Das Leben eines Paketzustellers

Das Leben eines Paketzustellers

Clid Overdrive


EUR 20,90
EUR 12,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 100
ISBN: 978-3-903067-94-3
Erscheinungsdatum: 28.09.2016

Leseprobe:

Ich war 16 Jahre alt und hatte nach der Hauptschule die Schnauze voll, mir von Lehrern und Eltern immer wieder sagen zu lassen: „Junge, lerne einen Beruf für dein Leben.“ Ich hielt es für besser, sofort Geld zu verdienen. So zog ich durch unseren Ort in die ansässigen Betriebe und suchte mir einen gut bezahlten Job. In einem Betrieb bot man mir eine Arbeit an, die ich sofort annahm. Ich musste Handreichungen für einen Arbeiter an einer Maschine machen. Am Ende der Schicht musste ich alle Arbeitsplätze peinlichst sauber machen. Morgens musste ich für alle Mitarbeiter in einer nahe gelegenen Metzgerei das Frühstück einkaufen.
Als ich am dritten Morgen vom Einkaufen zurück war, bekam ich das erste ernsthafte Problem in meinem jungen Leben. Die Arbeiter dieser Firma ließen mich sozusagen ins offene Messer laufen. Beim ersten hatte ich angeblich nicht gebracht, was ich sollte, ein anderer behauptete, dass ich ihm zu wenig Wechselgeld zurückgegeben hatte. Obwohl ich mir bei jedem Mitarbeiter Notizen gemacht hatte, was er bestellt hatte und wie viel Geld ich dafür mitbekommen hatte, gab es eine heftige Diskussion zwischen mir und einem Kollegen. Zum Schluss dieser Diskussion musste ich mir noch den Spruch reinziehen: „Hättest du einen Beruf erlernt, könntest du heute rechnen.“ Diese Bemerkung traf mich sehr und ich wusste, dass ich dort als Loser behandelt wurde. Der „betrogene“ Mitarbeiter pochte auf die Auszahlung des angeblich fehlenden Wechselgeldes. Am Ende dieser Aktion hatte ich einen Verlust von über fünf Euro gemacht. Da ich mit keinem Cent in der Tasche vor Ort war, wusste ich nun nicht, wie ich diese vermeintlichen Schulden bezahlen sollte.
Als ich einige Zeit später dem Abteilungsmeister begegnete, fragte dieser: „Na, kommst du zurecht?“ Nachdem ich ihm über meinen Verlust beim Frühstückseinkauf berichtet hatte, meinte dieser, dass dies eine normale Reaktion zwischen Facharbeitern und Hilfskräften sei. Als ich den Meister fragte, wie ich nun wieder zu meinen verlorenen Moneten kommen könnte, meinte dieser: „Benutze deinen Geist dafür.“ Mir fiel hierzu spontan natürlich nichts ein. Der Schock dieses Erlebnisses saß bei mir so tief, dass ich mich kaum noch konzentrieren konnte.

Von dieser ersten Schicht nach Hause gekommen, bemerkte mein Vater sofort, dass ich ein Problem am Hals hatte. Als dieser mich zur Rede stellte, schüttete ich ihm mein Herz aus. Ich bekam die gleiche Antwort wie auf der Arbeit: „Hättest du eine Lehre angefangen, wäre dir das nicht passiert.“ Er als gelernter Kaufmann wusste wahrscheinlich, dass man mit solchen Tricks ungelernten Arbeitskräften einen Denkzettel verpasste. Widerwillig gab er mir die Schuldensumme, die ich dem Mitarbeiter im Betrieb am nächsten Morgen zähneknirschend abdrücken musste.

Nachdem ich am nächsten Vormittag die angebliche Differenzsumme übergeben hatte, besaß dieser auch noch die Frechheit, eine neue Frühstücksbestellung bei mir aufzugeben. Ich gab ihm zu verstehen, dass mir sein tägliches Frühstück zu teuer würde. Dieser stellte seine Maschine ab und ging zu einem Kollegen, mit dem er eine Zeit lang sprach. Kurz darauf stand der Meister bei den beiden und führte mit diesen wohl ein ernsthaftes Gespräch. Der Maschinenführer, dem ich den Frühstückseinkauf verweigert hatte, ging mit hängenden Ohren zu seiner Maschine zurück und nahm seine Arbeit wieder auf. Während ich bei den übrigen Mitarbeitern die Frühstücksbestellung aufnahm, stand plötzlich der Meister neben mir und sagte: „Dein Freund, den du gestern angeblich beschissen hast, ist ziemlich sauer auf dich! Deine Reaktion kann ich allerdings verstehen. Ich hätte ihn sogar auf eine brutalere Art und Weise abblitzen lassen. Ich hätte ihm sein heutiges Frühstück so richtig vermiest!“
„Wie denn?“, fragte ich den Meister.
Dieser gab mir nur zur Antwort: „Da musst du selber draufkommen.“
Ich machte meine Runde mit der Frühstücksbestellung fertig und begab mich zum Metzger. Nachdem ich alles zusammenhatte, ging ich zur Firma zurück, um den hungrigen Löwen ihr Frühstück zu servieren.
Einer der Mitarbeiter sagte mir, dass ich mich vor dem Kollegen, dem ich an diesem Tag das Frühstück verweigert hatte, in Acht nehmen solle. „Der Typ geht mit dir bis zum Äußersten. Der hat in diesem Betrieb viele Mitarbeiter auf seiner Seite, die nun nichts unversucht lassen, dich fertigzumachen. Dieses Spiel hat der schon vor deiner Zeit mit anderen Hilfskräften erfolgreich durchgezogen.“
Ich dankte ihm für den Hinweis und entgegnete: „Ich habe mich schon darauf eingestellt, dass ich in diesem Betrieb in Zukunft nichts mehr zu lachen habe. Ich habe diese Arbeit angefangen, um Kohle zu verdienen, wie ihr auch, aber nicht um asoziale Geschöpfe durchzufüttern.“
Der Mitarbeiter antwortete nur: „Sieh dich vor, die werden nicht lockerlassen, dich fertigzumachen.“
Ich nahm mir seine Aussage zu Herzen, und es kam, wie es kommen musste. Bereits einige Tage später hatte dieser psychisch gestörte Denunziant mich durch intrigante Maßnahmen beim Meister angeschwärzt. Auch machte er mich im Betrieb zum Gespött bei der gesamten Belegschaft. Nach einigen Wochen hielt ich diesen täglich steigenden Druck nicht mehr aus und verließ diese Arbeitsstelle. Ich begab mich wieder auf die Suche nach einem neuen Job mit guten Verdienstmöglichkeiten.

