Falsche Erinnerungen an sexuellen Missbrauch: Die unterschätzte Gefahr

Falsche Erinnerungen an sexuellen Missbrauch: Die unterschätzte Gefahr

Traumatherapie und Familienzerstörung

Hans Delfs


EUR 15,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 224
ISBN: 978-3-99146-613-0
Erscheinungsdatum: 06.03.2024

Leseprobe:

Vorbemerkung

Der Autor dieses kleinen Buches ist Naturwissenschaftler, kein Psychologe. Mit den hier behandelten psychologischen Fragestellungen befasst er sich aber bereits seit über 25 Jahren, insbesondere anhand wissenschaftlicher Literatur. Außerdem kennt er in allen Einzelheiten einige Hundert Fälle von Personen, die entweder als Therapierte oder als Beschuldigte von falschen Erinnerungen an sexuellen Missbrauch betroffen sind.
Eine erste Ausgabe dieses Buches erschien im Jahre 2013 im Verlag Dietmar KIotz unter dem Titel Falsche Erinnerungen an sexuellen Missbrauch: Eine therapeutische Mode, die Familien zerstört. Sie stand in engem Zusammenhang mit der Gründung des Vereins False Memory Deutschland e. V. (FMD). Es war notwendig geworden, den von diesem Verein beratenen Personen eine erste Information über das Phänomen der falschen Erinnerungen an sexuellen Missbrauch zu geben.
Eine zweite, wesentlich erweiterte und ergänzte Ausgabe erschien 2017 im Verlag Pabst Science Publishers unter dem Titel False Memory: „Erinnerungen“ an sexuellen Missbrauch, der nie stattfand.
Seit 2017 haben sich sowohl die gesellschaftlichen als auch die wissenschaftlichen Schwerpunkte der False Memory-Problematik verschoben. Dieser Tatsache trägt die hiermit vorgestellte dritte Ausgabe Rechnung. Es wurden weitere Fallberichte hinzugefügt und an den Anfang des Buches gestellt. Der gesamte Aufbau des Buches wurde neu gestaltet.



Einführung

Es geht in diesem Buch um Missbrauch und falsche Erinnerungen, keine erfreulichen Themen. Aber es sind wichtige Themen, die allein in Deutschland das Leben von Millionen Menschen betreffen.
Sexueller Missbrauch an Kindern ist etwas Furchtbares und leider weit verbreitet. Jahrelang wurde nicht erkannt, wie häufig sexueller Missbrauch ist. Man dachte dabei vor allem an den pädophilen Onkel mit der Bonbontüte an der Straßenecke. Dass aber sexueller Missbrauch am häufigsten innerhalb der Familie und im Freundeskreis geschieht, wurde verschwiegen und blieb meist gut getarnt. Es ist gut, dass die Öffentlichkeit in dieser Hinsicht sensibler geworden ist und dass die Missbrauchsopfer mehr und mehr wagen, sich zu wehren und die Täter zu nennen. Da die überwiegende Zahl der Missbrauchsopfer weiblich ist, ist diese Entwicklung vor allem der feministischen Bewegung zu verdanken.
Nach der besten derzeit in Deutschland vorliegenden Studie zur Häufigkeit sexuellen Missbrauchs gibt es in Deutschland die gigantische Zahl von ca. 5 Millionen Missbrauchsopfern, eine Zahl, die größte Anstrengungen im Kampf dagegen rechtfertigt. Dieser Kampf wird zunehmend hitzig geführt, und das verengt die Perspektive. Einige Opferhilfsorganisationen und selbsternannte Missbrauchs-Jäger haben sich ideologische Scheuklappen angelegt. Meldet sich jemand als Missbrauchsopfer, so wird meist nicht gefragt, ob die Beschuldigung zu Recht besteht. Vielmehr gilt weithin, dass man dem Missbrauchsopfer aufs Wort glauben müsse. Den Opfern nicht zu glauben, wird als schwerer Fehler und erneute Traumatisierung des Opfers angesehen.
Im öffentlichen Bewusstsein ist der Beschuldigte bereits verurteilt, bevor überhaupt eine Anklage erfolgt. Das juristische Grundprinzip der Unschuldsvermutung wird praktisch ausgehebelt, und oft können sich auch Gerichte dieser Dynamik nicht entziehen. Vielfach wird ohne Prüfung davon ausgegangen, dass der Beschuldigung reale Tatsachen zugrunde liegen. Das ist keineswegs immer der Fall, wie eine Reihe spektakulärer Fälle der letzten Jahre gezeigt hat. Es wurden Unschuldige verurteilt und Gerichte fügten den Beschuldigten nicht wieder gut zu machendes Unrecht zu.
Es sind hauptsächlich vier Ursachen, die zu Falschbeschuldigungen führen.

