Burn-out, Depression, Endstation Krebs, ich lebe noch immer
Erich Bruckner
EUR 14,90
EUR 8,99
Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 126
ISBN: 978-3-99003-520-7
Erscheinungsdatum: 29.06.2011
Diagnose Burn-out und Krebs. Erich Bruckner nimmt den Kampf gegen die seelische Erschöpfung und die heimtückische Erkrankung auf. Ein Ratgeber für Betroffene, der Mut macht und Hoffnung vermittelt.
Nach dem Frühstück werde ich in die Abteilung der normalen Klasse umgesiedelt, weil dort heute ein Bett frei geworden ist. Nun liege ich in einem Dreibettzimmer. Das hat den Vorteil, dass man mit anderen plaudern kann, doch bald schon wird mir klar, dass ich mich in einem Zimmer befinde, in der nicht unbedingt die leichten Fälle untergebracht werden. Das erhärtet in mir den Verdacht, an Krebs erkrankt zu sein. Etwas später bekomme ich Besuch von meinem Professor. Er teilt mir mit, dass in meinem Bauch ein acht Zentimeter großer bösartiger Tumor gefunden wurde. Eine Operation ist vonnöten und Chemo- oder Strahlentherapie stehen noch an. Mit seinen Kollegen müsste er noch besprechen, ob zuerst operiert und dann behandelt werden sollte oder umgekehrt. Diese Meldung trifft mich hart, obwohl ich mit so einer Nachricht eigentlich gerechnet hatte. Ich bin froh, die Wahrheit, wirklich die Wahrheit zu hören, und danke ihm für seine Offenheit. Es scheint, dass er erleichtert ist, seine Botschaft endlich hinter sich gebracht zu haben, und ich bin erleichtert, mich nicht mehr mit dem nervenaufreibenden Hoffen auseinandersetzen zu müssen. Kaum ist er aus meinem Zimmer, sehe ich blitzende Sterne vor mir, als wäre ich mit meinem Kopf gegen eine Wand gelaufen. Die Hoffnung sollte doch immer erst zuletzt sterben, doch jetzt ist sie wirklich für immer, wirklich für immer gestorben.
Wahrscheinlich habe ich geweint, ich weiß es nicht. Mein Nachbar am Fenster, der andere in der Mitte schläft gerade, spricht mir sein Mitgefühl aus. Ich begreife, dass wir hier in diesem Zimmer alle in demselben Boot sitzen. Wir schwimmen ohne Steuer hilflos auf offener See herum und wissen nicht, wohin uns die Wellen treiben. Jetzt denke ich an meine Frau und meine Kinder und frage mich, wie ich ihnen das erklären soll. Ich frage mich, warum ich nicht schon früher zum Arzt gegangen bin. Warum habe ich die Anzeichen nicht rechtzeitig erkannt? Wollte ich sie vielleicht gar nicht mehr erkennen? Hat die Depression ein Erkennen nicht zulassen wollen oder können? War mein ursprünglicher Wunsch, aus dieser Welt zu scheiden, noch immer nicht Vergangenheit? Wie müde war ich schon von den vielen Untersuchungen der letzten Jahre. Schmerzen in Rücken und Bauch gab es oft, sie waren Bestandteil meines Lebens geworden, ein Kommen und Gehen dieser Schmerzen war schon normal. Stets konnte eine physische Erkrankung ausgeschlossen werden. Es waren die üblichen Beschwerden psychosomatischer Art. Unter diesen Voraussetzungen verlernt man, die Warnungen des Körpers zu erkennen. Da fällt mir die Geschichte vom bösen Wolf und den Schafen ein. Ein Hirtenbube wacht über eine Schafherde. Er macht es sich zum Spaß, seinen Vater zu erschrecken. Er eilt zum Haus und ruft ihm besorgt zu, dass ein Wolf gerade dabei sei, die Schafe zu reißen. Sein Vater eilt zur Weide und findet keinen Wolf. Offensichtlich war der böse Wolf nicht hungrig gewesen. Einige Male wiederholt sich dieses Spielchen. Da wird der Vater müde und eilt nicht mehr zur Weide, weil es ohnehin nichts bringt. Eines Tages jedoch kommt dieser böse Wolf tatsächlich. Der Hirtenbube versucht seinen Vater zu warnen, doch der eilt nicht mehr zu den Schafen, und die Schafe sind weg, gefressen von diesem bösen Wolf. Durch die wiederholten Lügen seines Sohnes hat der Vater verlernt, die Warnung zu erkennen. Ich habe mich vielleicht selbst belogen. Seitdem ich mich im Krankenhaus befinde, wird mir erst bewusst, wie sehr mich meine Frau und meine Kinder lieben, sie wollen von mir nicht verlassen werden. Mein Kopf ist voll mit Gedanken dieser Art, ich werde unterbrochen, die Ärzte treten zur Visite ein.