Doch auch bei anderen Firmen wurde ich nur als Loser behandelt und gehänselt. Meine Eltern nervten mich bis zu meinem 18. Lebensjahr mit dem Vorwurf: „Aus dir wird wohl nichts mehr in diesem Leben!“ Kurz vor der Vollendung meines 18. Lebensjahres fand ich in einer Zeitungsannonce die für mich ultimative Arbeitsstelle. Ein Unternehmen suchte per sofort Kraftfahrer „für leichte Tätigkeit bei guten Verdienstmöglichkeiten“. Das war für mich das, was ich gesucht hatte. Einen Job mit einem Fahrzeug unterwegs und keiner nervte mich.
Ich ging mit dieser Annonce zu meinem Vater, der mir gleich die Frage stellte: „Wie willst du ohne Führerschein einen solchen Job annehmen?“
Ich widersprach ihm damit, dass ich den Führerschein schnellstmöglich machen würde und es bestimmt auch noch später die Möglichkeit gäbe, in dieser Branche einen Job zu bekommen.
Mein Vater hatte sich Bedenkzeit erbeten und eine Rücksprache mit meiner Mutter eingeräumt, die schon seit längerer Zeit meine Zukunft abgeschrieben hatte. Nach einigen Tagen teilten mir meine Eltern ihre Sichtweise mit. Sie boten mir an, das Geld für den Führerschein vorzustrecken. Bedingung wäre allerdings eine spätere Rückzahlung in Raten. Ich war voll begeistert und machte auch innerhalb von sechs Monaten den heiß begehrten Führerschein. Als ich ihn in meinen Händen hielt, begab ich mich voller Stolz zu meinen Eltern und sagte, dass mir nun die Welt zu Füßen liege. Ich blätterte ab diesem Zeitpunkt in allen verfügbaren Zeitungen, um einen Job zu finden, für den man den Führerschein brauchte. Wie durch Zufall suchte der gleiche Unternehmer wie vor einigen Monaten noch einen Fahrer für Kurierdienste. Durch die Telefonnummer in der Annonce kam es auch einen Tag später zu einem Gespräch mit dem Chef des Transportunternehmens. Er erklärte mir, um was es sich bei dieser Arbeit handelte und was ich dabei verdienen konnte. Arbeitsbeginn wäre morgens um fünf Uhr.

