„Das A und O“ und „das Aha“

„Das A und O“ und „das Aha“

Der homo ludens und sein Spiel

Marianne Oswald


EUR 13,90
EUR 8,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 80
ISBN: 978-3-99107-057-3
Erscheinungsdatum: 30.11.2020
Gott hat am sechsten Tag ‒ so steht es in der Bibel im Buch Genesis ‒ doch den Menschen erschaffen! Kann es sein, dass er dieses Geschöpf, sein Ebenbild ‒ die Krone der Schöpfung ‒ schon damals, als er es schuf, durch eine rosarote Brille sah …?
Die 24 Buchstaben

Gedankenverloren saß sie wieder einmal am Fenster und blickte hinaus, hinaus zu ihren kleinen Lieblingen, ihren „Vogerln“, wie Charlotte sie liebevoll nannte. Vergnügt hüpften sie von Ast zu Ast, pickten Körner aus dem Futtersilo und tranken aus der im Kirschbaum aufgehängten Wasserschale. Manchmal nahmen sie auch ein erfrischendes Bad und schüttelten anschließend ihr Gefieder ab, dass das Wasser nur so herumspritzte. Sie schienen glücklich und zufrieden, schließlich wurden sie auch das ganze Jahr über versorgt. Charlotte fühlte sich irgendwie verantwortlich für diese kleinen Lebewesen, die ja wie alle Tiere und Pflanzen der sogenannten „Krone der Schöpfung“ anvertraut worden sind, auch wenn es heißt: „Seht die Vögel unter dem Himmel an, sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch.“ (Matth. 6, 26.)
Die Lebensdauer der Kohlmeise beispielsweise beträgt nur zwei bis drei Jahre. Ein Menschenleben ist in der Regel von längerer Dauer und ist im Laufe der Menschheitsgeschichte gestiegen und gestiegen, von gerade mal etwa 30 Jahren auf bis zum Dreifachen im 21. Jahrhundert. Nicht nur in der Länge, auch in der Breite seiner Möglichkeiten ist der sogenannte „homo sapiens“, der wissende und vernunftbegabte Mensch, fortgeschritten. Das ist seinem Erfindergeist, seiner Neugierde und nicht zuletzt seiner Anpassungsfähigkeit zu verdanken.
Doch: Alle seine Möglichkeiten, seine Fähigkeiten, seine Veranlagungen und Begabungen, waren sie unendlich, oder endlich wie er selbst?
Die ersten warmen Sonnenstrahlen drangen in das kleine „Häuschen im Grünen“, erbaut zwischen 1930 und 1940 (das genaue Baujahr ließ sich nicht mehr ermitteln), gekauft von Charlotte im Jahre 2010. „Stark sanierungsbedürftig“ stand in dem eingeholten Gutachten und in der Rubrik „Gebäudebeschreibung“, und dass die Wertermittlung kein Bausubstanzgutachten darstellt. Diese Aussage war für die Käuferin nicht von Bedeutung, einzig ihre subjektive Wertschätzung zählte, etwa so wie der Wertrelativismus Werte nur in Bezug auf den Menschen erkennt. Werturteile spielen beispielsweise in der Wissenschaftstheorie eine große Rolle, besonders die Frage nach der Wertfreiheit der Wissenschaft. Als Bewertungsmaßstab diente ihr auch nicht die cm-Einteilung und 10-cm-Einteilung einer Messlatte, die zu Landvermessungen benötigt wird, einzig die Ähnlichkeit mit dem „Garten Eden“, mit dem Paradies auf Erden, zählte.
Der kleine Garten glich zwar weder in der Größe noch in seiner Bepflanzung dem Garten Eden. Charlotte hatte außer einem Kirschbaum noch einen Birnbaum anstelle eines Apfelbaumes, dem „Baum der Erkenntnis“, gepflanzt, aus Vorsicht. Aus Vorsicht deswegen, um nicht in Versuchung zu kommen und von jenem schicksalsträchtigen Baum zu essen: Die furchtbare Erfahrung der Vertreibung aus ihrem ursprünglichen Paradies in ihrer Kindheit saß auch an ihrem Lebensende noch zu tief in ihren Knochen. Das war zu jener Zeit nach dem 2. Weltkrieg, als die „rachsüchtige Rote Armee“ in Breslau einmarschierte und sie und ihre Familie aus Haus und Hof und ihrem einstigen 4.000 qm großen „Garten Eden“ in alle Winde vertrieben wurden. Einen „Lebensbaum“ (Lateinisch: „arbor vitae“, und sinnbildliche Darstellung des Lebens) hatte sie allerdings schon auch gepflanzt, nicht dass sie hätte ewig leben wollen: Charlotte wollte nur noch ein bisschen philosophieren, resümieren und sich an der schönen Natur erfreuen und vor allen Dingen keinen Krieg mehr erleben müssen oder gar zwei Weltkriege wie ihre Eltern und Großeltern. Nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeitsrechnung, einem Teilgebiet der Mathematik, das die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten von Ereignissen ermittelt, war diese Gefahr, gemessen an der Häufigkeit der Ereignisse, bei ihr sehr groß.
