Gefangene der Unendlichkeit

Gefangene der Unendlichkeit

Die Philosophie einer Depression

Rosie Joy


EUR 16,90
EUR 13,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 134
ISBN: 978-3-99131-785-2
Erscheinungsdatum: 05.07.2023

Leseprobe:

1 - Gewaltsam monoton


„Insight is more helpful to people than advice.“
(„Ein Einblick ist für einen Menschen
hilfreicher als ein Ratschlag.“)
Gabor Maté

Ein weißer Raum. Hell erleuchtet. Ohne definierbare Lichtquelle, die Helligkeit, welche von jeglicher Fläche reflektiert wird und somit alles enthüllt, steht im kalten, gnadenlosen Schein da. Auch wenn Dunkelheit gebräuchlicher in der Beschreibung dieses Zustandes ist, enthält diese wenigstens eine Art Zuflucht, wenn man sich erst einmal an sie gewöhnt hat. Grausame Albträume können sich in ihr verbergen, die ungesehenen Geräusche, die aus ihr klingen, erwecken sie zum Leben, doch kann man sich zumindest auch dadurch etwas ablenken, von der grausamen Wirklichkeit, vor der man erst in sie geflüchtet ist. Nein, Helligkeit ist, was den Zustand besser darstellt. Doch diese dient nicht dazu, ihre Umgebung erkennbar zu machen, sie blendet mit dem, was ursprünglich zum Sehen verhelfen sollte. Sie schluckt nicht einfach wie die Nacht, sie zieht in sich hinein und lässt einen dabei zusehen, wie der Strudel alles immer weiter in die Tiefe saugt. Sie ist wahrlich gnadenlos, da sie die Fantasie raubt und trotzdem keine klarere Sicht hinterlässt. Und inmitten dieses trostlosen Dilemmas: eine Wand. Ebenso unwirklich wie der Rest und dennoch nicht weniger real. Und in diesem endlosen Grell das Einzige, was wenigstens den Anschein einer Substanz bietet. Inmitten all dieser Formlosigkeit wirkt sie wie ein Magnet, oder ein Feuer in der Kälte, doch dieses Bild trügt. Die Augen, dem endlosen Horizont so müde, kleben an ihr wie Harz auf der Haut. Sie ist ein Hindernis, nur ein weiteres Problem, eine so herbeigesehnte Unannehmlichkeit, weil sie fassbar ist. Ein Objekt im endlosen Nichts. Vergiftetes Wasser in der Wüste. Hat der endlose Raum Perspektive geraubt, raubt sie die Fähigkeit, sich frei zu bewegen. Käme man an eine Mauer und wüsste, kein Weg führt an ihr vorbei, man würde an ihr weitergehen. Doch durch allherrschende Formlosigkeit an sie gefesselt, bleibt man an ihr stehen. Und dort steht man. Und steht. Gefesselt im Nichts. Gebunden an den Punkt, an dem man nicht weiterkommt. Für immer. Die Augen stets an ihre Form geheftet, so fest, als könnte sie verschwinden, sobald man nur für eine Sekunde die Augen schließt, und man wäre wieder allein, die einzige Kontur im endlosen, gleißenden Licht des Nichts. Denn dies ist der Ort, der so furchtbar ängstigt. Der einzige Platz ganz nah bei sich. Kein externes Etwas das durch seine Aufmerksamkeit Asyl gewährt. Nichts außer das Selbst, dessen Gedanken begrenzt sind in diesem grenzenlosen Nichts. Sie werden anfangen, sich zu drehen und man wird sich sattgedacht haben an ihnen und dann ist das Selbst das Einzige, was noch bleibt. Und es wird niemand kommen. Es wird nichts teilhaben, keine Zeugen geben. Man wird wieder mal schutzlos vor sich selbst sein. Deshalb bleibt der Blick auf das vor einem gerichtet, weil es endlich etwas vor einem gibt. Es gibt ein Rechts und Links, Oben und Unten und die Schwere, die einen dorthin drückt. Und den Druck und Drang, doch endlich über diese Scheißmauer zu kommen. Denn sie ist jetzt der Grund allen Übels, sie ist das Ding, das den Weg versperrt, das Hindernis, das einen an etwas hindert. Woran? Weiterzukommen? Wohin? Gab es ein Vorwärts, bevor es die Mauer gab? Erlösende Antwort bietet nur sie selbst. Doch es ist keine gesprochene Antwort, sie besteht nur in ihrer Existenz, in dem Halt, den sie den Augen gibt. Dem Gefühl, nicht blind zu sein. Das Paradoxe der Erlösung ihrer Existenz und des einzigen Ziels, sie zu überwinden, verliert seine Berechtigung. Es gibt sie, das ist die Hauptsache. Und sie macht bewusst, dass man nicht an diesem Ort sein möchte. Vielleicht ist das ihre Aufgabe. Ein Betonboden, der den Fall beendet. Ein Zauber, der Frust, Wut und Verzweiflung entstehen lässt. Womit man die Helligkeit um sich herum füttert, bis ihre Konturen zu verschwimmen beginnen, sie verblasst und schließlich bald verschwindet. Und was bleibt, ist wieder einmal nichts. Das Nichts, das einem die Kehle zuschnürt, die Augen rastlos macht. Gefangen in der Unendlichkeit. Der Schmerz wird zum Grund, zu sein. Und der Grund, der einen dorthin brachte. Und dieser fand einen erneut. Und so fällt man erneut. Oder man läuft. Kein Unterschied. Keine Bedeutung. Nur endloser Raum. Und blendendes Nichts.