Vier Professoren im Team befragen mich sehr lange Zeit und fragen gründlich, um sich durch mein Krebslabyrinth durchzukämpfen. Alle tasten meinen Bauch ab, ich weiß bald nicht mehr, wo es wirklich mehr oder weniger wehtut, wenn sie danach fragen. Der Tumor strahlt in alle Richtungen aus. Sie brauchen noch mehr Informationen und entscheiden, eine Computerresonanztomografie und auch eine Koloskopie durchzuführen. Als mich am Vormittag meine Frau besucht, ist es sinnlos, ihr zu verheimlichen, dass ich an Krebs erkrankt bin, früher oder später wird sie es ohnehin erfahren, nur, es ist so schwer, die richtigen Worte zu finden. Ich selbst, traumatisiert von dieser Botschaft, werde noch Zeit brauchen, sie zu verkraften. Wie ich es ihr gesagt habe, weiß ich nicht mehr. Sie hat es von mir erfahren, ich wollte, dass sie es von mir erfährt, doch, wie ich es ihr übermittelt habe, weiß ich nicht mehr. Noch am Vormittag werde ich mit dem Rettungsauto zur Computerresonanztomografie gebracht, weil sich die Abteilung, in der sie durchgeführt wird, in einem Pavillon weiter weg vom Hauptgebäude befindet. Auch diese Untersuchung ist anstrengend für mich. Sie dauert lange, weil viele Bilder aufgenommen werden. Bei jeder Aufnahme muss ich immer wieder lange die Luft anhalten und das macht mir zu schaffen. Ich halte durch und ernte dafür auch Lob. Denselben Weg, den ich mit dem Auto hergekommen bin, geht’s dann wieder retour und das alles, ohne Fahrscheine lösen zu müssen!
Am Nachmittag werde ich von meiner Frau und meiner Tochter besucht. Es ist still, meine Gedanken, unsere Gedanken kreisen so herum. Die schlimmsten Zeiten meiner Depression werden wieder in mir wach. Da war noch mein Wunsch an den lieben Gott, von ihm aufgenommen zu werden. Nun, fünf vor zwölf, knapp an solch einem Ziel angekommen, schaut wieder alles anders aus. Ich werde so liebevoll umsorgt von Ärzten und Pflegepersonal. Alle geben ihr Möglichstes, um mein Leben zu retten. Ich erhalte so viel Zuwendung von meiner Familie. Ich bin so ratlos. Meine Frau und meine Tochter weinen an meiner Seite. Ich schließe die Augen, schwebe auf einer Wolke und bin plötzlich so nah bei Gott. Ich strecke meine Hand nach ihm aus und bitte ihn, mir den Weg zu zeigen, den er für mich vorgesehen hat. Soll ich aufgeben, soll ich kämpfen? Ich verspreche ihm, das tun zu wollen, was er für richtig hält. Da umgibt mich eine angenehme Wärme und ich verspüre eine Kraft in mir. Ich spüre seinen Auftrag an mich, in seinem Namen weiterzukämpfen, weiterzukämpfen für meine Familie und für mich selbst. Ich bin jetzt sicher, dass ich es mit seiner Hilfe schaffen werde. Der Zug, der am Bahnhof steht, kann jetzt abfahren, die Weichen sind von Gott auf Grün gestellt, und es geht ab in eine vorbestimmte Richtung. Da blicke ich meine Frau und meine Tochter an und sage ihnen: „Ich werde kämpfen, um mein Leben kämpfen wie ein Löwe, um noch lange Zeit bei euch sein zu dürfen!“