„Doch keine Angst“, dachte sie.
„Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ (Aus Friedrich Hölderlins Gedicht „Patmos“, 1803.) Oder aber: Waren die Würfel etwa gar schon gefallen?! Kriege beginnen erfahrungsgemäß immer mit einer Lüge, dem Argument der Verteidigung. Die „Verteidigung von Werten“ war die Devise jener Zeit nach dem 2. Weltkrieg. Ein Blick auf unsere Welt zeigt, wie subjektiv offenbar die Wahrnehmung des Begriffes „Wert“ ist. Womöglich ist unsere Wahrnehmung der Welt und der Existenz überhaupt nur Illusion? Sicher jedenfalls ist, dass wir nur das wahrnehmen, was wir wollen.
Was nicht fehlen durfte in ihrem Garten war natürlich ein Rosenbogen. Charlotte nannte ihn „Triumphbogen“. Äußere Ähnlichkeiten zeigte dieser Triumphbogen zwar nicht mit dem „Arc de Triomphe“, dem berühmtesten Triumphbogen der Welt in Paris, mit einer Höhe von 50 Metern und seiner monumentalen Größe. Auch besaß er kein Relief, wie das von J.-P. Cortot, das den Triumph Napoleons nach dem Frieden von 1810 verherrlichte. Eines jedoch sollten beide Triumphbögen gemein haben: die Verherrlichung von Frieden.
Ein neuer Tag hatte begonnen. Würde es ein ganz normaler Tag, „ein Tag wie jeder andere“, werden oder vielleicht ein ganz besonderer Tag im Leben? Wie der Kalender zeigte, war es ein Tag im Februar und der Geburtstag von Charlotte. Zuallererst musste sie ihre Vogerl versorgen. Danach setzte sie sich auf die Holzbank vor ihrem Häuschen und ließ die Blicke umherschweifen in ihrem neuen kleinen Paradies. Eine Honigbiene landete auf ihrem Zeigefinger, und ein Vogerl setzte sich auf ihren Fuß. Es war die Haubenmeise, eine graubraune Meisenart mit hervorstehender, schwarz-weiß gemusterter Haube über dem schwarz umrahmten Gesichtsfeld. Ihr steckte Charlotte, wie jeden Morgen, ein Zetterl in den Schnabel, darauf stand geschrieben: „Von der Mutter einen Gruß.“ Meistens wurde das Zetterl auch dort abgeliefert, wo es ankommen sollte: bei ihrer lieben Tochter.
Die ersten Zugvögel waren zurückgekehrt aus fernen Gebieten. Schneeglöckchen und Frühjahrsblüher spitzten aus der Erde. Bald würde auch der Flieder wieder blühen. Kaum erwarten konnte Charlotte die alljährliche Blüte ihres Kirschbaums. Kirschbäume hatten nämlich eine ganz besondere Bedeutung in ihrem Leben: Nicht nur, dass die wunderschönen Blüten sie bezauberten, die reifen Früchte übten offensichtlich eine ganz besondere Faszination auf sie aus. Kaum, dass sie die ersten Schritte hatte laufen können, kletterte sie auch schon auf den riesengroßen Kirschbaum im riesengroßen Garten ihrer Großeltern hinauf bis fast zur Baumkrone, pflückte und verzehrte die süßesten Früchte. Versehentlich musste sie wohl ein paar Kerne verschluckt haben, die in ihrem Wurmfortsatz steckengeblieben, eine Vereiterung und einen Durchbruch mit höchster Lebensgefahr verursachten. Entgegen des ärztlicherseits angekündigten Erlöschens ihres kleinen Lebenslichtleins ging dann doch ihr Leben weiter.
Wohin ging es? „Quo vadis?“ („Wohin gehst du?“) oder „Quis? Quid? Ubi? Quibus auxiliis? Cur? Quomodo? Quando?“ („Wer? Was? Wo? Wodurch? Warum? Wie? Wann?“) Solcherlei Fragen stellte sich Charlotte zum damaligen Zeitpunkt natürlich noch nicht. Auch kannte sie damals natürlich nicht den von Joachim G. Darjes gedichteten Hexameter, der die in der Schulphilosophie Ende des 18. Jahrhunderts üblichen philosophischen Grundbegriffe aufzählt und der Erkenntnisgewinnung diente. Selbstverständlich machte sie sich damals auch noch keine Gedanken über die sogenannte „Seinsfrage“ („Sein oder Nichtsein?“) oder die „Pilatusfrage“ („Was ist Wahrheit?“) oder gar über den fundamentalen Satz: „Ich denke, also bin ich“, geprägt von René Descartes (1596–1650). Später dann sah sie sich in ihrem Leben auch noch konfrontiert mit der Frage: „Robokalypse“, „Apokalypse“ oder „Paradies“?