Am nächsten Morgen Punkt fünf stand ich bei einem Paketdienst in einer Halle mit einem endlos erscheinenden Förderband. Hier musste ich den Fahrer suchen, dessen Tour ich übernehmen sollte. Nach einigem Herumfragen fand ich ihn an dem langen Strang. Ich stellte mich ihm vor und sagte ihm, dass mich unser Chef geschickt hatte, um diese Tour kennenzulernen.
Der Fahrer sagte: „Okay, dann stell dich hier neben mich ans Band und schau dir alles genau an.“
Ich hatte das Gefühl, dass zehntausende Pakete über dieses Band liefen. Wir mussten dort die für unsere spätere Fahrtroute bestimmten Pakete abheben und die Adressen und Paketnummern einscannen. Nach dem Einscannen des Packstückes musste dieses in einer Sammelbox, die sich direkt hinter dem Fließband befand, auf einem nach Tourenverlauf bestimmten Platz abgestellt werden. Diese Box war circa 20 Quadratmeter groß und sollte Platz bieten für über 200 Pakete. Mein Einweiser zog ein Paket nach dem anderen vom Fließband, musste diese einscannen und in der Box auf einen vorbestimmten Platz einsortieren. Zwischendurch wurden von anderen Fahrern, die links, rechts und gegenüber vom Fließband standen, Pakete, die für unsere Tour bestimmt waren, in unsere Box geschoben. Das gleiche Spiel ging auch umgekehrt. Dieses System funktionierte nur in einer Symbiose, obwohl die anderen Fahrer um einen herum von konkurrierenden Unternehmen waren. Nach zwei- bis dreistündigem Abheben, Scannen und Sortieren begann dann die Verladung der Pakete ins Fahrzeug, das am anderen Ende des Fließbandes und der Sammelbox an einer Rampe stand, die niveaugleich mit der Ladefläche des Fahrzeuges war. Nun mussten die Pakete, die entgegen der Richtung der Fahrtroute nach Zielort sortiert in der Box abgestellt worden waren, geladen werden. Dies erforderte selbstverständlich hundertprozentige Kenntnis der Tourenroute. Während des Ladeprozesses kam dann noch ein Bandleiter des Paketdepots vorbei und verteilte Express-Pakete für die zuständigen Touren. Hierbei handelte es sich um Sendungen, die bis zehn, 12 oder 18 Uhr zugestellt werden mussten. Zusätzlich, berichtete mir mein Einweiser, müssten während des Tourenverlaufs noch Abholkunden bedient werden, die ebenfalls termingebunden seien. Ich dachte mir dabei nichts Schlimmes, schließlich hatte mein Einweiser diese Tour selbst gefahren. Warum, um alles in der Welt, sollte ich das nach einer Einweisungszeit nicht auch schaffen? Nach dem Ladevorgang mussten wir an einen Schalter im Depot fahren, um Anfahrtsliste, Quittungen für Nachnahmepakete und Gefahrgut-Papiere abzuholen.
Nachdem mein Einweiser die notwendigen Papiere empfangen hatte, ging es um fast neun Uhr endlich zur eigentlichen Tätigkeit über. Wir hatten circa 50 Kilometer Autobahn vor uns, bis wir nach einigen Kilometern über Land zum ersten Ort unserer Auslieferungstour kommen würden.
Um 9:35 Uhr beim ersten Stopp am Ende einer Seitenstraße angekommen, erlebten wir die erste Enttäuschung. Ein größeres Packstück, das für die erste Abladestelle vorgesehen war, konnte wegen „Nichtvorhandensein des Empfängers“ nicht zugestellt werden. Eine Paketinformation für den Adressaten des Packstückes musste nun geschrieben und gescannt werden und in den Briefkasten geworfen werden. Zusätzlich musste man einen Paketaufkleber auf dem Paket anbringen und darauf eine Position ankreuzen, warum das Paket nicht zustellfähig war.
Nun ging es weiter zum nächsten Kunden. Hier gab es eine positive Überraschung. Dieser, wahrscheinlich ein Stammkunde, hatte dem Depot einen „Garagenvertrag“ erteilt, das hieß, wir durften alle Paketsendungen an einem vereinbarten Platz abstellen, ohne den Kunden mit unserer Anwesenheit zu belästigen. Eine Paketinfo im Briefkasten zeigte dem Empfänger an, dass ich eine Paketsendung an einem vereinbarten Ort rund ums Haus abgestellt hatte. Solch eine Zustellung war ein „Highlight“ für einen Zusteller, da die Zeit bekanntlich nicht stehen blieb.
Ich sagte zu meinem Einweiser: „Jetzt haben wir den Faden gefunden, nun läuft’s.“
Dieser schaute mich nur an und erwiderte: „Lassen wir’s auf uns zukommen. Job hier gut und schnell erledigt, fahren wir weiter zum nächsten Kunden.“
Dieser war ein gewerblicher Paketempfänger inmitten des Ortes. Hier kamen mehrere Pakete vom Fahrzeug. Jeder von uns beiden war mit einem größeren Paket bewaffnet und wir traten ein in das Bekleidungsgeschäft, grüßten das Personal, an dem wir vorbeigingen, und hörten aus dem Hintergrund eine etwas forsch klingende Stimme: „Die Pakete kommen wie immer nach hinten ins Lager.“
Ich dachte mir: „Vom Fahrzeug, das vor dem Ladengeschäft geparkt ist, bis zu dem Lagerraum sind es gute 50 Meter. Wenn ich dies allein machen muss, muss ich für alle Pakete bis zu sieben Mal vom Transporter bis ins Lager laufen.“ Beim Rein- und Rauslaufen fragte ich meinen Einweiser: „Warum benützen wir nicht die mitgeführte Transportkarre?“
Mein Einweiser erklärte mir: „Frage die forsche Stimme, die uns beim ersten Betreten des Ladenlokals, ohne unseren Gruß zu erwidern, die Richtung vorgegeben hat!“
Bei der nächsten Runde Paketeschleppen stand die forsche Stimme zufällig in unserer Marschrichtung bei einer Kundin. Ich erkannte sie nur an ihrem elitären Klang und passte einen Moment ab, in dem sie mal nichts sagte. Ich stellte mich vor sie, mit der Absicht sie anzusprechen. Bevor ich das Wort ergreifen konnte, schnauzte sie mich schon mit den Worten an: „Haben Sie ein Problem?“
Ich sagte: „Ja, ich habe ein Problem mit der Zustellung Ihrer Pakete. Wir haben eine Transportkarre im Fahrzeug, um uns die Arbeit zu erleichtern, und ich frage mich, warum wir diese hier nicht zum Einsatz bringen können.“
Die elitäre Stimme fragte mich: „Wer sind Sie denn?“
Ich sagte ihr, dass ich ihr zukünftiger Zusteller sei.
Daraufhin erklärte sie mir: „Sie sind hier in einer renommierten und exklusiven Modeboutique. Der Fußboden ist mit hochwertigem Bodenbelag ausgelegt. Sie glauben doch nicht, dass Sie mit Ihrer Transportkarre mit verschmutzten Rädern so einfach hier durchrollen können?“
Trotz dieses Anschiss erlaubte ich mir eine weitere Frage: „Haben Sie keine andere Anlieferungsmöglichkeit?“ Nun wurde die forsche Stimme zum Megafon: „Wenn Sie zu faul sind zum Arbeiten, dann suchen Sie sich einen anderen Job, für diesen sind Sie ja wohl nicht geeignet.“ Die Kundin, die noch dabeistand, grinste mir dabei frech ins Gesicht.
Mit hängenden Ohren verließ ich das Geschäft und begab mich zu unserem Fahrzeug. Mein Einweiser, der bereits alle Formalitäten mit einer Mitarbeiterin erledigt hatte, erwartete mich schon und fragte grinsend: „Na, hattest du Erfolg bei dem Rendezvous mit meiner Busenfreundin?“
Ich sagte zu ihm: „Wenn ich diese Tour übernehme, kann mich diese arrogante Pute kennenlernen“, und fragte ihn: „Gibt es noch mehr solcher hochnäsiger Kunden?“
Er erwiderte nur: „Wie man’s nimmt.“
Wir fuhren weiter zum nächsten Kunden in der gleichen Straße, ebenfalls ein Gewerbetreibender. Mir graute schon jetzt vor dessen arroganten Anweisungen und Sprüchen. Mein Einweiser fuhr von der Hauptstraße ab in eine Seitengasse an eine Stahltür mit der Aufschrift „Warenannahme der Firma …“. Neben der Tür befand sich eine Klingel, die ich drückte. Keine Minute später öffnete sich die Tür, eine bildhübsche Frau stand uns gegenüber mit einem Lächeln im Gesicht und fragte: „Hallo, Jungs, bringt ihr mir wieder Arbeit?“
Ich sagte ihr, von ihrer total positiven Ausstrahlung überrascht: „Ja, leider bringen wir nur Arbeit, ich würde lieber was anderes mit Ihnen unternehmen!“
Sie antwortete lächelnd: „Leider müssen wir unsere Chefs reich machen und haben nur noch wenig Zeit für die Annehmlichkeiten des Lebens.“
Ich sagte nur enttäuscht: „Ja, ja, Hauptsache unseren Chefs geht’s gut.“
Mein Einweiser schubste mich an und raunte: „Wir müssen weiter, wenn wir noch alle Kunden bedienen wollen.“
Diese Begegnung baute mich für den Rest des Tages wieder auf nach der Standpauke zuvor von der „Modetussi“. Am liebsten wäre ich dort geblieben und hätte den Rest des Tages mit diesem positiv eingestellten Fräulein verbracht.
Doch mein Einweiser riss mich schnell wieder aus diesem Traum heraus. „Weiter geht’s“, sprach dieser.
Wir fuhren weiter zu den nächsten Kunden, die wir mehr oder weniger antrafen. Es lief fast wie an einem Fließband. Kunde angetroffen, Paket gescannt und Unterschrift von Kunde auf Scanner eingeholt, Paket übergeben und Tschüss. Oder Kunde nicht angetroffen und in der Nachbarschaft versucht das Paket an den Mann zu bringen. Bei Erfolg eine Info in den Briefkasten des eigentlichen Empfängers geworfen, welcher Nachbar das Paket entgegengenommen hatte. Nach vielen unzähligen Kunden bemerkte ich ein unangenehmes Gefühl in meiner Bauchhöhle. Ich hatte Hunger. Ich wunderte mich, dass mein Einweiser diesbezüglich noch nichts von sich hören ließ. Ich dachte mir: „Warte noch ein Weilchen, er ist wie ich ein Mensch aus Fleisch und Blut, der auch irgendwann mal was essen muss, um diese körperliche Schwerstarbeit zu schaffen.“ Doch als in der Ortschaft, in der wir uns gerade befanden, die Kirchturmuhr zwölfmal läutete, fragte ich meinen Einweiser: „Wann machen wir eigentlich Mittag und wo bekommen wir eine warme Mahlzeit?“
Der schaute mich von der Seite an und sprach: „Du hast in deinem Leben wohl noch nie einen solchen Job gemacht!“
Ich antwortete ihm, dass ich schon einige Jobs gemacht hatte, aber immer eine Mittagspause von mindestens 30 Minuten gehabt hätte. Daraufhin entgegnete der Fahrer: „Eine Mittagspause kannst du bei diesem Job vergessen, sonst schaffst du die Tour nicht.“
Ich sagte: „Ich wäre ja schon mit einem Imbiss zufrieden, aber ohne eine warme Mahlzeit überstehe ich den langen Tag nicht.“
In dem Ort, in dem wir uns gerade befanden, gab es eine Imbissbude. „Da kannst du dir was Essbares besorgen“, sagte mein Kollege. „Dies ist aber nur möglich, weil wir zu zweit sind und so beim Abladen Zeit gewinnen.“
Ich fragte ihn, ob er den ganzen Tag ohne etwas Essbares über die Runden käme. Er antwortete: „Ich frühstücke morgens nach dem Aufstehen um 3:30 Uhr während dem Anziehen. Ich habe immer eine Kanne Kaffee mit auf der Tour, damit ich nicht einschlafe. Am schlimmsten ist die monotone Rückfahrt über die Autobahn bis zum Depot. Bei dieser Fahrt hatte ich zu Beginn dieses Jobs große Probleme, die Augen auf zu halten.“ Ich unterbrach ihn in seinem Redefluss und fragte, wann wir an der Imbissbude wären. Er sagte: „Nach der nächsten Kurve sind wir da.“
Endlich an der Imbissbude angekommen, konnte ich es nicht erwarten, etwas Essbares zu erhaschen. Am liebsten hätte ich ein Schnitzel mit Fritten und Salat bestellt, doch mein Fahrer sagte: „Übertreibe es nicht, mit einem Wurstweck ist es auch getan. Den kannst du während der Fahrt zwischen den Abladestellen vertilgen.“ Ich fragte ihn, ob er sich nichts zum Essen hole. Die Antwort war: „Nein, wenn ich heute etwas um diese Uhrzeit esse, verlangt mein Körper das gleiche Recht in Zukunft täglich! Von den 1.500 Euro netto im Monat kann ich mir das bei den hohen Mietkosten meiner 65-Quadratmeter-Wohnung plus Nebenkosten nicht erlauben. Ich esse nach Feierabend mit meiner Familie zusammen eine warme Mahlzeit.“
Ich dachte mir: „Wie hält man diese körperliche Anstrengung ohne Nahrung den ganzen Tag durch?“ Nachdem ich mit meinem Bockwurstweck ins Fahrzeug eingestiegen war und wir weiterfuhren, bemerkte ich, dass mein „Chauffeur“ mit mir im Geiste mitgespeist hatte. Ich spürte, dass er auch gerne etwas gegessen hätte, und sagte zu ihm: „Ich hätte dir einen Wurstweck spendiert.“
Er antwortete nicht darauf, obwohl ich das Gefühl hatte, er hätte das Angebot gerne angenommen.
Beim nächsten Kunden angekommen, legte ich mein Mittagessen auf dem Sitz neben mir ab und wir stiegen aus, um die nächste Paketsendung abzuladen. Nachdem wir das Paket des Kunden vom Fahrzeug genommen hatten, marschierten wir zu dessen Haus und drückten die Klingel. Nach einiger Zeit – mir kam es vor wie eine Ewigkeit – öffnete sich die Tür und der Paketempfänger dröhnte gleich los: „Kein Wunder, dass die Transportkosten beim Paketdienst so hoch sind, wenn ihr gleich mit einer ganzen Armee hier anrückt, nur um ein Päckchen zuzustellen!“ Ich versuchte den Kunden zu beruhigen, indem ich ihm erklärte, dass ich ein neuer Zusteller in diesem Bezirk würde und in der Anlernphase wäre. Mürrisch setzte er seine unleserliche Unterschrift auf den Scanner, riss das Paket aus meiner Hand und schlug mir seine Haustür vor der Nase zu. Ich dachte mir: „Ist ja seine Haustür, die er in seiner Wut zerstört.“ Mein Einweiser sagte hinterher zu mir: „Das war der Herr General.“ Ich fragte ihn, ob er mich verkohlen wolle. Er erwiderte: „Nein, der Mensch war früher wirklich General in der Armee. Ich habe ihn immer mit ‚Herr General‘ angesprochen, dann ist er am friedlichsten. Bei mir ist er der General Zack-Zack! Wahrscheinlich erwartet er eine militärische Übergabe bei der Paketzustellung, wie zum Beispiel: Guten Morgen, Herr General, habe eine wichtige Mitteilung zu Ihren Händen.“
Ich fing zum ersten Mal für heute lauthals an zu lachen und sagte zu meinem Einweiser: „Das fängt ja langsam an, richtig Spaß zu machen.“ Dieser schaute mich nur verwundert an und fuhr weiter zum nächsten Kunden.