Am Wochenende werde ich für die Koloskopie vorbereitet. Es gibt keine festen Mahlzeiten mehr für mich, nur mehr Tee, Suppe und eine bestimmte Flüssigkeit, die scheußlich schmeckt. Der Darm muss gereinigt und entleert werden. Jetzt schmeiße ich noch die letzte Gewichtsreserve weg, die mir der Krebs noch nicht abgesaugt hat. Mein Gewicht beträgt jetzt 52 Kilogramm bei einer Körpergröße von 184 Zentimetern. Ich bin leicht wie eine Daunenfeder. In dem Zustand würde ich bei jeder Agentur als Model die Nummer eins für den Laufsteg ein. Nach der Auswertung der Computerresonanztomografie entscheiden die Professoren bei der nächsten Visite, durch baldige Operation den Störenfried zu entfernen und danach mit der Chemotherapie zu beginnen. Ein paar Tage muss ich noch durchgefüttert werden, um für den Eingriff stabil genug zu sein. Ich bin froh über ihre Entscheidung, auch ich will dieses Ding in mir schnellstens loswerden. Dieser Krebstumor quält mich von Tag zu Tag mehr und nimmt an Größe zu. Ich erfahre auch, wer von den vier Professoren mich operieren wird. Ich finde ihn sympathisch und werde bei ihm gut aufgehoben sein. Er wird an mir die Koloskopie durchführen. Nach der Visite werde ich zu ihm zur Untersuchung gebracht, die lange dauert und mitunter sehr schmerzhaft ist. Wahrscheinlich ist es der Tumor, der den Schmerz verursacht, weil eine Koloskopie üblicherweise nicht so schmerzhaft, eher nur unangenehm sein soll. Mit der Koloskopie sind die Untersuchungen vorläufig abgeschlossen, danach bespricht mein Chirurg mit mir die Operation. Bei Annahme des schlechtesten Szenarios schaut die Sache für mich auch schlecht aus. Der Tumor im Darm ist beim Tasten unbeweglich, so könnte er mit anderen Organen verwachsen sein. Teile des Dickdarms, des Dünndarms und Lymphknoten werden entfernt, vielleicht muss auch ein künstlicher Darmausgang gelegt werden. Auf der Leber befinden sich jede Menge Zysten. Ein Nerv an meinem rechten Bein muss vielleicht gekappt werden und es wäre dann bewegungslos. Ich merke, dass es ihn betroffen macht, mir das alles erzählen zu müssen. Ich habe nur die Wahl, der Operation in der Hoffnung auf einen guten Ausgang zuzustimmen, um damit vielleicht am Leben bleiben zu können, oder die Operation mit dem Risiko abzulehnen, schon früh sterben zu müssen. So bleibt mir gar keine andere Wahl, als der Operation zuzustimmen, wenn ich um mein Leben kämpfen will. Schon für Freitag ist sie vorgesehen, die Zeit bis dahin werde ich noch aufgepäppelt, weil ich inzwischen ziemlich schwach geworden bin. Ich bekomme eine Menge an Infusionen, kalorienreiches Essen und zusätzlich Astronautennahrung. Die Kalorien, die mir jetzt zugeführt werden, würden einen Normalgewichtigen wahrscheinlich innerhalb kürzester Zeit zum Platzen bringen, mich aber nicht. Meine Gattin, die Managerin an meiner Seite, schränkt jetzt die Besuche auf ein Minimum ein, weil ich unbedingt geschont werden muss. So werden Freunde jetzt gebeten, Besuche auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Unterhaltungen von längerer Dauer überanstrengen mich. Meine Familie sitzt manchmal still neben mir, wenn mir das Sprechen zu viel wird.