Als „Exotin“ (Evangelische unter Katholiken) und als „traumatisiertes Kriegskind“ stellte sich Charlotte die sogenannte „Identitätsfrage“ („Wer bin ich?“) allerdings schon ziemlich früh in ihrem jungen Leben: Der Zufall wollte es, dass ihr seinerzeit jemand ins Ohr und damit aber auch in ihr Bewusstsein rief: „So jung und scho a Preiß!“ So geschehen während eines Tänzchens auf einer Veranstaltung, zu der sie ihre Eltern begleiten durfte. Bis dato hatte sie noch nicht wirklich darüber nachgedacht, „wer sie war“ und „woher sie stammte“, nur dass sie keine gebürtige Münchnerin war und Hochdeutsch sprach, wie es eben auf ihrem Gymnasium üblich war. Mit dieser Tatsache würde sie sich auseinandersetzen müssen. Das war klar. Nur: Was Charlotte nicht klar war, das war der Unterton in dem besagten Ausruf. Er klang etwa so als wäre sie irgendwie ein „anderer Mensch“ oder gar die letzte Neandertalerin. Sollte es denn verschiedenartige Menschen und auch vielleicht mehrere Spielarten des „homo“ geben?! Soviel stand jedenfalls fest: Diesem Phänomen würde sie einmal auf den Grund gehen und die sogenannte „Krone der Schöpfung“ unter die Lupe nehmen, wenn sie einmal groß sein wird. Klar war auch: Es musste ihr erstes „Aha-Erlebnis“ gewesen sein, das sich zeitgleich mit der eigenen Identitätsfrage ereignet hatte und dem ihr zeitlebens währendes Heimweh wie auch ihre schwere Migräne zuzuschreiben waren.
Ein „Aha-Erlebnis“ ist umgangssprachlich der Begriff für einen Moment, in dem jemandem „die Augen aufgehen“ oder „ein Licht aufgeht“. Und es ist auch ein von Karl Bühler (1879–1963) geprägter Begriff für den Vorgang plötzlichen Verstehens. Die Notwendigkeit von derlei Ereignissen steht im Mittelpunkt von Baruch Spinozas (1632–1677) Philosophie: „Nicht belachen, nicht beweinen noch verabscheuen, sondern begreifen.“ Könnten derlei Erlebnisse nicht auch für die Momente einer sogenannten „biblischen Erleuchtung“ stehen?
Die Anzahl der „Aha-Erlebnisse“ scheint begrenzt zu sein. Es könnten, philosophisch gesehen, genau 22 an der Zahl sein, gemessen an der Anzahl der Buchstaben, die im griechischen Alphabet zwischen dem ersten Buchstaben „A“ (Alpha) und dem letzten, dem „O“ (Omega), stehen. „Ich bin das Alpha und das Omega, der Erste und der Letzte.“ Das sind prophetische Worte von Jesus in der Offenbarung, verkürzt „das A und O“, und bedeutet „der Anfang und das Ende“ (Apk. 22, 13). Das „A und O“ steht umgangssprachlich für „die Hauptsache“.
Doch: Ist der Anfang des Lebens und das Ende des Lebens denn tatsächlich die Hauptsache und nicht vielmehr das Leben dazwischen, zwischen Geburt und Tod, zwischen Anfang und Ende, also das Dasein?!
Und: Was ist demnach die Hauptsache im Leben? „Hauptsache gesund“, heißt es umgangssprachlich. Ist das alles, was der Mensch zum Leben braucht? Und was ist mit seinem Rüstzeug, seiner Waffe, für den sprichwörtlichen Lebenskampf?
Das Telefon klingelte. Charlotte sprang von ihrem Bankerl hoch und eilte ins Haus. Hocherfreut nahm sie die ersten Geburtstagswünsche entgegen: „Bleib gesund“, „bleib wie du bist“ oder auch „ein langes Leben“ und „Glück und Zufriedenheit“. Erika, Kathi, Kuni, Brigitte, Heidi, Hanni, Renate, Ursula und Centa, alle Gratulantinnen gaben Impulse für das neue Lebensjahr. Centa sagte sogar ein kleines Gedicht auf: „Viele Jahre sind vergangen, seit dein Leben hat angefangen. Doch die Jahre sind nicht wichtig, Hauptsache, du lebst richtig.“ „Richtig leben“ ist also die Hauptsache, ist demnach „das A und O“, das Alpha und das Omega. Das wirft eine neue Frage auf, die Frage nach dem „Was?“, dem „Quid“ im Hexameter: „Was ist richtig?“. Und letztendlich die Frage nach dem Elixier des Lebens, dem sogenannten Zaubertrank der Alchimisten.
Das Geburtstagskind vermisste jetzt nur noch eine Gratulantin unter ihren Freundinnen: Roswitha. Und schon klingelte das Telefon, sie war am anderen Ende der Leitung: „Bleib gesund und neugierig!“ Neugierig?! Eine gute Idee, fast genial! Ist die Neugierde nicht mit Wissensdurst (wohlgemerkt im Unterschied zur sogenannten Sensationslust, der Lust am Spektakel) gleichzusetzen und könnte sie nicht auch die Triebfeder im Leben und eine der drei Säulen des Christentums sein, anstelle von Hoffnung? Ja, könnte solch ein Verhaltensprinzip nicht gar eine andere angeborene Eigenschaft des „homo“, die „Angst“, besiegen?! „Zwischen Furcht und Hoffnung schweben“ (aus Vergils Nationalepos „Aeneis“, 70–19 v. Chr.), ist kein erstrebenswertes Verhaltensprinzip. Die „Hoffnung“ birgt eine Erwartungshaltung und wirft immer die Frage auf: „Was habe ich Besseres zu erwarten?“ Eine bessere Zukunft? Eine bessere Welt? Einen besseren Menschen? Wohl eher nicht! Die Menschheitsgeschichte wie auch die Schöpfungsgeschichte sprechen da eine ganz deutliche Sprache.