2 - Volkskrankheit


„There is nothing either good or bad but
thinking makes it so.“
(„Denn an sich ist nichts weder gut noch böse,
das Denken macht es erst dazu.“)
William Shakespeare

Auch wenn in vielen Fällen Traumata und unverarbeitete Erlebnisse Auslöser für Depressionen sein können, sind außerordentliche Ereignisse keine Garantie für diese. Der Mensch scheint mit bedrohlichen Situationen besser umgehen zu können als mit Langeweile. Einschneidende Erlebnisse beschreiben die Veränderung einer Lebenssituation. Sind diese Veränderungen negativ, beschreiben sie die Verschlechterung der Lebensumstände einer einzelnen Person oder von Bevölkerungsgruppen bis hin zu ganzen Nationen. Das heißt, es gibt in diesem Fall ein Davor, das besser war als das, was danach kam, also momentan ist. Es existiert ein Szenario, in das man sich zurückwünscht, auf das man hoffen kann, eines Tages wieder hinzustreben zu können. Es gibt eine Perspektive, sei es auch jene, dass einem alles genommen wurde, denn selbst in diesem Zustand kann der Betroffene wenigstens beschreiben, wo er sich gerade befindet. Gerade subtilere, ganz subjektive, im Verborgenen wütende Katastrophen sind es, die zu Depressionen führen. Umweltkatastrophen und Kriege sind ein viel zu einschneidendes Ereignis, um unmittelbar Depressionen hervorzurufen. Sie erzeugen keinen lähmenden Druck, sondern belebende Todesangst. Kämpfen oder Fliehen. Höchstaktive, das gesamte Sein einnehmende Stadien. Diese Zustände hinterlassen keine Leere, sondern einen Schock, das plötzliche Einbrechen dieser extremen Stadien, und den Drang, sich so weit wie nur möglich von dieser schrecklichen Situation zu entfernen, sobald alles vorbei ist. Wenn große Teile ganzer Völker einer niederschmetternden Leere erliegen, dann muss dies mit den Bevölkerungen selbst, und mit dem, was mit ihnen zusammenhängt, zu tun haben.

Hat ein Mensch, der zuvor etwas herstellte, indem er jeden erforderlichen Schritt selbst tat, die Möglichkeit, sich seine Arbeit zu erleichtern, indem er nun nur noch den immer gleichen Bruchteil dieser Arbeit selbst tun muss, denkt er tatsächlich, er hätte dadurch mehr Zeit, um sich nützlicheren Dingen zu widmen. Nur erkennt er nicht: Diese Arbeit zu tun, von Anfang bis zum Ende, war seine nützliche Tätigkeit. Er weiß anscheinend immer noch ganz recht, dass er in seiner Nützlichkeit die Erfüllung zu suchen hat, nach der er sich in seinem Leben sehnt, jedoch scheint ihm sein wahrer Nutzen als dieses ewige Mysterium, das er niemals zu lösen wissen wird, weil er nicht erkennt, dass sein Nutzen in seiner Tätigkeit liegt. Anstelle von einem ganzheitlichen Prozess ist er nun gefangen in nicht enden wollender Eintönigkeit, in einer Hierarchie, die ihm den Sinn seines Tuns nicht mehr erkennen lässt, in einem System, das ihm sagt, was er zu wollen hat. Der echte Mensch wurde als Diener geboren, nicht als Sklave. Doch dem exzellenten Propaganda-Regime des Systems erliegend, meint er nun nicht mehr selbst zu wissen, was er eigentlich möchte: Autonomie und Selbstbestimmung über sein eigenes Leben. Dieses Verlangen wird tief in ihn hinein zurückgepresst und über Generationen so weit verdichtet, bis es schon im Kindesalter gar nicht mehr infrage gestellt wird, sondern als für immer verloren, als niemals entdeckt, zum tödlichen Vortex mutierend, sich immer tiefer in die kleine Seele frisst. „Augen auf, Mund zu, stillgesessen!“ – der Leitfaden, der Schulkindern eingetrichtert wird. Rebellierende werden als krank deklariert. Wer denkt, das entspräche der Natur des Menschen, ist noch nie einem begegnet. Und wie sollte man auch, in solch einem System?