Gelegentlich plaudere ich mit meinen Zimmerkollegen, wenn es die Kräfte erlauben. Man kommt sich näher, die Beziehungen vertiefen sich, und man erfährt über das Schicksal des anderen. Es entstehen Kameradschaften. Derjenige, der im Moment der Stärkere ist, hilft dem Schwächeren, und man tauscht Erfahrungen aus, um sich das Leben im Krankenhausalltag leichter zu machen. Ich bin froh, dass ich vor Diebstählen im Zimmer gewarnt wurde, weil man an so etwas nicht glauben kann. In diesem Krankenhaus kommt es oft zu Diebstählen, so muss man vorsichtig sein. Fremde tarnen sich als Besucher und schlagen zu, wenn man nicht immer im Zimmer ist oder gerade schläft. Das Schicksal eines anderen berührt mich besonders. Ein Kollege, es ist der Kollege an der Fensterseite, wird vermutlich nicht mehr lange leben. Sein Körper ist bereits mit einer Menge von Metastasen verseucht. Er leidet fürchterliche Schmerzen. Punktionen, die ihn vorübergehend schmerzfrei machen sollen, sind zum wiederholten Male fehlgeschlagen. Er wird mit Morphin behandelt. Eine Chemotherapie kann man bei ihm zurzeit nicht durchführen, weil er an einer Infektion leidet. So muss er noch warten. Er erhält eine Infusion nach der anderen, sein Fieber muss gesenkt werden. In so einem Stadium hat der Dirigent des Körpers sein Orchester nicht mehr richtig in der Hand. Es ergibt sich aus dem Gespräch, dass er ein Mensch mit gutem Charakter ist. Er tut mir sehr leid, so wie jeder andere Mensch auch in so einer schlimmen Situation. Da fragt man sich, was mit einem selbst geschehen wird. Mein Bein macht mir Sorgen, nach meiner Operation könnte es bewegungslos sein. Nie wieder laufen, mit Krücken gehen, im Rollstuhl sitzen, Plastikbeutel am Körper tragen – an so viele Möglichkeiten von Problemen in meiner Zukunft denke ich. Ich denke auch an unsere schöne Wohnung, in die wir erst vor Kurzem eingezogen sind. Da eröffnen sich wieder Perspektiven, die mir Mut machen. Die Wohnung ist sehr hell. Sie befindet sich im dritten Stock, schon über den Bäumen. Auf der einen Seite gibt es Blick auf die belebte Straße mit Bäumen, auf der anderen sieht man auf einen schönen Garten mit Bäumen. Da gibt es riesige Fichten, auf denen sich die Vögel nur so tummeln. Da fühlt man sich nicht so isoliert, weil es ringsum Leben gibt. Mit der modernen Kommunikation via Internet hat man auch als Invalide mit der Außenwelt Kontakt. Im Haus ist jetzt ein Lift vorhanden, mit dem ich problemlos nach unten und nach oben gelangen kann. Da sehe ich doch wieder Licht am Horizont, so Gott will, im Fall des Falles mit meiner Frau doch noch, wenn auch mit Einschränkungen, ein schönes Leben führen zu können.