Eine bewusste Falschbeschuldigung wird aus persönlichen Gründen vorgebracht, zum Beispiel aus Rache, oder um in einer gescheiterten Beziehung einen Sorgerechtsstreit im gewünschten Sinne zu beeinflussen.
Verhalten und Aussagen von Kindern werden fehlinterpretiert. Man vermutet, dass sie Opfer von sexuellem Missbrauch seien. Bei wiederholten Vernehmungen sagen Kinder häufig einfach das, was von ihnen erwartet wird.
Personen mit psychischen Störungen, insbesondere der Borderline-Störung, beschuldigen Bezugspersonen, wobei nicht immer klar ist, ob es sich um falsche Erinnerungen oder absichtliche Beschuldigung handelt.
Erwachsene Personen entwickeln falsche Erinnerungen, meist im Rahmen von Psychotherapien.

Die erste Ursache wird in diesem Büchlein nicht behandelt, der Schwerpunkt unserer Betrachtungen liegt auf dem letzten Fall.
Die Bezeichnung falsche Erinnerungen ist ein Fachausdruck aus der Gedächtnispsychologie. Wer die genaue Bedeutung des Wortes nicht kennt, wird den Begriff vielleicht irrtümlich in Zusammenhang mit Lügen und absichtlichen Täuschungen bringen. Damit hat er aber nichts zu tun. Falsche Erinnerungen sind persönliche Erinnerungen an Ereignisse, die der Erinnernde glaubt, erlebt zu haben. Falsch daran ist, dass es diese Erlebnisse nicht gegeben hat.
Fälle falscher Erinnerungen an sexuellen Missbrauch kennen wir seit den 70-er Jahren. Mitte der 80-er Jahre nahm die Häufigkeit sprunghaft zu, anfangs ausschließlich in den USA. Dort häuften sich die Fälle in dramatischer Weise, bei denen erwachsene Personen, die wegen irgendwelcher Lebensprobleme einen Psychotherapeuten aufgesucht hatten, sich im Verlauf der Therapie an etwas erinnerten, was sie vor Beginn der Therapie nicht wussten: Dass sie als Kinder angeblich sexuell missbraucht worden waren. Es waren falsche Erinnerungen.
Um diese Art falscher Erinnerungen geht es in diesem Buch. Wenn im weiteren Verlauf des Buches der Begriff falsche Erinnerungen benutzt wird, so meist im Sinne von induzierten Erinnerungen an sexuellen Missbrauch, die nach abgeschlossener Pubertät im Rahmen einer Psychotherapie oder anderen Lebensberatungen entstanden sind, und die vorher nicht vorhanden waren.
Die massenhafte Entstehung derartiger Fälle in den USA erreichte Anfang der 90-er Jahre einen vorläufigen Höhepunkt und hatte zur Folge, dass die zu Unrecht des Missbrauchs Beschuldigten sich wehrten. Sie hatten die psychologische Forschung auf ihrer Seite. Es entstand eine erbitterte öffentliche Kontroverse zwischen den Beschuldigten und jenen Therapeuten, bei denen falsche Erinnerungen an sexuellen Missbrauch entstanden waren, die memory wars (Gedächtniskriege). Eine Konsequenz war, dass die psychologische Forschung sämtliche damit zusammenhängenden Fragen mit besonderer Intensität zu klären suchte. Dabei haben sich insbesondere zwei Ergebnisse herausgestellt:

Sexueller Missbrauch wird selten vergessen, vor allem dann nicht, wenn es ein traumatisches Ereignis war.
Wird eine nicht vorhandene Erinnerung bei Erwachsenen durch gezielte Suche „wiedergewonnen“, so ist es mit größter Wahrscheinlichkeit eine falsche Erinnerung.

Der Psychiater Paul McHugh schrieb 2006, die memory wars seien entschieden: Die Wissenschaft habe gesiegt. Dennoch sehen wir heute, dass nach wie vor in Psychotherapien falsche Erinnerungen an sexuellen Missbrauch entstehen, vielleicht sogar mehr als früher. Was ist da schief gegangen?
In Bezug auf die naturwissenschaftliche Psychologie hatte McHugh Recht. Eindeutige Ergebnisse zu Gedächtnis, Verdrängung oder dissoziativer Amnesie lagen schon vor dem Jahre 2000 vor. Seitdem nimmt die Zahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die falsche Erinnerungen betreffen, ständig ab. Das Thema ist weitgehend geklärt und erschöpft.
Viele Kliniker und Therapeuten aber interessieren sich wenig für diese Ergebnisse. Deshalb haben die wichtigsten psychologischen Forschungsergebnisse aus den letzten Jahren eher soziologischen Charakter. Ein Meilenstein ist dabei eine Studie von Patihis & Pendergrast , die in dem Abschnitt Repräsentativstudien zu sexuellem Missbrauch genauer besprochen wird und die gezeigt hat, dass falsche Erinnerungen an sexuellen Missbrauch weit häufiger sind als bisher allgemein angenommen.
Die wissenschaftliche Kontroverse der Gedächtniskriege in den USA ist einer nicht minder heftigen Debatte gewichen, in der um die mediale Meinungshoheit zur Traumatherapie des sexuellen Missbrauchs oder um die Existenz rituellen Missbrauchs gestritten wird. Diese Debatte wird in allen Medien ausgetragen, wobei die sozialen Netzwerke eine Rolle spielen, die man im letzten Jahrtausend noch nicht ahnen konnte.
Es ist aber seit dem Beginn dieses Jahrtausends noch etwas hinzugekommen oder weitaus stärker geworden: Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass für Kliniken und für die Gesamtheit der in bestimmten Berufsorganisationen repräsentierten Psychotherapeuten Traumatherapie ein Multimillionen-Business ist. Entsprechend stark ist der Lobbyismus zugunsten von Therapieformen, die lukrative und langdauernde Behandlungen garantieren.
Der Verein False Memory Deutschland stellt sich dieser Entwicklung entgegen, doch die Hauptaufgabe dieses Vereins ist die Beratung Betroffener, nicht Lobbyismus oder Forschung. Deshalb spielen Veröffentlichungen eines seriösen und sorgfältig recherchierten Journalismus eine sehr wichtige Rolle. Sie erreichen ein weit größeres Publikum als die Wissenschaft und gelangen den wichtigsten Institutionen wie Opferverbänden, Kirchen, Strafverfolgungsbehörden, Fachverbänden, Ausbildungsstellen usw., und nicht zuletzt auch den Organen der Bundesregierung, zur Kenntnis. Ansätze dazu sind vorhanden und haben zu ersten Konsequenzen geführt.
In der öffentlichen Diskussion zu falschen Erinnerungen an sexuellen Missbrauch stößt man immer wieder auf die Behauptung, es handele sich um einen Trick von Kinderschändern, ihrer Verfolgung zu entkommen. Nichts könnte von der Wahrheit weiter entfernt sein. Nur weil es so viel wirklichen Kindesmissbrauch gibt, konnte sich eine psychotherapeutische Arbeitsrichtung entwickeln, die im Missbrauch den Universalgrund für psychische Schwierigkeiten aller Art sieht. Der Aussagepsychologe Max Steller bezeichnet induzierte Missbrauchserinnerungen als den „Kollateralschaden“ des Kampfes gegen Kindesmissbrauch. Davon Betroffene sind demnach indirekte Opfer des tatsächlichen Kindesmissbrauchs.
An dieser Stelle soll ausdrücklich betont werden: Dieses Buch dient nicht dazu, Kindesmissbrauch zu verharmlosen oder den wirklichen Tätern eine Brücke zum Entkommen zu bieten. Aber es geht darum, zwischen berechtigten Beschuldigungen und Falschbeschuldigungen zu unterscheiden.
Ein paar Worte zum Aufbau des Buches: Es beginnt mit vier Fallgeschichten, die dem Leser zeigen, mit welchen Problemen wir es hier zu tun haben. In allen vier Fällen geht es um die therapeutische Entstehung bzw. Erzeugung falscher Erinnerungen an sexuellen Missbrauch. Das ist das eigentliche Thema dieses Buches. Es ist ein komplexes Thema. Um es zu verstehen, müssen die wichtigsten Tatsachen zu sexuellem Missbrauch, zu Gedächtnis und Erinnerungen, zur Verfälschung von Erinnerungen, zu Psychotherapeuten und -therapien, zu Suggestionen etc. bekannt sein. Deshalb werden diese Wissensgebiete systematisch in dem für das Verständnis notwendigen Umfang behandelt, bevor im Abschnitt Trauma-Erinnerungstherapien das Hauptthema des Buchs angegangen wird. Es folgt ein kurzer Abschnitt über die Institutionen, die in dem Zusammenhang dieses Buches von Bedeutung sind. Ein letzter Abschnitt ist der Wissenschaft gewidmet, ihren Arbeitsmethoden und einzelnen besonders wichtigen oder interessanten Ergebnissen.
Kurz noch ein Wort zur Zielgruppe dieses Buches: Das Buch richtet sich vor allem an diejenigen, die sich erste Informationen über das Problem falscher Erinnerungen an sexuellen Missbrauch verschaffen wollen. Wer Genaueres wissen will, kann den in diesem Buch zitierten Literaturangaben folgen. Mit Rücksicht auf die Zielgruppe werden hier wissenschaftliche Untersuchungen ohne die typischen Vorsichtsklauseln zitiert, die in der wissenschaftlichen Arbeit notwendig und wichtig sind, hier aber nur verwirren würden.
Jetzt noch zwei Klarstellungen, die für das gesamte Buch gelten:

Wenn von Therapeuten, Beschuldigten, Beschuldigern, Patienten, Rechtsanwälten, Gutachtern etc. geschrieben wird, dann sind damit immer beide Geschlechter in gleicher Weise gemeint. Das vereinfacht das Schreiben und den Text. Gelegentlich wird noch eine weitere Vereinfachung vorgenommen: Da bei der überwiegenden Mehrheit der vorliegenden Fälle falscher Erinnerungen an sexuellen Missbrauch die Väter von ihren Töchtern beschuldigt werden, werde ich manchmal einfach von Vätern und Töchtern schreiben, obwohl jede andere Geschlechtskombination ebenso vorkommt, wie auch die Beschuldigung durch Enkel, Neffen, Nichten oder Freunde der Familie.
Dieses Buch richtet sich nicht gegen die Psychotherapie als solche. Im Gegenteil: Viele, die von falschen Erinnerungen an sexuellen Missbrauch betroffen sind, sei es nun als zu Unrecht Beschuldigte oder als Therapierte, sind auf verständige Therapeuten angewiesen, um wieder eine Balance in ihrem Leben zu finden. Das Buch richtet sich ausschließlich gegen die therapeutische Arbeitsweise, die im vorliegenden Text als Trauma-Erinnerungstherapie bezeichnet wird.