Die glorreiche Neuzeit sollte den Geist mit Wissen füllen, stattdessen begann sie ihn auszuhöhlen. Alles, was war, ist, und sein sollte wurde in die Außenwelt gezerrt. Nichts hat Bestand ohne handfeste Beweise. Greifen können muss man die Wirklichkeit. Zerdenken können muss man jeglichen Schritt. Auf der Suche nach allem wird alles bis ins kleinste Detail auseinandergenommen, bis man am Ende vor dem Nichts steht. Im dunklen Mittelalter bewies sich: Die Götter sind tot. Es lebe der Mensch! Für immer und ewig. Als Herrscher über alles und jeden. Als Meister der Elemente und des Geistes. Als Richter über Gut und Böse. Diese plötzliche Leere über ihm stürzte ihn offensichtlich in die Manie, nun selbst das höchste Gut zu sein. Der Mensch wurde frei von jeglicher Beherrschung, verlor folglich die seine. Aber wie keines der Landlebewesen war er für Grenzenlosigkeit gemacht. Nun ist sie es, die ihn immer weiter in den – und nicht nur seinen eigenen – Abgrund treibt. Immerfort nach Antworten suchend, auf Fragen, die er sich selbst stellte, um an seiner eigenen Nichtigkeit nicht irre zu werden, niemals mit den Antworten zufrieden seiend, rennt er panisch kopflos durch die Welt und hinterlässt nichts als verbrannte Erde. Wie soll sich irgendwer noch sicher fühlen? Und ohne Sicherheit keine Chance der Selbstverwirklichung.

Nicht nur geistig erschuf der Mensch sich der Depression liebste Voraussetzungen. Auch körperlich sollte, und soll, alles so einfach und leicht wie möglich werden. Körperliche Arbeit wird heute belächelt oder bemitleidet. Sich räumlich von wetterbedingten Umständen abzugrenzen und unabhängig zu machen, war schon seit jeher das große Ziel. Die größte Herausforderung heute besteht darin, von einer dieser Räumlichkeiten zur anderen zu gelangen. Auch hinsichtlich Lebensmitteln gelten jene als gut, die mit wenig Aufwand die größtmöglichen Mengen an Nährstoffen freisetzen. Nichts tun, alles bekommen scheint das neue Paradies zu sein. Aber auch dieses körperliche Getrenntsein von jeglichen Umwelteinflüssen und die Not an Herausforderungen wirken sich negativ auf den gesamten Menschen aus. Der Körper kann letztendlich nicht das tun, wozu er imstande ist: Temperaturschwankungen dauerhaft ausgleichen, Reize aufnehmen und verarbeiten, komplexe Nährstoffverbindungen aufspalten und verwerten, sich sinnvoll einsetzen, beansprucht werden, etc. Er wird in seiner Funktionalität und seinem Potenzial gehemmt, was von dem geistigen Unterbewusstsein nicht unentdeckt bleibt. Was die Absicht hatte, Dinge zu erleichtern, wiegt nun schwer auf den Schultern des Geistes. Letztendlich führten die ersehnte Erleichterung und Bequemlichkeit nicht zu dem erwünschten Effekt, denn anstelle von höherer Produktivität und größerer Stärke traten die genauen Gegenteile dieser auf. Körper und Geist wurden nicht die Freiheit geboten, sich weiter zu entfalten, sie wurden gezwungen, ihre Funktionen und natürlichen Abläufe zu unterdrücken. Eine Maschine mag vielleicht für eine längere Zeit leistungsfähig bleiben, wird sie weniger beansprucht. Doch wird ein organisches Lebewesen als ein Ding angesehen und als solches behandelt, so muss es lernen, sich wie eines zu verhalten: neutral, funktional, emotionslos, effektiv und in willenloser Treue ergeben. Keine dieser Eigenschaften lassen sich allerdings mit dem Wesen eines Lebendigen vereinbaren. Sieht dieses sich aber genau dazu gezwungen, liegt dort das Problem. Es ist ein Problem, das sich im tiefsten Innern einer Person abspielt und somit schwer zugänglich ist, für die Person selbst wie auch für andere. Etwas stimmt nicht, aber es kann nicht direkt angesprochen werden. Diese Situation ist ebenfalls eine, in welcher man entweder zu kämpfen oder zu fliehen hat. Doch der Kampf richtet sich nicht gegen das eigentliche Problem und die Flucht führt nur noch tiefer in die tatsächliche Gefahr hinein. Aber wie hat der Mensch es überhaupt so weit kommen lassen, um sich in dieser verzwickten Situation wiederzufinden? Nicht nur seine Kämpfe und Resignation können ihm zum Verhängnis werden, sondern auch seine Begeisterungsfähigkeit.