Ich war 16 Jahre alt und hatte nach der Hauptschule die Schnauze voll, mir von Lehrern und Eltern immer wieder sagen zu lassen: „Junge, lerne einen Beruf für dein Leben.“ Ich hielt es für besser, sofort Geld zu verdienen. So zog ich durch unseren Ort in die ansässigen Betriebe und suchte mir einen gut bezahlten Job. In einem Betrieb bot man mir eine Arbeit an, die ich sofort annahm. Ich musste Handreichungen für einen Arbeiter an einer Maschine machen. Am Ende der Schicht musste ich alle Arbeitsplätze peinlichst sauber machen. Morgens musste ich für alle Mitarbeiter in einer nahe gelegenen Metzgerei das Frühstück einkaufen.
Als ich am dritten Morgen vom Einkaufen zurück war, bekam ich das erste ernsthafte Problem in meinem jungen Leben. Die Arbeiter dieser Firma ließen mich sozusagen ins offene Messer laufen. Beim ersten hatte ich angeblich nicht gebracht, was ich sollte, ein anderer behauptete, dass ich ihm zu wenig Wechselgeld zurückgegeben hatte. Obwohl ich mir bei jedem Mitarbeiter Notizen gemacht hatte, was er bestellt hatte und wie viel Geld ich dafür mitbekommen hatte, gab es eine heftige Diskussion zwischen mir und einem Kollegen. Zum Schluss dieser Diskussion musste ich mir noch den Spruch reinziehen: „Hättest du einen Beruf erlernt, könntest du heute rechnen.“ Diese Bemerkung traf mich sehr und ich wusste, dass ich dort als Loser behandelt wurde. Der „betrogene“ Mitarbeiter pochte auf die Auszahlung des angeblich fehlenden Wechselgeldes. Am Ende dieser Aktion hatte ich einen Verlust von über fünf Euro gemacht. Da ich mit keinem Cent in der Tasche vor Ort war, wusste ich nun nicht, wie ich diese vermeintlichen Schulden bezahlen sollte.
Als ich einige Zeit später dem Abteilungsmeister begegnete, fragte dieser: „Na, kommst du zurecht?“ Nachdem ich ihm über meinen Verlust beim Frühstückseinkauf berichtet hatte, meinte dieser, dass dies eine normale Reaktion zwischen Facharbeitern und Hilfskräften sei. Als ich den Meister fragte, wie ich nun wieder zu meinen verlorenen Moneten kommen könnte, meinte dieser: „Benutze deinen Geist dafür.“ Mir fiel hierzu spontan natürlich nichts ein. Der Schock dieses Erlebnisses saß bei mir so tief, dass ich mich kaum noch konzentrieren konnte.