Vorbemerkung

Der Autor dieses kleinen Buches ist Naturwissenschaftler, kein Psychologe. Mit den hier behandelten psychologischen Fragestellungen befasst er sich aber bereits seit über 25 Jahren, insbesondere anhand wissenschaftlicher Literatur. Außerdem kennt er in allen Einzelheiten einige Hundert Fälle von Personen, die entweder als Therapierte oder als Beschuldigte von falschen Erinnerungen an sexuellen Missbrauch betroffen sind.
Eine erste Ausgabe dieses Buches erschien im Jahre 2013 im Verlag Dietmar KIotz unter dem Titel Falsche Erinnerungen an sexuellen Missbrauch: Eine therapeutische Mode, die Familien zerstört. Sie stand in engem Zusammenhang mit der Gründung des Vereins False Memory Deutschland e. V. (FMD). Es war notwendig geworden, den von diesem Verein beratenen Personen eine erste Information über das Phänomen der falschen Erinnerungen an sexuellen Missbrauch zu geben.
Eine zweite, wesentlich erweiterte und ergänzte Ausgabe erschien 2017 im Verlag Pabst Science Publishers unter dem Titel False Memory: „Erinnerungen“ an sexuellen Missbrauch, der nie stattfand.
Seit 2017 haben sich sowohl die gesellschaftlichen als auch die wissenschaftlichen Schwerpunkte der False Memory-Problematik verschoben. Dieser Tatsache trägt die hiermit vorgestellte dritte Ausgabe Rechnung. Es wurden weitere Fallberichte hinzugefügt und an den Anfang des Buches gestellt. Der gesamte Aufbau des Buches wurde neu gestaltet.



Einführung

Es geht in diesem Buch um Missbrauch und falsche Erinnerungen, keine erfreulichen Themen. Aber es sind wichtige Themen, die allein in Deutschland das Leben von Millionen Menschen betreffen.
Sexueller Missbrauch an Kindern ist etwas Furchtbares und leider weit verbreitet. Jahrelang wurde nicht erkannt, wie häufig sexueller Missbrauch ist. Man dachte dabei vor allem an den pädophilen Onkel mit der Bonbontüte an der Straßenecke. Dass aber sexueller Missbrauch am häufigsten innerhalb der Familie und im Freundeskreis geschieht, wurde verschwiegen und blieb meist gut getarnt. Es ist gut, dass die Öffentlichkeit in dieser Hinsicht sensibler geworden ist und dass die Missbrauchsopfer mehr und mehr wagen, sich zu wehren und die Täter zu nennen. Da die überwiegende Zahl der Missbrauchsopfer weiblich ist, ist diese Entwicklung vor allem der feministischen Bewegung zu verdanken.
Nach der besten derzeit in Deutschland vorliegenden Studie zur Häufigkeit sexuellen Missbrauchs gibt es in Deutschland die gigantische Zahl von ca. 5 Millionen Missbrauchsopfern, eine Zahl, die größte Anstrengungen im Kampf dagegen rechtfertigt. Dieser Kampf wird zunehmend hitzig geführt, und das verengt die Perspektive. Einige Opferhilfsorganisationen und selbsternannte Missbrauchs-Jäger haben sich ideologische Scheuklappen angelegt. Meldet sich jemand als Missbrauchsopfer, so wird meist nicht gefragt, ob die Beschuldigung zu Recht besteht. Vielmehr gilt weithin, dass man dem Missbrauchsopfer aufs Wort glauben müsse. Den Opfern nicht zu glauben, wird als schwerer Fehler und erneute Traumatisierung des Opfers angesehen.
Im öffentlichen Bewusstsein ist der Beschuldigte bereits verurteilt, bevor überhaupt eine Anklage erfolgt. Das juristische Grundprinzip der Unschuldsvermutung wird praktisch ausgehebelt, und oft können sich auch Gerichte dieser Dynamik nicht entziehen. Vielfach wird ohne Prüfung davon ausgegangen, dass der Beschuldigung reale Tatsachen zugrunde liegen. Das ist keineswegs immer der Fall, wie eine Reihe spektakulärer Fälle der letzten Jahre gezeigt hat. Es wurden Unschuldige verurteilt und Gerichte fügten den Beschuldigten nicht wieder gut zu machendes Unrecht zu.
Es sind hauptsächlich vier Ursachen, die zu Falschbeschuldigungen führen.