3 - Die Euphorie des Menschen


Das Wort Mensch beschreibt ein Geschöpf, das aus einer Masse höherer Lebewesen hervorsticht. Überlegenheit ist eines der beliebtesten Stichworte, mit denen es sich selbst gerne krönt. Überlegenheit durch Anderssein. Doch was begründet dieses Anderssein? Im Gegensatz zu den anderen Lebensformen scheint der Mensch das einzige Lebewesen dieser Welt zu sein, das zugänglich für realen und psychischen Wahnsinn ist. Gleichzeitig zeigt sich in ihm aber auch eine gewaltige Schöpfungskraft und Überzeugtheit der eigenen Rasse gegenüber. Ganz egal, welchen Aspekt der menschlichen Seinsweise man sich anschauen möchte, man wird dessen Oberfläche kaum angekratzt haben, bevor man auf eine scheinbar allherrschende Kraft stößt: die Euphorie und ihre unwirkliche Größe, mithilfe derer der Mensch sein Dasein bestreitet.


Der Weg zur Euphorie

Nichts Großes kann entstehen ohne Leidenschaft. Die Dinge, welche nur das Leiden schafft. Der Beweis dafür, dass nicht jeder für sich ist, weil der Mut, den eigenen Vorteil zugunsten dem eines anderen aufzugeben, zur wirklichen Erfüllung des menschlichen Verlangens führt. Unglaubliches wird vollbracht, Unmögliches erreicht, wenn jemand zum Leid bereit ist. Das heißt nicht, es zu suchen, sondern sich ihm nicht zu verschließen und nicht müde zu werden, sich dem aufzuopfern, was größer ist als man selbst, weil man daraus einen direkten und unvorhersehbaren Lohn bezieht, der dennoch in gewisser Weise selbstlos ist. Leidenschaft ist das, was einem mehr gibt, je mehr man es tut. Der Zauberspruch, der auf einem liegt und tiefer hineinführt in die Verwirrung der eigenen Träume mit der tatsächlichen Bereitschaft, etwas für sie zu tun. Sie ist eine süße Droge, die einen direkt ins Paradies befördert. Sie ist der stärkste Schmerzbekämpfer, Wachmacher und Kraftspender. Sie ist das hungrige Biest im Innern, das nie satt zu kriegen ist. Sie beflügelt und verankert zugleich. Sie bringt Opfer, um nach Höherem zu streben. Dieses verliert sie nie aus den Augen. Unermüdlich lenken ihre Schritte darauf zu, mit unerschütterlicher Selbstüberzeugung. Nichts kann sie stoppen. Niemand kann ihr im Wege stehen. Durch die unwirklichsten Gebiete führt ihr Pfad, rücksichtslos auf Möglichkeit und Vorschrift. Unverwundbar setzt sie sich über diese hinweg, da sie unerreichbar hoch über allem steht. Sie allein ist die Kraft, die sich in allem verbirgt. Denn nichts hat Bestand, ohne Bereitschaft zum Leiden.

Leidenschaft ist dem Menschen wohlbekannt. Seit jeher genießt er es, sich von ihr leiten zu lassen. Doch dann erhaschte er einen Blick in ihr Gesicht und nahm sie bewusst als all das wahr, was sie ist. Und er beschloss, selbst gerne so zu sein wie sie. Er fing an, sie zu beneiden, weil er sie nun nicht mehr als etwas Erlebbares, sondern als etwas Greifbares vor sich hatte und begann, entgegen ihrer ausmachenden Natur, den puren Vorteil aus ihr für sich zu extrahieren. So wurde das Leid von ihr isoliert und als rein negativ deklariert, während die übriggebliebenen positiven Aspekte zu künstlichen, krankmachenden Zuckerbomben komprimiert wurden. Die Aufopferungsbereitschaft des Leids wurde zur krankhaften, befriedigungssüchtigen Jagd auf pure Euphorie. Durch seinen Wunsch, ihr gleichzukommen, strich der Mensch somit auch im Hinblick auf sich selbst das Negative heraus, um im Angesicht seiner selbst die Euphorie des Seins verspüren zu können. Denn gut wollte er von nun an sein, aber nicht mehr leiden müssen. Alles Schlechte wollte er ausradieren, anstatt sich mit ihm auseinanderzusetzen.