Der Tag meiner Operation naht. Ich werde von einer Psychotherapeutin besucht, die hier im Krankenhaus ihren Dienst versieht. Ich bespreche mit ihr einen meiner wilden Träume vom Vortag. Im Radio höre ich über einen Atomangriff auf unser Land. Ich lege mich mit meiner Frau im Wohnzimmer auf den Fußboden, um auf den Tod zu warten. Das Unglück soll von einem Land im Westen auf uns zukommen und in 10 Minuten hier sein, so war es im Radio zu hören. Da ist er auch schon da, dieser riesige gelbrote Feuerball. Wir reichen uns noch die Hände und plötzlich ist es aus, ohne einen Schmerz zu verspüren, ohne etwas vom Sterben mitzubekommen. Dieser gewaltige Feuerball ist mir tief in Erinnerung geblieben und ich werde ihn bestimmt nie wieder vergessen können, so intensiv war dieser Traum. So ein Traum zeigt doch nur den Tod an, meine ich bestürzt. Da erklärt mir die Therapeutin, dass dieser Feuerball das Symbol für den Tumor in meinem Körper sei, der sterben wird. In nicht allzu langer Zeit wird mich der Chirurg davon befreien, wobei ich keinen Schmerz verspüren werde. Zwischen meiner Frau und mir wird die Tiefe unserer Liebe zunehmen und das Gefühl der Zusammengehörigkeit noch stärker werden. Mit dieser Interpretation des Traums kann ich mich anfreunden, bin beruhigt und warte nicht mehr so ängstlich auf den Tag, an dem ich von meinen Schmerzen befreit werde, den mir der Tumor verursacht. Es besucht mich auch eine evangelische Pfarrerin. Sie erobert mich mit ihrem angenehmen Lächeln. Sie strahlt Ruhe aus und das tut mir gut. Ich plaudere gerne mit ihr. Sie ist zurückhaltend in Bezug auf die Kirche, weil sie wahrscheinlich fühlt, dass ich mich in dieser Richtung nicht so tief einlassen möchte. So plaudern wird auf ethischer Ebene über andere Themen. Sie verspricht mir, mich öfters zu besuchen und auch an meiner Seite zu sitzen, wenn ich mich zu schwach fühle, um zu sprechen. Ich habe kein Problem damit, mich über Gott zu unterhalten. Meine Beziehung zu Gott ist ja eine gute, nur mit der Kirche habe ich Probleme. In meiner Kindheit hat sie mir Wunden hinterlassen, die nicht verheilt sind. Die Priester am Lande konnten sehr autoritär sein, da habe ich offensichtlich einen psychischen Knacks abbekommen, und diesen noch immer nicht verarbeitet. An einem Abend besucht mich der Pastor aus der Kirche, der meine Frau angehört. Er ist ein netter Mensch, ich schätze den privaten Kontakt zu ihm. Er bittet bei Gott für mich, dass er mich beschützen möge. In dieser Kirchengemeinschaft wird viel für mich gebetet. Ich bin dankbar dafür. Später, wenn ich wieder gesund bin, will ich auch Gutes an andere weitergeben. Im Moment bin ich schwach und kann niemand helfen, außer meinen Bettnachbarn mit aufmunternden Gesprächen, wenn auch ihnen die Sorgen über den Kopf wachsen.
Am Tag vor meiner Operation werde ich noch einmal zu meinem Chirurgen gebeten. Einmal mehr noch macht er mich auf alle Risiken meiner Operation aufmerksam. Es ist ein Eingriff, der weit über die Routine hinauszugehen scheint. Ich habe wieder den Eindruck, dass er sich sehr besorgt um mich zeigt. Noch könnte ich Nein zur Operation sagen, doch ich will es nicht, bleibt mir doch keine andere Wahl. Ich bin jetzt mittendrin in dieser Maschinerie, es gibt kein Zurück mehr, da muss ich einfach durch. Ich sage ihm, dass ich ihm vertraue und jeden Ausgang der Operation akzeptieren werde, egal wie die Operation ausgehen möge. Ich sehe mir seine Hände an, die mich operieren werden. Ich bin mir sicher, dass sie es nach der Entnahme des Tumors schaffen werden, mich auch wieder ordentlich zusammenzuflicken, mit dem, was an mir noch übrig bleibt. Wir blicken uns in die Augen und vertrauen einander, er scheint ein Mensch mit Handschlagqualität zu sein, da bedarf es keiner umständlichen schriftlichen Erklärungen. Zwei weitere Professoren werden bei meiner Operation an seiner Seite stehen, erfahre ich von ihm. Mein behandelnder Arzt wird sich meine Leber ansehen, weil es da ja diese Zysten gibt. Er ist Spezialist auf diesem Gebiet. Ein anderer, der vom Bereich der Mikrochirurgie gerufen wird, wenn es zum Problem an meinem rechten Bein kommen sollte. Ein Nerv an der Leiste muss durchtrennt werden. Noch weiß man nicht, wo er hingehört. Man hofft, dass es nicht der Nerv ist, der für die Bewegung zuständig ist. In den letzten Tagen hat man alles Mögliche unternommen, um mich für die Operation zu stabilisieren. Heute bekomme ich noch zwei Transfusionen zum Dessert, es sind Bluttransfusionen, die mein Blutbild wieder zum Glänzen bringen sollen. In meinem Leben habe ich oft Blut gespendet, an die sechzig Mal. Es war mir immer wichtig, als gesunder Mensch anderen Menschen mit einer Blutspende zu helfen. Ich wollte einen Teil davon weitergeben, was Gott mir an Gesundheit geschenkt hatte, und nun liege ich da und erhalte von einem anderen Menschen etwas zurück. In diesem Moment empfinde ich es als so schön, von jemand beschenkt zu werden, den man nicht kennt, aber es macht mich auch traurig, erinnert zu werden, selbst nie mehr spenden zu dürfen. Die Gedanken kreisen herum. Auf dieser Erde gibt es immer einen Anfang und ein Ende. Ich denke, dass morgen ein Lebensabschnitt von mir zu Ende gehen wird. Der erste Akt wird zu Ende sein. Es wird eine kurze Pause geben, und dann wird es mit dem zweiten, einem völlig anderen weitergehen. Ich sehe mein Leben als Bühne, gelenkt von Gott, auf der er für mich hoffentlich mehr als einen Akt vorgesehen hat.