Von dieser ersten Schicht nach Hause gekommen, bemerkte mein Vater sofort, dass ich ein Problem am Hals hatte. Als dieser mich zur Rede stellte, schüttete ich ihm mein Herz aus. Ich bekam die gleiche Antwort wie auf der Arbeit: „Hättest du eine Lehre angefangen, wäre dir das nicht passiert.“ Er als gelernter Kaufmann wusste wahrscheinlich, dass man mit solchen Tricks ungelernten Arbeitskräften einen Denkzettel verpasste. Widerwillig gab er mir die Schuldensumme, die ich dem Mitarbeiter im Betrieb am nächsten Morgen zähneknirschend abdrücken musste.

Nachdem ich am nächsten Vormittag die angebliche Differenzsumme übergeben hatte, besaß dieser auch noch die Frechheit, eine neue Frühstücksbestellung bei mir aufzugeben. Ich gab ihm zu verstehen, dass mir sein tägliches Frühstück zu teuer würde. Dieser stellte seine Maschine ab und ging zu einem Kollegen, mit dem er eine Zeit lang sprach. Kurz darauf stand der Meister bei den beiden und führte mit diesen wohl ein ernsthaftes Gespräch. Der Maschinenführer, dem ich den Frühstückseinkauf verweigert hatte, ging mit hängenden Ohren zu seiner Maschine zurück und nahm seine Arbeit wieder auf. Während ich bei den übrigen Mitarbeitern die Frühstücksbestellung aufnahm, stand plötzlich der Meister neben mir und sagte: „Dein Freund, den du gestern angeblich beschissen hast, ist ziemlich sauer auf dich! Deine Reaktion kann ich allerdings verstehen. Ich hätte ihn sogar auf eine brutalere Art und Weise abblitzen lassen. Ich hätte ihm sein heutiges Frühstück so richtig vermiest!“
„Wie denn?“, fragte ich den Meister.
Dieser gab mir nur zur Antwort: „Da musst du selber draufkommen.“
Ich machte meine Runde mit der Frühstücksbestellung fertig und begab mich zum Metzger. Nachdem ich alles zusammenhatte, ging ich zur Firma zurück, um den hungrigen Löwen ihr Frühstück zu servieren.
Einer der Mitarbeiter sagte mir, dass ich mich vor dem Kollegen, dem ich an diesem Tag das Frühstück verweigert hatte, in Acht nehmen solle. „Der Typ geht mit dir bis zum Äußersten. Der hat in diesem Betrieb viele Mitarbeiter auf seiner Seite, die nun nichts unversucht lassen, dich fertigzumachen. Dieses Spiel hat der schon vor deiner Zeit mit anderen Hilfskräften erfolgreich durchgezogen.“
Ich dankte ihm für den Hinweis und entgegnete: „Ich habe mich schon darauf eingestellt, dass ich in diesem Betrieb in Zukunft nichts mehr zu lachen habe. Ich habe diese Arbeit angefangen, um Kohle zu verdienen, wie ihr auch, aber nicht um asoziale Geschöpfe durchzufüttern.“
Der Mitarbeiter antwortete nur: „Sieh dich vor, die werden nicht lockerlassen, dich fertigzumachen.“
Ich nahm mir seine Aussage zu Herzen, und es kam, wie es kommen musste. Bereits einige Tage später hatte dieser psychisch gestörte Denunziant mich durch intrigante Maßnahmen beim Meister angeschwärzt. Auch machte er mich im Betrieb zum Gespött bei der gesamten Belegschaft. Nach einigen Wochen hielt ich diesen täglich steigenden Druck nicht mehr aus und verließ diese Arbeitsstelle. Ich begab mich wieder auf die Suche nach einem neuen Job mit guten Verdienstmöglichkeiten.