1 - Gewaltsam monoton


„Insight is more helpful to people than advice.“
(„Ein Einblick ist für einen Menschen
hilfreicher als ein Ratschlag.“)
Gabor Maté

Ein weißer Raum. Hell erleuchtet. Ohne definierbare Lichtquelle, die Helligkeit, welche von jeglicher Fläche reflektiert wird und somit alles enthüllt, steht im kalten, gnadenlosen Schein da. Auch wenn Dunkelheit gebräuchlicher in der Beschreibung dieses Zustandes ist, enthält diese wenigstens eine Art Zuflucht, wenn man sich erst einmal an sie gewöhnt hat. Grausame Albträume können sich in ihr verbergen, die ungesehenen Geräusche, die aus ihr klingen, erwecken sie zum Leben, doch kann man sich zumindest auch dadurch etwas ablenken, von der grausamen Wirklichkeit, vor der man erst in sie geflüchtet ist. Nein, Helligkeit ist, was den Zustand besser darstellt. Doch diese dient nicht dazu, ihre Umgebung erkennbar zu machen, sie blendet mit dem, was ursprünglich zum Sehen verhelfen sollte. Sie schluckt nicht einfach wie die Nacht, sie zieht in sich hinein und lässt einen dabei zusehen, wie der Strudel alles immer weiter in die Tiefe saugt. Sie ist wahrlich gnadenlos, da sie die Fantasie raubt und trotzdem keine klarere Sicht hinterlässt. Und inmitten dieses trostlosen Dilemmas: eine Wand. Ebenso unwirklich wie der Rest und dennoch nicht weniger real. Und in diesem endlosen Grell das Einzige, was wenigstens den Anschein einer Substanz bietet. Inmitten all dieser Formlosigkeit wirkt sie wie ein Magnet, oder ein Feuer in der Kälte, doch dieses Bild trügt. Die Augen, dem endlosen Horizont so müde, kleben an ihr wie Harz auf der Haut. Sie ist ein Hindernis, nur ein weiteres Problem, eine so herbeigesehnte Unannehmlichkeit, weil sie fassbar ist. Ein Objekt im endlosen Nichts. Vergiftetes Wasser in der Wüste. Hat der endlose Raum Perspektive geraubt, raubt sie die Fähigkeit, sich frei zu bewegen. Käme man an eine Mauer und wüsste, kein Weg führt an ihr vorbei, man würde an ihr weitergehen. Doch durch allherrschende Formlosigkeit an sie gefesselt, bleibt man an ihr stehen. Und dort steht man. Und steht. Gefesselt im Nichts. Gebunden an den Punkt, an dem man nicht weiterkommt. Für immer. Die Augen stets an ihre Form geheftet, so fest, als könnte sie verschwinden, sobald man nur für eine Sekunde die Augen schließt, und man wäre wieder allein, die einzige Kontur im endlosen, gleißenden Licht des Nichts. Denn dies ist der Ort, der so furchtbar ängstigt. Der einzige Platz ganz nah bei sich. Kein externes Etwas das durch seine Aufmerksamkeit Asyl gewährt. Nichts außer das Selbst, dessen Gedanken begrenzt sind in diesem grenzenlosen Nichts. Sie werden anfangen, sich zu drehen und man wird sich sattgedacht haben an ihnen und dann ist das Selbst das Einzige, was noch bleibt. Und es wird niemand kommen. Es wird nichts teilhaben, keine Zeugen geben. Man wird wieder mal schutzlos vor sich selbst sein. Deshalb bleibt der Blick auf das vor einem gerichtet, weil es endlich etwas vor einem gibt. Es gibt ein Rechts und Links, Oben und Unten und die Schwere, die einen dorthin drückt. Und den Druck und Drang, doch endlich über diese Scheißmauer zu kommen. Denn sie ist jetzt der Grund allen Übels, sie ist das Ding, das den Weg versperrt, das Hindernis, das einen an etwas hindert. Woran? Weiterzukommen? Wohin? Gab es ein Vorwärts, bevor es die Mauer gab? Erlösende Antwort bietet nur sie selbst. Doch es ist keine gesprochene Antwort, sie besteht nur in ihrer Existenz, in dem Halt, den sie den Augen gibt. Dem Gefühl, nicht blind zu sein. Das Paradoxe der Erlösung ihrer Existenz und des einzigen Ziels, sie zu überwinden, verliert seine Berechtigung. Es gibt sie, das ist die Hauptsache. Und sie macht bewusst, dass man nicht an diesem Ort sein möchte. Vielleicht ist das ihre Aufgabe. Ein Betonboden, der den Fall beendet. Ein Zauber, der Frust, Wut und Verzweiflung entstehen lässt. Womit man die Helligkeit um sich herum füttert, bis ihre Konturen zu verschwimmen beginnen, sie verblasst und schließlich bald verschwindet. Und was bleibt, ist wieder einmal nichts. Das Nichts, das einem die Kehle zuschnürt, die Augen rastlos macht. Gefangen in der Unendlichkeit. Der Schmerz wird zum Grund, zu sein. Und der Grund, der einen dorthin brachte. Und dieser fand einen erneut. Und so fällt man erneut. Oder man läuft. Kein Unterschied. Keine Bedeutung. Nur endloser Raum. Und blendendes Nichts.