Die Schwester kommt ins Zimmer und hängt mir das Taferl „Nüchtern“ ans Bett. Jetzt wirds langsam ernst. Ich werde morgen schon früh drankommen. Es gibt nur einen Patienten vor mir. Mein Nachbar am Fensterplatz, mit dem ich mich angefreundet habe, plaudert noch mit mir. Er erklärt mir den Ablauf des morgigen Tages, da er schon ein Profi auf diesem Gebiet ist. So bekomme ich einen besseren Überblick über all das, was rundherum um mich ablaufen wird. Er will mich auch den ganzen morgigen Tag mit positiven Gedanken begleiten, weil er mir von Herzen einen guten Ausgang meiner Operation wünscht. Über diese nette Zuwendung kann ich nur dankbar sein, und ich wäre so froh, auch ihm in seiner so schwierigen Lage irgendwie helfen zu können. Da fällt ihm zum Abschluss des Abends noch scherzend ein, dass es ein gutes Omen sei, der Zweite in der Warteposition zu sein. Mein Chirurg wird bei seiner Arbeit an mir nach seiner ersten Zigarettenpause nicht mehr so müde, aber auch noch nicht übermüdet sein. Mein Chirurg ist als starker Raucher bekannt. Jetzt ist Feierabend, ich versuche mich zu entspannen, um bald einschlafen zu können. Ich möchte für den morgigen Tag ausgeruht und kräftig sein. Es gelingt mir durchzuschlafen. Mein Abendmedikament, das ich seit meiner Depression täglich zu mir nehme, hat mir dabei geholfen.
Ich wache zu meiner gewohnten Zeit auf und da ist er, der besondere Tag, an dem sich der lebensgefährliche Tumor von meinem Körper trennen muss. Meine Gattin ist an meiner Seite, um sich von mir bis zum Abend zu verabschieden. Sie nimmt meinen Ehering an sich. Bei der Operation darf man keinen Schmuck tragen. Ein eigenartiges Gefühl, wenn man seinen gewohnten Ring nach vielen Jahren nicht mehr an der Hand verspürt. Erster Akt, Pause, zweiter Akt, fällt mir jetzt ein, als es ab zur Pause geht. Der Krankenpfleger startet mit meinem rollenden Bett durch. Die Dimensionen von Raum und Zeit verschieben sich jetzt in meiner Wahrnehmung. Ich fühle mich so klein und leicht, und alles ringsherum wirkt so groß auf mich, als würde ich es mit Kinderaugen betrachten. Ein Gang, dann ein Lift, wieder ein Gang, einmal nach rechts, einmal nach links, im Riesentempo geht’s dahin und schon bremst er sich ein. Wir stehen vor einem breiten Fenster. Es öffnet sich. Ich werde von meinem Bett auf einen Operationstisch durchgereicht.