Noch bis ins 18. Jahrhundert hinein gaben nur der Tod und das Leben nach dem Tod dem Leben einen Sinn. Der Tod ist doch wohl bestimmt nicht der Sinn des Lebens, er ist nur unvermeidliches Schicksal!
Wenn auch der sogenannte Maschinen-Mensch, der Roboter, im Vormarsch war, so kann er nicht wirklich eine neue Spielart der „Krone der Schöpfung“ sein. Wenn auch sein Grundprinzip dem Triebwerk einer Rakete ähnelt und die künstliche Intelligenz unser Leben revolutioniert, die ganze Technik wird nie und nimmer die angeborene menschliche Eigenschaft der Empathie, das Mitgefühl, ersetzen können. Eine herausragende Rolle im menschlichen Verhalten genießt der sogenannte spielende Mensch, der „homo ludens“. In seinem gleichnamigen Werk charakterisiert Johann Huizinga (1872–1945) das Spielen sogar als Grundkategorie menschlichen Verhaltens und menschlicher Entwicklung und auch als kulturbildenden Faktor. Aus dieser Sicht wäre unser Leben nur ein Spiel und unser Treiben nur ein Jahrmarkt. Oder ist der Urtrieb des Menschen nach Selbsterhaltung und sein Streben nach Macht im sogenannten „homo lupus“ („Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“) verankert, und der Mensch tatsächlich der ärgste Feind seiner eigenen Art? Zweifel am rechtmäßigen Besitz einer „Krone“, der Kopfzierde als Zeichen der Herrscherwürde dieses rätselhaften Geschöpfes, schienen auf jeden Fall angebracht.