Doch auch bei anderen Firmen wurde ich nur als Loser behandelt und gehänselt. Meine Eltern nervten mich bis zu meinem 18. Lebensjahr mit dem Vorwurf: „Aus dir wird wohl nichts mehr in diesem Leben!“ Kurz vor der Vollendung meines 18. Lebensjahres fand ich in einer Zeitungsannonce die für mich ultimative Arbeitsstelle. Ein Unternehmen suchte per sofort Kraftfahrer „für leichte Tätigkeit bei guten Verdienstmöglichkeiten“. Das war für mich das, was ich gesucht hatte. Einen Job mit einem Fahrzeug unterwegs und keiner nervte mich.
Ich ging mit dieser Annonce zu meinem Vater, der mir gleich die Frage stellte: „Wie willst du ohne Führerschein einen solchen Job annehmen?“
Ich widersprach ihm damit, dass ich den Führerschein schnellstmöglich machen würde und es bestimmt auch noch später die Möglichkeit gäbe, in dieser Branche einen Job zu bekommen.
Mein Vater hatte sich Bedenkzeit erbeten und eine Rücksprache mit meiner Mutter eingeräumt, die schon seit längerer Zeit meine Zukunft abgeschrieben hatte. Nach einigen Tagen teilten mir meine Eltern ihre Sichtweise mit. Sie boten mir an, das Geld für den Führerschein vorzustrecken. Bedingung wäre allerdings eine spätere Rückzahlung in Raten. Ich war voll begeistert und machte auch innerhalb von sechs Monaten den heiß begehrten Führerschein. Als ich ihn in meinen Händen hielt, begab ich mich voller Stolz zu meinen Eltern und sagte, dass mir nun die Welt zu Füßen liege. Ich blätterte ab diesem Zeitpunkt in allen verfügbaren Zeitungen, um einen Job zu finden, für den man den Führerschein brauchte. Wie durch Zufall suchte der gleiche Unternehmer wie vor einigen Monaten noch einen Fahrer für Kurierdienste. Durch die Telefonnummer in der Annonce kam es auch einen Tag später zu einem Gespräch mit dem Chef des Transportunternehmens. Er erklärte mir, um was es sich bei dieser Arbeit handelte und was ich dabei verdienen konnte. Arbeitsbeginn wäre morgens um fünf Uhr.