Wahrscheinlich habe ich geweint, ich weiß es nicht. Mein Nachbar am Fenster, der andere in der Mitte schläft gerade, spricht mir sein Mitgefühl aus. Ich begreife, dass wir hier in diesem Zimmer alle in demselben Boot sitzen. Wir schwimmen ohne Steuer hilflos auf offener See herum und wissen nicht, wohin uns die Wellen treiben. Jetzt denke ich an meine Frau und meine Kinder und frage mich, wie ich ihnen das erklären soll. Ich frage mich, warum ich nicht schon früher zum Arzt gegangen bin. Warum habe ich die Anzeichen nicht rechtzeitig erkannt? Wollte ich sie vielleicht gar nicht mehr erkennen? Hat die Depression ein Erkennen nicht zulassen wollen oder können? War mein ursprünglicher Wunsch, aus dieser Welt zu scheiden, noch immer nicht Vergangenheit? Wie müde war ich schon von den vielen Untersuchungen der letzten Jahre. Schmerzen in Rücken und Bauch gab es oft, sie waren Bestandteil meines Lebens geworden, ein Kommen und Gehen dieser Schmerzen war schon normal. Stets konnte eine physische Erkrankung ausgeschlossen werden. Es waren die üblichen Beschwerden psychosomatischer Art. Unter diesen Voraussetzungen verlernt man, die Warnungen des Körpers zu erkennen. Da fällt mir die Geschichte vom bösen Wolf und den Schafen ein. Ein Hirtenbube wacht über eine Schafherde. Er macht es sich zum Spaß, seinen Vater zu erschrecken. Er eilt zum Haus und ruft ihm besorgt zu, dass ein Wolf gerade dabei sei, die Schafe zu reißen. Sein Vater eilt zur Weide und findet keinen Wolf. Offensichtlich war der böse Wolf nicht hungrig gewesen. Einige Male wiederholt sich dieses Spielchen. Da wird der Vater müde und eilt nicht mehr zur Weide, weil es ohnehin nichts bringt. Eines Tages jedoch kommt dieser böse Wolf tatsächlich. Der Hirtenbube versucht seinen Vater zu warnen, doch der eilt nicht mehr zu den Schafen, und die Schafe sind weg, gefressen von diesem bösen Wolf. Durch die wiederholten Lügen seines Sohnes hat der Vater verlernt, die Warnung zu erkennen. Ich habe mich vielleicht selbst belogen. Seitdem ich mich im Krankenhaus befinde, wird mir erst bewusst, wie sehr mich meine Frau und meine Kinder lieben, sie wollen von mir nicht verlassen werden. Mein Kopf ist voll mit Gedanken dieser Art, ich werde unterbrochen, die Ärzte treten zur Visite ein.
Vier Professoren im Team befragen mich sehr lange Zeit und fragen gründlich, um sich durch mein Krebslabyrinth durchzukämpfen. Alle tasten meinen Bauch ab, ich weiß bald nicht mehr, wo es wirklich mehr oder weniger wehtut, wenn sie danach fragen. Der Tumor strahlt in alle Richtungen aus. Sie brauchen noch mehr Informationen und entscheiden, eine Computerresonanztomografie und auch eine Koloskopie durchzuführen. Als mich am Vormittag meine Frau besucht, ist es sinnlos, ihr zu verheimlichen, dass ich an Krebs erkrankt bin, früher oder später wird sie es ohnehin erfahren, nur, es ist so schwer, die richtigen Worte zu finden. Ich selbst, traumatisiert von dieser Botschaft, werde noch Zeit brauchen, sie zu verkraften. Wie ich es ihr gesagt habe, weiß ich nicht mehr. Sie hat es von mir erfahren, ich wollte, dass sie es von mir erfährt, doch, wie ich es ihr übermittelt habe, weiß ich nicht mehr. Noch am Vormittag werde ich mit dem Rettungsauto zur Computerresonanztomografie gebracht, weil sich die Abteilung, in der sie durchgeführt wird, in einem Pavillon weiter weg vom Hauptgebäude befindet. Auch diese Untersuchung ist anstrengend für mich. Sie dauert lange, weil viele Bilder aufgenommen werden. Bei jeder Aufnahme muss ich immer wieder lange die Luft anhalten und das macht mir zu schaffen. Ich halte durch und ernte dafür auch Lob. Denselben Weg, den ich mit dem Auto hergekommen bin, geht’s dann wieder retour und das alles, ohne Fahrscheine lösen zu müssen!