2 - Volkskrankheit


„There is nothing either good or bad but
thinking makes it so.“
(„Denn an sich ist nichts weder gut noch böse,
das Denken macht es erst dazu.“)
William Shakespeare

Auch wenn in vielen Fällen Traumata und unverarbeitete Erlebnisse Auslöser für Depressionen sein können, sind außerordentliche Ereignisse keine Garantie für diese. Der Mensch scheint mit bedrohlichen Situationen besser umgehen zu können als mit Langeweile. Einschneidende Erlebnisse beschreiben die Veränderung einer Lebenssituation. Sind diese Veränderungen negativ, beschreiben sie die Verschlechterung der Lebensumstände einer einzelnen Person oder von Bevölkerungsgruppen bis hin zu ganzen Nationen. Das heißt, es gibt in diesem Fall ein Davor, das besser war als das, was danach kam, also momentan ist. Es existiert ein Szenario, in das man sich zurückwünscht, auf das man hoffen kann, eines Tages wieder hinzustreben zu können. Es gibt eine Perspektive, sei es auch jene, dass einem alles genommen wurde, denn selbst in diesem Zustand kann der Betroffene wenigstens beschreiben, wo er sich gerade befindet. Gerade subtilere, ganz subjektive, im Verborgenen wütende Katastrophen sind es, die zu Depressionen führen. Umweltkatastrophen und Kriege sind ein viel zu einschneidendes Ereignis, um unmittelbar Depressionen hervorzurufen. Sie erzeugen keinen lähmenden Druck, sondern belebende Todesangst. Kämpfen oder Fliehen. Höchstaktive, das gesamte Sein einnehmende Stadien. Diese Zustände hinterlassen keine Leere, sondern einen Schock, das plötzliche Einbrechen dieser extremen Stadien, und den Drang, sich so weit wie nur möglich von dieser schrecklichen Situation zu entfernen, sobald alles vorbei ist. Wenn große Teile ganzer Völker einer niederschmetternden Leere erliegen, dann muss dies mit den Bevölkerungen selbst, und mit dem, was mit ihnen zusammenhängt, zu tun haben.

Hat ein Mensch, der zuvor etwas herstellte, indem er jeden erforderlichen Schritt selbst tat, die Möglichkeit, sich seine Arbeit zu erleichtern, indem er nun nur noch den immer gleichen Bruchteil dieser Arbeit selbst tun muss, denkt er tatsächlich, er hätte dadurch mehr Zeit, um sich nützlicheren Dingen zu widmen. Nur erkennt er nicht: Diese Arbeit zu tun, von Anfang bis zum Ende, war seine nützliche Tätigkeit. Er weiß anscheinend immer noch ganz recht, dass er in seiner Nützlichkeit die Erfüllung zu suchen hat, nach der er sich in seinem Leben sehnt, jedoch scheint ihm sein wahrer Nutzen als dieses ewige Mysterium, das er niemals zu lösen wissen wird, weil er nicht erkennt, dass sein Nutzen in seiner Tätigkeit liegt. Anstelle von einem ganzheitlichen Prozess ist er nun gefangen in nicht enden wollender Eintönigkeit, in einer Hierarchie, die ihm den Sinn seines Tuns nicht mehr erkennen lässt, in einem System, das ihm sagt, was er zu wollen hat. Der echte Mensch wurde als Diener geboren, nicht als Sklave. Doch dem exzellenten Propaganda-Regime des Systems erliegend, meint er nun nicht mehr selbst zu wissen, was er eigentlich möchte: Autonomie und Selbstbestimmung über sein eigenes Leben. Dieses Verlangen wird tief in ihn hinein zurückgepresst und über Generationen so weit verdichtet, bis es schon im Kindesalter gar nicht mehr infrage gestellt wird, sondern als für immer verloren, als niemals entdeckt, zum tödlichen Vortex mutierend, sich immer tiefer in die kleine Seele frisst. „Augen auf, Mund zu, stillgesessen!“ – der Leitfaden, der Schulkindern eingetrichtert wird. Rebellierende werden als krank deklariert. Wer denkt, das entspräche der Natur des Menschen, ist noch nie einem begegnet. Und wie sollte man auch, in solch einem System?

