Menschen, die sich ihrer geistigen Fähigkeiten rühmen, indem sie sich Gläubige nennen, sich jedoch im Gottesdienst von einer Minute auf die andere nicht mehr daran erinnern wollen, dass ihnen vor ein paar Sekunden und bereits viele Male zuvor schon vergeben wurde, weil sie durch einen unglücklichen ästhetischen Kunstgriff in der Liturgie dazu verleitet werden, können der Gnade Gottes nur bedingt anteilig werden, denn Sünder sind wir allemal und bleiben es auch. Es ist nur statthaft, sich stets unserer Bußfertigkeit zu erinnern, auch in einem festlich gekleideten Gottesdienst. Nur weil wir uns berechtigt sehen, den Leib Christi zu wandeln und zu kommunizieren, und ein bisschen Lärm und Euphorie darum inszenieren, sind wir noch lange nicht vollkommen oder gute Menschen.

Den Beweis führen die Geschichte und ganz besonders die Geschichte Deutschlands selbst an, die trotzdem, dass sie Generationen von Geistesgrößen hervorbrachte, eine andere Generation von Mördern folgen ließ. Die Zeit berichtet, dass dort, wo 110 Jahre später ein Konzentrationslager entstand, Goethe 1827 gesagt habe: „Ich war sehr oft an dieser Stelle. Hier fühlt man sich groß und frei.“ Der Ettersberg sei als Hausberg Weimars eng mit der deutschen Klassik verbunden. Bis heute sei das 190 Hektar umfassende ehemalige Lagergelände ein Stadtteil von Weimar.

Dein Meister, dein wirklicher
und größter Meister,
der dich deinen Meister
verstehen lässt, ist die Liebe.

Da fehlt es doch schon an der Basis, was in protestantischen Freikirchen schon lange Alltag geworden ist und viele Menschen heilt. Die Ökumene scheitert ganz offensichtlich insbesondere mitunter an der religiösen Demenz unter Christen. Sie gehen konform im Wellness-Rhythmus der Liturgie, ohne auch nur im Geringsten eine geistige Entwicklung in Betracht ziehen zu wollen. Es kann einfach nicht oft genug gesagt werden einleitend zum Schuldbekenntnis, was Erlösung bedeutet, damit die Herzen der Menschen auch angerührt werden. Das Opfer, das Christus begangen hat, war nicht ausschließlich der abschreckende Kreuzestod, auch wenn es dort sehr deutlich für alle zu sehen ist. Erst wenn wir uns mit der gleichen Intensität vor Augen halten würden, dass Sein ganzes Leben ein einziges Opfer war, um die frohe Kunde von der Barmherzigkeit Gottes in aller Munde zu legen, würden wir mehr und mehr begreifen, dass Er es auch für jeden Einzelnen im Hier und Jetzt getan hat.

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