Die Suche

Das Osterfest stand vor der Tür. Das Telefon klingelte. Ursula war am Apparat: „Wollen wir nicht einen Osterausflug machen?“, fragte sie. Begeistert sagte Charlotte zu. Ein Ausflug „ins Grüne“ war geplant. Am Ostersonntag des Jahres 2018 fanden sich dann die beiden plötzlich auf einem Stein sitzend wieder. Mara, der Irish Setter, war auch mit von der Partie. Sie fragten sich erstaunt, wie und warum sie wohl ausgerechnet hier, hier bei einem Steinbildhauer, angekommen waren. Eigentlich hatten sie doch einen Ausflug ins Grüne machen wollen. Grünes gab es an jenem Ostertag allerdings noch nicht viel zu sehen in der Natur. So musste wohl daraus eine Fahrt „ins Blaue“ geworden sein. Doch: Was in aller Welt hatten die beiden Mädchen hier unter den vielen herumliegenden Steinen zu suchen? Und: Sollte Mara vielleicht als Suchhund eingesetzt werden? Sie brauchten weder einen Grabstein noch einen Jungbrunnen und schon gar nicht ein Steinschlossgewehr. Steinkraut oder Steinlorbeer war hier auch nicht zu finden und natürlich auch keine Steinkrabben oder Steinkorallen. Mit den Steinen zu sprechen, hatten sie sich zwar schon vorstellen können, doch verstehen würden sie deren Sprache nicht mangels archäologischer Kenntnisse.
Normalerweise zog es die Mädchen hinaus in die Natur, dorthin, wo sie die Harmonie der Welt am tiefsten wahrnehmen konnten. Harmonie herrschte auch zwischen Ursula und Charlotte. Sie kannten sich schon von Jugend an, hatten viele Gemeinsamkeiten und waren so eine Art Seelenverwandte geworden. Beide liebten die Kunst und die Natur, und beide waren zu jener Zeit eigentlich keine Kinder mehr. Sie waren eher im „fortgeschrittenen Alter“. Kindisch waren sie zwar nicht mehr, doch immer noch voller kindlicher Träume und überraschender Ideen. Auf die Idee, ausgerechnet an einem Ostersonntag einen Ausflug zu machen, einem Tag, an dem Christen das Fest der Auferstehung Christi von den Toten feierten, und Kinder nach Ostereiern suchten, wären sie allerdings bestimmt nicht von alleine gekommen. Diese Idee musste wohl im Unterbewusstsein entstanden sein. Andererseits war es natürlich nichts Ungewöhnliches, an Ostern nach etwas zu suchen. Waren die beiden am Ende doch, ganz unbewusst, gar auf der Suche nach einem Stein, einem ganz besonderen Stein?!
Ursula und Charlotte waren plötzlich ganz aufgeregt und neugierig. Auch Mara, der Irish Setter, schnüffelte plötzlich ganz aufgeregt unter den Steinen herum. Irgendetwas musste hier also doch zu finden sein. Es müsste ja nicht gleich „der Stein der Weisen“ sein. Vielleicht nur die Spur einer Idee, einer ganz neuen und guten Idee, natürlich.