Am nächsten Morgen Punkt fünf stand ich bei einem Paketdienst in einer Halle mit einem endlos erscheinenden Förderband. Hier musste ich den Fahrer suchen, dessen Tour ich übernehmen sollte. Nach einigem Herumfragen fand ich ihn an dem langen Strang. Ich stellte mich ihm vor und sagte ihm, dass mich unser Chef geschickt hatte, um diese Tour kennenzulernen.
Der Fahrer sagte: „Okay, dann stell dich hier neben mich ans Band und schau dir alles genau an.“
Ich hatte das Gefühl, dass zehntausende Pakete über dieses Band liefen. Wir mussten dort die für unsere spätere Fahrtroute bestimmten Pakete abheben und die Adressen und Paketnummern einscannen. Nach dem Einscannen des Packstückes musste dieses in einer Sammelbox, die sich direkt hinter dem Fließband befand, auf einem nach Tourenverlauf bestimmten Platz abgestellt werden. Diese Box war circa 20 Quadratmeter groß und sollte Platz bieten für über 200 Pakete. Mein Einweiser zog ein Paket nach dem anderen vom Fließband, musste diese einscannen und in der Box auf einen vorbestimmten Platz einsortieren. Zwischendurch wurden von anderen Fahrern, die links, rechts und gegenüber vom Fließband standen, Pakete, die für unsere Tour bestimmt waren, in unsere Box geschoben. Das gleiche Spiel ging auch umgekehrt. Dieses System funktionierte nur in einer Symbiose, obwohl die anderen Fahrer um einen herum von konkurrierenden Unternehmen waren. Nach zwei- bis dreistündigem Abheben, Scannen und Sortieren begann dann die Verladung der Pakete ins Fahrzeug, das am anderen Ende des Fließbandes und der Sammelbox an einer Rampe stand, die niveaugleich mit der Ladefläche des Fahrzeuges war. Nun mussten die Pakete, die entgegen der Richtung der Fahrtroute nach Zielort sortiert in der Box abgestellt worden waren, geladen werden. Dies erforderte selbstverständlich hundertprozentige Kenntnis der Tourenroute. Während des Ladeprozesses kam dann noch ein Bandleiter des Paketdepots vorbei und verteilte Express-Pakete für die zuständigen Touren. Hierbei handelte es sich um Sendungen, die bis zehn, 12 oder 18 Uhr zugestellt werden mussten. Zusätzlich, berichtete mir mein Einweiser, müssten während des Tourenverlaufs noch Abholkunden bedient werden, die ebenfalls termingebunden seien. Ich dachte mir dabei nichts Schlimmes, schließlich hatte mein Einweiser diese Tour selbst gefahren. Warum, um alles in der Welt, sollte ich das nach einer Einweisungszeit nicht auch schaffen? Nach dem Ladevorgang mussten wir an einen Schalter im Depot fahren, um Anfahrtsliste, Quittungen für Nachnahmepakete und Gefahrgut-Papiere abzuholen.
Nachdem mein Einweiser die notwendigen Papiere empfangen hatte, ging es um fast neun Uhr endlich zur eigentlichen Tätigkeit über. Wir hatten circa 50 Kilometer Autobahn vor uns, bis wir nach einigen Kilometern über Land zum ersten Ort unserer Auslieferungstour kommen würden.
Um 9:35 Uhr beim ersten Stopp am Ende einer Seitenstraße angekommen, erlebten wir die erste Enttäuschung. Ein größeres Packstück, das für die erste Abladestelle vorgesehen war, konnte wegen „Nichtvorhandensein des Empfängers“ nicht zugestellt werden. Eine Paketinformation für den Adressaten des Packstückes musste nun geschrieben und gescannt werden und in den Briefkasten geworfen werden. Zusätzlich musste man einen Paketaufkleber auf dem Paket anbringen und darauf eine Position ankreuzen, warum das Paket nicht zustellfähig war.
Nun ging es weiter zum nächsten Kunden. Hier gab es eine positive Überraschung. Dieser, wahrscheinlich ein Stammkunde, hatte dem Depot einen „Garagenvertrag“ erteilt, das hieß, wir durften alle Paketsendungen an einem vereinbarten Platz abstellen, ohne den Kunden mit unserer Anwesenheit zu belästigen. Eine Paketinfo im Briefkasten zeigte dem Empfänger an, dass ich eine Paketsendung an einem vereinbarten Ort rund ums Haus abgestellt hatte. Solch eine Zustellung war ein „Highlight“ für einen Zusteller, da die Zeit bekanntlich nicht stehen blieb.
Ich sagte zu meinem Einweiser: „Jetzt haben wir den Faden gefunden, nun läuft’s.“
Dieser schaute mich nur an und erwiderte: „Lassen wir’s auf uns zukommen. Job hier gut und schnell erledigt, fahren wir weiter zum nächsten Kunden.“
Dieser war ein gewerblicher Paketempfänger inmitten des Ortes. Hier kamen mehrere Pakete vom Fahrzeug. Jeder von uns beiden war mit einem größeren Paket bewaffnet und wir traten ein in das Bekleidungsgeschäft, grüßten das Personal, an dem wir vorbeigingen, und hörten aus dem Hintergrund eine etwas forsch klingende Stimme: „Die Pakete kommen wie immer nach hinten ins Lager.“
Ich dachte mir: „Vom Fahrzeug, das vor dem Ladengeschäft geparkt ist, bis zu dem Lagerraum sind es gute 50 Meter. Wenn ich dies allein machen muss, muss ich für alle Pakete bis zu sieben Mal vom Transporter bis ins Lager laufen.“ Beim Rein- und Rauslaufen fragte ich meinen Einweiser: „Warum benützen wir nicht die mitgeführte Transportkarre?“
Mein Einweiser erklärte mir: „Frage die forsche Stimme, die uns beim ersten Betreten des Ladenlokals, ohne unseren Gruß zu erwidern, die Richtung vorgegeben hat!“
Bei der nächsten Runde Paketeschleppen stand die forsche Stimme zufällig in unserer Marschrichtung bei einer Kundin. Ich erkannte sie nur an ihrem elitären Klang und passte einen Moment ab, in dem sie mal nichts sagte. Ich stellte mich vor sie, mit der Absicht sie anzusprechen. Bevor ich das Wort ergreifen konnte, schnauzte sie mich schon mit den Worten an: „Haben Sie ein Problem?“
Ich sagte: „Ja, ich habe ein Problem mit der Zustellung Ihrer Pakete. Wir haben eine Transportkarre im Fahrzeug, um uns die Arbeit zu erleichtern, und ich frage mich, warum wir diese hier nicht zum Einsatz bringen können.“
Die elitäre Stimme fragte mich: „Wer sind Sie denn?“
Ich sagte ihr, dass ich ihr zukünftiger Zusteller sei.
Daraufhin erklärte sie mir: „Sie sind hier in einer renommierten und exklusiven Modeboutique. Der Fußboden ist mit hochwertigem Bodenbelag ausgelegt. Sie glauben doch nicht, dass Sie mit Ihrer Transportkarre mit verschmutzten Rädern so einfach hier durchrollen können?“
Trotz dieses Anschiss erlaubte ich mir eine weitere Frage: „Haben Sie keine andere Anlieferungsmöglichkeit?“ Nun wurde die forsche Stimme zum Megafon: „Wenn Sie zu faul sind zum Arbeiten, dann suchen Sie sich einen anderen Job, für diesen sind Sie ja wohl nicht geeignet.“ Die Kundin, die noch dabeistand, grinste mir dabei frech ins Gesicht.
Mit hängenden Ohren verließ ich das Geschäft und begab mich zu unserem Fahrzeug. Mein Einweiser, der bereits alle Formalitäten mit einer Mitarbeiterin erledigt hatte, erwartete mich schon und fragte grinsend: „Na, hattest du Erfolg bei dem Rendezvous mit meiner Busenfreundin?“