Die glorreiche Neuzeit sollte den Geist mit Wissen füllen, stattdessen begann sie ihn auszuhöhlen. Alles, was war, ist, und sein sollte wurde in die Außenwelt gezerrt. Nichts hat Bestand ohne handfeste Beweise. Greifen können muss man die Wirklichkeit. Zerdenken können muss man jeglichen Schritt. Auf der Suche nach allem wird alles bis ins kleinste Detail auseinandergenommen, bis man am Ende vor dem Nichts steht. Im dunklen Mittelalter bewies sich: Die Götter sind tot. Es lebe der Mensch! Für immer und ewig. Als Herrscher über alles und jeden. Als Meister der Elemente und des Geistes. Als Richter über Gut und Böse. Diese plötzliche Leere über ihm stürzte ihn offensichtlich in die Manie, nun selbst das höchste Gut zu sein. Der Mensch wurde frei von jeglicher Beherrschung, verlor folglich die seine. Aber wie keines der Landlebewesen war er für Grenzenlosigkeit gemacht. Nun ist sie es, die ihn immer weiter in den – und nicht nur seinen eigenen – Abgrund treibt. Immerfort nach Antworten suchend, auf Fragen, die er sich selbst stellte, um an seiner eigenen Nichtigkeit nicht irre zu werden, niemals mit den Antworten zufrieden seiend, rennt er panisch kopflos durch die Welt und hinterlässt nichts als verbrannte Erde. Wie soll sich irgendwer noch sicher fühlen? Und ohne Sicherheit keine Chance der Selbstverwirklichung.

Nicht nur geistig erschuf der Mensch sich der Depression liebste Voraussetzungen. Auch körperlich sollte, und soll, alles so einfach und leicht wie möglich werden. Körperliche Arbeit wird heute belächelt oder bemitleidet. Sich räumlich von wetterbedingten Umständen abzugrenzen und unabhängig zu machen, war schon seit jeher das große Ziel. Die größte Herausforderung heute besteht darin, von einer dieser Räumlichkeiten zur anderen zu gelangen. Auch hinsichtlich Lebensmitteln gelten jene als gut, die mit wenig Aufwand die größtmöglichen Mengen an Nährstoffen freisetzen. Nichts tun, alles bekommen scheint das neue Paradies zu sein. Aber auch dieses körperliche Getrenntsein von jeglichen Umwelteinflüssen und die Not an Herausforderungen wirken sich negativ auf den gesamten Menschen aus. Der Körper kann letztendlich nicht das tun, wozu er imstande ist: Temperaturschwankungen dauerhaft ausgleichen, Reize aufnehmen und verarbeiten, komplexe Nährstoffverbindungen aufspalten und verwerten, sich sinnvoll einsetzen, beansprucht werden, etc. Er wird in seiner Funktionalität und seinem Potenzial gehemmt, was von dem geistigen Unterbewusstsein nicht unentdeckt bleibt. Was die Absicht hatte, Dinge zu erleichtern, wiegt nun schwer auf den Schultern des Geistes. Letztendlich führten die ersehnte Erleichterung und Bequemlichkeit nicht zu dem erwünschten Effekt, denn anstelle von höherer Produktivität und größerer Stärke traten die genauen Gegenteile dieser auf. Körper und Geist wurden nicht die Freiheit geboten, sich weiter zu entfalten, sie wurden gezwungen, ihre Funktionen und natürlichen Abläufe zu unterdrücken. Eine Maschine mag vielleicht für eine längere Zeit leistungsfähig bleiben, wird sie weniger beansprucht. Doch wird ein organisches Lebewesen als ein Ding angesehen und als solches behandelt, so muss es lernen, sich wie eines zu verhalten: neutral, funktional, emotionslos, effektiv und in willenloser Treue ergeben. Keine dieser Eigenschaften lassen sich allerdings mit dem Wesen eines Lebendigen vereinbaren. Sieht dieses sich aber genau dazu gezwungen, liegt dort das Problem. Es ist ein Problem, das sich im tiefsten Innern einer Person abspielt und somit schwer zugänglich ist, für die Person selbst wie auch für andere. Etwas stimmt nicht, aber es kann nicht direkt angesprochen werden. Diese Situation ist ebenfalls eine, in welcher man entweder zu kämpfen oder zu fliehen hat. Doch der Kampf richtet sich nicht gegen das eigentliche Problem und die Flucht führt nur noch tiefer in die tatsächliche Gefahr hinein. Aber wie hat der Mensch es überhaupt so weit kommen lassen, um sich in dieser verzwickten Situation wiederzufinden? Nicht nur seine Kämpfe und Resignation können ihm zum Verhängnis werden, sondern auch seine Begeisterungsfähigkeit.