Es war auch die Zeit, in der Osterbräuche gepflegt wurden. Im Brauch und Glauben der Kinder war der Osterhase der Eierbringer zum Osterfest, in Deutschland bezeugt seit 1682. Neben dem Osterhasen tragen in verschiedenen Landstrichen Hahn, Auerhahn, Fuchs, Kranich, Storch und die aus Rom zurückkehrenden
Glocken Eier aus. Das Suchen nach Ostereiern bereitete den Kindern große Freude. Auch die Erwachsenen waren auf der Suche, auf der Suche nach Glück und nach Frieden, nicht nach Streit, wie damals im 1. Jahrhundert: Im sogenannten „Osterfeststreit“, wo es um den Termin des Osterfestes gegangen war. Erst das Konzil von Nicäa 325 beendete den Streit und bestimmte, Ostern solle am 1. Sonntag nach dem 1. Vollmond nach der Frühlings-Tag- und Nachtgleiche gefeiert werden; fällt dieser Vollmond auf einen Sonntag, ist die Osterfeier erst am folgenden Sonntag, damit das christliche Osterfest nicht mit dem jüdischen zusammenfällt.
Es war allerdings auch wieder eine Zeit, in der gestritten wurde. Diesmal stritten sich mächtige Politiker um die Vorherrschaft in der Welt und schilderten die Weltlage wieder einmal als sehr bedrohlich. Ganz plötzlich und unverhofft fielen den beiden Mädchen wie aus heiterem Himmel zwei Wörter ein, die zwei Wörter „Aufrüstung“ und „Krieg“.

„Aufrüstung.“ „Krieg.“ Das war schon sehr eigenartig! Das sind selbstverständlich nur zwei Wörter. Doch: Viel zu oft waren sie wieder zu hören und zu lesen und nicht gerade das, wonach den Menschen der Sinn stand in dieser Zeit. Vor allem, wenn sie – wie normalerweise – diese Wörter mit Tod und Vertreibung und mit todbringenden Waffen in Verbindung setzten. Sollte den Menschen etwa „Angst“ eingeflößt werden?!
Doch dann geschah etwas Großartiges: Genau zu dem Zeitpunkt, als die Menschen der Drohgebärden und des Säbelrasselns derart überdrüssig geworden waren, dass sie nicht einmal mehr Zeitung lesen und Nachrichten hören wollten, war ein Wort gefallen, ein neues Wort, das Wort „Verantwortung“. Und: Es war in einem Land gefallen, das Gehör fand in der Welt und vor allem auch in den Ohren der Mächtigen dieser, unserer Welt. Und: Es kam aus dem Munde der deutschen Verteidigungsministerin, die natürlich einen Amtseid geleistet hatte, „zum Wohle des Volkes“ zu handeln. Von mehr Verantwortung in der Welt war sogar die Rede in jenem Land, dessen Artikel 1 des Grundgesetzes lautet: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
Als dann auch noch ein weiteres Wort, das Wort „Gleichgewicht“, fiel, mit seinen ausschließlich positiven Synonymen, wie Ausgewogenheit, Balance und Harmonie, und das obendrein noch im Zusammenhang mit dem Wort „Aufrüstung“, schöpften die verängstigten Menschen wieder Mut: „Das konnte ja nur eine Aufrüstung von Werten und nicht eine Aufrüstung von zerstörerischen Waffen bedeuten“, mutmaßten sie. Ursula und Charlotte teilten die gewonnene Erkenntnis. Vielleicht war es ja das, wonach sie suchten. Das Ei des Kolumbus war es jedenfalls nicht: Amerika war schon entdeckt. Ein neuer Trabant war es auch nicht: Die „Erdlinge“ hatten ihren Heimattrabanten, den Mond, bereits vor 50 Jahren gefunden und bereist. Sie meinten sogar, dadurch ein kollektives Bewusstsein für ihren Heimatplaneten, die Erde, auf der sie lebten, gefunden, und deren Ehrfurcht einflößende Schönheit und Verletzlichkeit entdeckt zu haben! Ein Ehemann war es auch nicht, nach dem sie suchten, ihn hatten sie schon vor mehr als vier Jahrzehnten gefunden. War es am Ende gar ein neuer Mensch, ein „homo novus“, oder war es doch nur ein Stein, ein besonderer Stein, wonach sie suchten? Das wäre jedenfalls eine Erklärung dafür, warum der Zufall die beiden Mädchen ausgerechnet zu einem Steinmetz geführt hatte.

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