Ich sagte zu ihm: „Wenn ich diese Tour übernehme, kann mich diese arrogante Pute kennenlernen“, und fragte ihn: „Gibt es noch mehr solcher hochnäsiger Kunden?“
Er erwiderte nur: „Wie man’s nimmt.“
Wir fuhren weiter zum nächsten Kunden in der gleichen Straße, ebenfalls ein Gewerbetreibender. Mir graute schon jetzt vor dessen arroganten Anweisungen und Sprüchen. Mein Einweiser fuhr von der Hauptstraße ab in eine Seitengasse an eine Stahltür mit der Aufschrift „Warenannahme der Firma …“. Neben der Tür befand sich eine Klingel, die ich drückte. Keine Minute später öffnete sich die Tür, eine bildhübsche Frau stand uns gegenüber mit einem Lächeln im Gesicht und fragte: „Hallo, Jungs, bringt ihr mir wieder Arbeit?“
Ich sagte ihr, von ihrer total positiven Ausstrahlung überrascht: „Ja, leider bringen wir nur Arbeit, ich würde lieber was anderes mit Ihnen unternehmen!“
Sie antwortete lächelnd: „Leider müssen wir unsere Chefs reich machen und haben nur noch wenig Zeit für die Annehmlichkeiten des Lebens.“
Ich sagte nur enttäuscht: „Ja, ja, Hauptsache unseren Chefs geht’s gut.“
Mein Einweiser schubste mich an und raunte: „Wir müssen weiter, wenn wir noch alle Kunden bedienen wollen.“
Diese Begegnung baute mich für den Rest des Tages wieder auf nach der Standpauke zuvor von der „Modetussi“. Am liebsten wäre ich dort geblieben und hätte den Rest des Tages mit diesem positiv eingestellten Fräulein verbracht.
Doch mein Einweiser riss mich schnell wieder aus diesem Traum heraus. „Weiter geht’s“, sprach dieser.
Wir fuhren weiter zu den nächsten Kunden, die wir mehr oder weniger antrafen. Es lief fast wie an einem Fließband. Kunde angetroffen, Paket gescannt und Unterschrift von Kunde auf Scanner eingeholt, Paket übergeben und Tschüss. Oder Kunde nicht angetroffen und in der Nachbarschaft versucht das Paket an den Mann zu bringen. Bei Erfolg eine Info in den Briefkasten des eigentlichen Empfängers geworfen, welcher Nachbar das Paket entgegengenommen hatte. Nach vielen unzähligen Kunden bemerkte ich ein unangenehmes Gefühl in meiner Bauchhöhle. Ich hatte Hunger. Ich wunderte mich, dass mein Einweiser diesbezüglich noch nichts von sich hören ließ. Ich dachte mir: „Warte noch ein Weilchen, er ist wie ich ein Mensch aus Fleisch und Blut, der auch irgendwann mal was essen muss, um diese körperliche Schwerstarbeit zu schaffen.“ Doch als in der Ortschaft, in der wir uns gerade befanden, die Kirchturmuhr zwölfmal läutete, fragte ich meinen Einweiser: „Wann machen wir eigentlich Mittag und wo bekommen wir eine warme Mahlzeit?“
Der schaute mich von der Seite an und sprach: „Du hast in deinem Leben wohl noch nie einen solchen Job gemacht!“
Ich antwortete ihm, dass ich schon einige Jobs gemacht hatte, aber immer eine Mittagspause von mindestens 30 Minuten gehabt hätte. Daraufhin entgegnete der Fahrer: „Eine Mittagspause kannst du bei diesem Job vergessen, sonst schaffst du die Tour nicht.“
Ich sagte: „Ich wäre ja schon mit einem Imbiss zufrieden, aber ohne eine warme Mahlzeit überstehe ich den langen Tag nicht.“
In dem Ort, in dem wir uns gerade befanden, gab es eine Imbissbude. „Da kannst du dir was Essbares besorgen“, sagte mein Kollege. „Dies ist aber nur möglich, weil wir zu zweit sind und so beim Abladen Zeit gewinnen.“
Ich fragte ihn, ob er den ganzen Tag ohne etwas Essbares über die Runden käme. Er antwortete: „Ich frühstücke morgens nach dem Aufstehen um 3:30 Uhr während dem Anziehen. Ich habe immer eine Kanne Kaffee mit auf der Tour, damit ich nicht einschlafe. Am schlimmsten ist die monotone Rückfahrt über die Autobahn bis zum Depot. Bei dieser Fahrt hatte ich zu Beginn dieses Jobs große Probleme, die Augen auf zu halten.“ Ich unterbrach ihn in seinem Redefluss und fragte, wann wir an der Imbissbude wären. Er sagte: „Nach der nächsten Kurve sind wir da.“
Endlich an der Imbissbude angekommen, konnte ich es nicht erwarten, etwas Essbares zu erhaschen. Am liebsten hätte ich ein Schnitzel mit Fritten und Salat bestellt, doch mein Fahrer sagte: „Übertreibe es nicht, mit einem Wurstweck ist es auch getan. Den kannst du während der Fahrt zwischen den Abladestellen vertilgen.“ Ich fragte ihn, ob er sich nichts zum Essen hole. Die Antwort war: „Nein, wenn ich heute etwas um diese Uhrzeit esse, verlangt mein Körper das gleiche Recht in Zukunft täglich! Von den 1.500 Euro netto im Monat kann ich mir das bei den hohen Mietkosten meiner 65-Quadratmeter-Wohnung plus Nebenkosten nicht erlauben. Ich esse nach Feierabend mit meiner Familie zusammen eine warme Mahlzeit.“
Ich dachte mir: „Wie hält man diese körperliche Anstrengung ohne Nahrung den ganzen Tag durch?“ Nachdem ich mit meinem Bockwurstweck ins Fahrzeug eingestiegen war und wir weiterfuhren, bemerkte ich, dass mein „Chauffeur“ mit mir im Geiste mitgespeist hatte. Ich spürte, dass er auch gerne etwas gegessen hätte, und sagte zu ihm: „Ich hätte dir einen Wurstweck spendiert.“
Er antwortete nicht darauf, obwohl ich das Gefühl hatte, er hätte das Angebot gerne angenommen.
Beim nächsten Kunden angekommen, legte ich mein Mittagessen auf dem Sitz neben mir ab und wir stiegen aus, um die nächste Paketsendung abzuladen. Nachdem wir das Paket des Kunden vom Fahrzeug genommen hatten, marschierten wir zu dessen Haus und drückten die Klingel. Nach einiger Zeit – mir kam es vor wie eine Ewigkeit – öffnete sich die Tür und der Paketempfänger dröhnte gleich los: „Kein Wunder, dass die Transportkosten beim Paketdienst so hoch sind, wenn ihr gleich mit einer ganzen Armee hier anrückt, nur um ein Päckchen zuzustellen!“ Ich versuchte den Kunden zu beruhigen, indem ich ihm erklärte, dass ich ein neuer Zusteller in diesem Bezirk würde und in der Anlernphase wäre. Mürrisch setzte er seine unleserliche Unterschrift auf den Scanner, riss das Paket aus meiner Hand und schlug mir seine Haustür vor der Nase zu. Ich dachte mir: „Ist ja seine Haustür, die er in seiner Wut zerstört.“ Mein Einweiser sagte hinterher zu mir: „Das war der Herr General.“ Ich fragte ihn, ob er mich verkohlen wolle. Er erwiderte: „Nein, der Mensch war früher wirklich General in der Armee. Ich habe ihn immer mit ‚Herr General‘ angesprochen, dann ist er am friedlichsten. Bei mir ist er der General Zack-Zack! Wahrscheinlich erwartet er eine militärische Übergabe bei der Paketzustellung, wie zum Beispiel: Guten Morgen, Herr General, habe eine wichtige Mitteilung zu Ihren Händen.“
Ich fing zum ersten Mal für heute lauthals an zu lachen und sagte zu meinem Einweiser: „Das fängt ja langsam an, richtig Spaß zu machen.“ Dieser schaute mich nur verwundert an und fuhr weiter zum nächsten Kunden.

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