Eine bewusste Falschbeschuldigung wird aus persönlichen Gründen vorgebracht, zum Beispiel aus Rache, oder um in einer gescheiterten Beziehung einen Sorgerechtsstreit im gewünschten Sinne zu beeinflussen.
Verhalten und Aussagen von Kindern werden fehlinterpretiert. Man vermutet, dass sie Opfer von sexuellem Missbrauch seien. Bei wiederholten Vernehmungen sagen Kinder häufig einfach das, was von ihnen erwartet wird.
Personen mit psychischen Störungen, insbesondere der Borderline-Störung, beschuldigen Bezugspersonen, wobei nicht immer klar ist, ob es sich um falsche Erinnerungen oder absichtliche Beschuldigung handelt.
Erwachsene Personen entwickeln falsche Erinnerungen, meist im Rahmen von Psychotherapien.

Die erste Ursache wird in diesem Büchlein nicht behandelt, der Schwerpunkt unserer Betrachtungen liegt auf dem letzten Fall.
Die Bezeichnung falsche Erinnerungen ist ein Fachausdruck aus der Gedächtnispsychologie. Wer die genaue Bedeutung des Wortes nicht kennt, wird den Begriff vielleicht irrtümlich in Zusammenhang mit Lügen und absichtlichen Täuschungen bringen. Damit hat er aber nichts zu tun. Falsche Erinnerungen sind persönliche Erinnerungen an Ereignisse, die der Erinnernde glaubt, erlebt zu haben. Falsch daran ist, dass es diese Erlebnisse nicht gegeben hat.
Fälle falscher Erinnerungen an sexuellen Missbrauch kennen wir seit den 70-er Jahren. Mitte der 80-er Jahre nahm die Häufigkeit sprunghaft zu, anfangs ausschließlich in den USA. Dort häuften sich die Fälle in dramatischer Weise, bei denen erwachsene Personen, die wegen irgendwelcher Lebensprobleme einen Psychotherapeuten aufgesucht hatten, sich im Verlauf der Therapie an etwas erinnerten, was sie vor Beginn der Therapie nicht wussten: Dass sie als Kinder angeblich sexuell missbraucht worden waren. Es waren falsche Erinnerungen.
Um diese Art falscher Erinnerungen geht es in diesem Buch. Wenn im weiteren Verlauf des Buches der Begriff falsche Erinnerungen benutzt wird, so meist im Sinne von induzierten Erinnerungen an sexuellen Missbrauch, die nach abgeschlossener Pubertät im Rahmen einer Psychotherapie oder anderen Lebensberatungen entstanden sind, und die vorher nicht vorhanden waren.
Die massenhafte Entstehung derartiger Fälle in den USA erreichte Anfang der 90-er Jahre einen vorläufigen Höhepunkt und hatte zur Folge, dass die zu Unrecht des Missbrauchs Beschuldigten sich wehrten. Sie hatten die psychologische Forschung auf ihrer Seite. Es entstand eine erbitterte öffentliche Kontroverse zwischen den Beschuldigten und jenen Therapeuten, bei denen falsche Erinnerungen an sexuellen Missbrauch entstanden waren, die memory wars (Gedächtniskriege). Eine Konsequenz war, dass die psychologische Forschung sämtliche damit zusammenhängenden Fragen mit besonderer Intensität zu klären suchte. Dabei haben sich insbesondere zwei Ergebnisse herausgestellt:

Sexueller Missbrauch wird selten vergessen, vor allem dann nicht, wenn es ein traumatisches Ereignis war.
Wird eine nicht vorhandene Erinnerung bei Erwachsenen durch gezielte Suche „wiedergewonnen“, so ist es mit größter Wahrscheinlichkeit eine falsche Erinnerung.