3 - Die Euphorie des Menschen


Das Wort Mensch beschreibt ein Geschöpf, das aus einer Masse höherer Lebewesen hervorsticht. Überlegenheit ist eines der beliebtesten Stichworte, mit denen es sich selbst gerne krönt. Überlegenheit durch Anderssein. Doch was begründet dieses Anderssein? Im Gegensatz zu den anderen Lebensformen scheint der Mensch das einzige Lebewesen dieser Welt zu sein, das zugänglich für realen und psychischen Wahnsinn ist. Gleichzeitig zeigt sich in ihm aber auch eine gewaltige Schöpfungskraft und Überzeugtheit der eigenen Rasse gegenüber. Ganz egal, welchen Aspekt der menschlichen Seinsweise man sich anschauen möchte, man wird dessen Oberfläche kaum angekratzt haben, bevor man auf eine scheinbar allherrschende Kraft stößt: die Euphorie und ihre unwirkliche Größe, mithilfe derer der Mensch sein Dasein bestreitet.


Der Weg zur Euphorie

Nichts Großes kann entstehen ohne Leidenschaft. Die Dinge, welche nur das Leiden schafft. Der Beweis dafür, dass nicht jeder für sich ist, weil der Mut, den eigenen Vorteil zugunsten dem eines anderen aufzugeben, zur wirklichen Erfüllung des menschlichen Verlangens führt. Unglaubliches wird vollbracht, Unmögliches erreicht, wenn jemand zum Leid bereit ist. Das heißt nicht, es zu suchen, sondern sich ihm nicht zu verschließen und nicht müde zu werden, sich dem aufzuopfern, was größer ist als man selbst, weil man daraus einen direkten und unvorhersehbaren Lohn bezieht, der dennoch in gewisser Weise selbstlos ist. Leidenschaft ist das, was einem mehr gibt, je mehr man es tut. Der Zauberspruch, der auf einem liegt und tiefer hineinführt in die Verwirrung der eigenen Träume mit der tatsächlichen Bereitschaft, etwas für sie zu tun. Sie ist eine süße Droge, die einen direkt ins Paradies befördert. Sie ist der stärkste Schmerzbekämpfer, Wachmacher und Kraftspender. Sie ist das hungrige Biest im Innern, das nie satt zu kriegen ist. Sie beflügelt und verankert zugleich. Sie bringt Opfer, um nach Höherem zu streben. Dieses verliert sie nie aus den Augen. Unermüdlich lenken ihre Schritte darauf zu, mit unerschütterlicher Selbstüberzeugung. Nichts kann sie stoppen. Niemand kann ihr im Wege stehen. Durch die unwirklichsten Gebiete führt ihr Pfad, rücksichtslos auf Möglichkeit und Vorschrift. Unverwundbar setzt sie sich über diese hinweg, da sie unerreichbar hoch über allem steht. Sie allein ist die Kraft, die sich in allem verbirgt. Denn nichts hat Bestand, ohne Bereitschaft zum Leiden.

Leidenschaft ist dem Menschen wohlbekannt. Seit jeher genießt er es, sich von ihr leiten zu lassen. Doch dann erhaschte er einen Blick in ihr Gesicht und nahm sie bewusst als all das wahr, was sie ist. Und er beschloss, selbst gerne so zu sein wie sie. Er fing an, sie zu beneiden, weil er sie nun nicht mehr als etwas Erlebbares, sondern als etwas Greifbares vor sich hatte und begann, entgegen ihrer ausmachenden Natur, den puren Vorteil aus ihr für sich zu extrahieren. So wurde das Leid von ihr isoliert und als rein negativ deklariert, während die übriggebliebenen positiven Aspekte zu künstlichen, krankmachenden Zuckerbomben komprimiert wurden. Die Aufopferungsbereitschaft des Leids wurde zur krankhaften, befriedigungssüchtigen Jagd auf pure Euphorie. Durch seinen Wunsch, ihr gleichzukommen, strich der Mensch somit auch im Hinblick auf sich selbst das Negative heraus, um im Angesicht seiner selbst die Euphorie des Seins verspüren zu können. Denn gut wollte er von nun an sein, aber nicht mehr leiden müssen. Alles Schlechte wollte er ausradieren, anstatt sich mit ihm auseinanderzusetzen.

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