Der Psychiater Paul McHugh schrieb 2006, die memory wars seien entschieden: Die Wissenschaft habe gesiegt. Dennoch sehen wir heute, dass nach wie vor in Psychotherapien falsche Erinnerungen an sexuellen Missbrauch entstehen, vielleicht sogar mehr als früher. Was ist da schief gegangen?
In Bezug auf die naturwissenschaftliche Psychologie hatte McHugh Recht. Eindeutige Ergebnisse zu Gedächtnis, Verdrängung oder dissoziativer Amnesie lagen schon vor dem Jahre 2000 vor. Seitdem nimmt die Zahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die falsche Erinnerungen betreffen, ständig ab. Das Thema ist weitgehend geklärt und erschöpft.
Viele Kliniker und Therapeuten aber interessieren sich wenig für diese Ergebnisse. Deshalb haben die wichtigsten psychologischen Forschungsergebnisse aus den letzten Jahren eher soziologischen Charakter. Ein Meilenstein ist dabei eine Studie von Patihis & Pendergrast , die in dem Abschnitt Repräsentativstudien zu sexuellem Missbrauch genauer besprochen wird und die gezeigt hat, dass falsche Erinnerungen an sexuellen Missbrauch weit häufiger sind als bisher allgemein angenommen.
Die wissenschaftliche Kontroverse der Gedächtniskriege in den USA ist einer nicht minder heftigen Debatte gewichen, in der um die mediale Meinungshoheit zur Traumatherapie des sexuellen Missbrauchs oder um die Existenz rituellen Missbrauchs gestritten wird. Diese Debatte wird in allen Medien ausgetragen, wobei die sozialen Netzwerke eine Rolle spielen, die man im letzten Jahrtausend noch nicht ahnen konnte.
Es ist aber seit dem Beginn dieses Jahrtausends noch etwas hinzugekommen oder weitaus stärker geworden: Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass für Kliniken und für die Gesamtheit der in bestimmten Berufsorganisationen repräsentierten Psychotherapeuten Traumatherapie ein Multimillionen-Business ist. Entsprechend stark ist der Lobbyismus zugunsten von Therapieformen, die lukrative und langdauernde Behandlungen garantieren.
Der Verein False Memory Deutschland stellt sich dieser Entwicklung entgegen, doch die Hauptaufgabe dieses Vereins ist die Beratung Betroffener, nicht Lobbyismus oder Forschung. Deshalb spielen Veröffentlichungen eines seriösen und sorgfältig recherchierten Journalismus eine sehr wichtige Rolle. Sie erreichen ein weit größeres Publikum als die Wissenschaft und gelangen den wichtigsten Institutionen wie Opferverbänden, Kirchen, Strafverfolgungsbehörden, Fachverbänden, Ausbildungsstellen usw., und nicht zuletzt auch den Organen der Bundesregierung, zur Kenntnis. Ansätze dazu sind vorhanden und haben zu ersten Konsequenzen geführt.
In der öffentlichen Diskussion zu falschen Erinnerungen an sexuellen Missbrauch stößt man immer wieder auf die Behauptung, es handele sich um einen Trick von Kinderschändern, ihrer Verfolgung zu entkommen. Nichts könnte von der Wahrheit weiter entfernt sein. Nur weil es so viel wirklichen Kindesmissbrauch gibt, konnte sich eine psychotherapeutische Arbeitsrichtung entwickeln, die im Missbrauch den Universalgrund für psychische Schwierigkeiten aller Art sieht. Der Aussagepsychologe Max Steller bezeichnet induzierte Missbrauchserinnerungen als den „Kollateralschaden“ des Kampfes gegen Kindesmissbrauch. Davon Betroffene sind demnach indirekte Opfer des tatsächlichen Kindesmissbrauchs.
An dieser Stelle soll ausdrücklich betont werden: Dieses Buch dient nicht dazu, Kindesmissbrauch zu verharmlosen oder den wirklichen Tätern eine Brücke zum Entkommen zu bieten. Aber es geht darum, zwischen berechtigten Beschuldigungen und Falschbeschuldigungen zu unterscheiden.
Ein paar Worte zum Aufbau des Buches: Es beginnt mit vier Fallgeschichten, die dem Leser zeigen, mit welchen Problemen wir es hier zu tun haben. In allen vier Fällen geht es um die therapeutische Entstehung bzw. Erzeugung falscher Erinnerungen an sexuellen Missbrauch. Das ist das eigentliche Thema dieses Buches. Es ist ein komplexes Thema. Um es zu verstehen, müssen die wichtigsten Tatsachen zu sexuellem Missbrauch, zu Gedächtnis und Erinnerungen, zur Verfälschung von Erinnerungen, zu Psychotherapeuten und -therapien, zu Suggestionen etc. bekannt sein. Deshalb werden diese Wissensgebiete systematisch in dem für das Verständnis notwendigen Umfang behandelt, bevor im Abschnitt Trauma-Erinnerungstherapien das Hauptthema des Buchs angegangen wird. Es folgt ein kurzer Abschnitt über die Institutionen, die in dem Zusammenhang dieses Buches von Bedeutung sind. Ein letzter Abschnitt ist der Wissenschaft gewidmet, ihren Arbeitsmethoden und einzelnen besonders wichtigen oder interessanten Ergebnissen.
Kurz noch ein Wort zur Zielgruppe dieses Buches: Das Buch richtet sich vor allem an diejenigen, die sich erste Informationen über das Problem falscher Erinnerungen an sexuellen Missbrauch verschaffen wollen. Wer Genaueres wissen will, kann den in diesem Buch zitierten Literaturangaben folgen. Mit Rücksicht auf die Zielgruppe werden hier wissenschaftliche Untersuchungen ohne die typischen Vorsichtsklauseln zitiert, die in der wissenschaftlichen Arbeit notwendig und wichtig sind, hier aber nur verwirren würden.
Jetzt noch zwei Klarstellungen, die für das gesamte Buch gelten:

Wenn von Therapeuten, Beschuldigten, Beschuldigern, Patienten, Rechtsanwälten, Gutachtern etc. geschrieben wird, dann sind damit immer beide Geschlechter in gleicher Weise gemeint. Das vereinfacht das Schreiben und den Text. Gelegentlich wird noch eine weitere Vereinfachung vorgenommen: Da bei der überwiegenden Mehrheit der vorliegenden Fälle falscher Erinnerungen an sexuellen Missbrauch die Väter von ihren Töchtern beschuldigt werden, werde ich manchmal einfach von Vätern und Töchtern schreiben, obwohl jede andere Geschlechtskombination ebenso vorkommt, wie auch die Beschuldigung durch Enkel, Neffen, Nichten oder Freunde der Familie.
Dieses Buch richtet sich nicht gegen die Psychotherapie als solche. Im Gegenteil: Viele, die von falschen Erinnerungen an sexuellen Missbrauch betroffen sind, sei es nun als zu Unrecht Beschuldigte oder als Therapierte, sind auf verständige Therapeuten angewiesen, um wieder eine Balance in ihrem Leben zu finden. Das Buch richtet sich ausschließlich gegen die therapeutische Arbeitsweise, die im vorliegenden Text als Trauma-Erinnerungstherapie bezeichnet wird.

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