Am Nachmittag werde ich von meiner Frau und meiner Tochter besucht. Es ist still, meine Gedanken, unsere Gedanken kreisen so herum. Die schlimmsten Zeiten meiner Depression werden wieder in mir wach. Da war noch mein Wunsch an den lieben Gott, von ihm aufgenommen zu werden. Nun, fünf vor zwölf, knapp an solch einem Ziel angekommen, schaut wieder alles anders aus. Ich werde so liebevoll umsorgt von Ärzten und Pflegepersonal. Alle geben ihr Möglichstes, um mein Leben zu retten. Ich erhalte so viel Zuwendung von meiner Familie. Ich bin so ratlos. Meine Frau und meine Tochter weinen an meiner Seite. Ich schließe die Augen, schwebe auf einer Wolke und bin plötzlich so nah bei Gott. Ich strecke meine Hand nach ihm aus und bitte ihn, mir den Weg zu zeigen, den er für mich vorgesehen hat. Soll ich aufgeben, soll ich kämpfen? Ich verspreche ihm, das tun zu wollen, was er für richtig hält. Da umgibt mich eine angenehme Wärme und ich verspüre eine Kraft in mir. Ich spüre seinen Auftrag an mich, in seinem Namen weiterzukämpfen, weiterzukämpfen für meine Familie und für mich selbst. Ich bin jetzt sicher, dass ich es mit seiner Hilfe schaffen werde. Der Zug, der am Bahnhof steht, kann jetzt abfahren, die Weichen sind von Gott auf Grün gestellt, und es geht ab in eine vorbestimmte Richtung. Da blicke ich meine Frau und meine Tochter an und sage ihnen: „Ich werde kämpfen, um mein Leben kämpfen wie ein Löwe, um noch lange Zeit bei euch sein zu dürfen!“
Am Wochenende werde ich für die Koloskopie vorbereitet. Es gibt keine festen Mahlzeiten mehr für mich, nur mehr Tee, Suppe und eine bestimmte Flüssigkeit, die scheußlich schmeckt. Der Darm muss gereinigt und entleert werden. Jetzt schmeiße ich noch die letzte Gewichtsreserve weg, die mir der Krebs noch nicht abgesaugt hat. Mein Gewicht beträgt jetzt 52 Kilogramm bei einer Körpergröße von 184 Zentimetern. Ich bin leicht wie eine Daunenfeder. In dem Zustand würde ich bei jeder Agentur als Model die Nummer eins für den Laufsteg ein. Nach der Auswertung der Computerresonanztomografie entscheiden die Professoren bei der nächsten Visite, durch baldige Operation den Störenfried zu entfernen und danach mit der Chemotherapie zu beginnen. Ein paar Tage muss ich noch durchgefüttert werden, um für den Eingriff stabil genug zu sein. Ich bin froh über ihre Entscheidung, auch ich will dieses Ding in mir schnellstens loswerden. Dieser Krebstumor quält mich von Tag zu Tag mehr und nimmt an Größe zu. Ich erfahre auch, wer von den vier Professoren mich operieren wird. Ich finde ihn sympathisch und werde bei ihm gut aufgehoben sein. Er wird an mir die Koloskopie durchführen. Nach der Visite werde ich zu ihm zur Untersuchung gebracht, die lange dauert und mitunter sehr schmerzhaft ist. Wahrscheinlich ist es der Tumor, der den Schmerz verursacht, weil eine Koloskopie üblicherweise nicht so schmerzhaft, eher nur unangenehm sein soll. Mit der Koloskopie sind die Untersuchungen vorläufig abgeschlossen, danach bespricht mein Chirurg mit mir die Operation. Bei Annahme des schlechtesten Szenarios schaut die Sache für mich auch schlecht aus. Der Tumor im Darm ist beim Tasten unbeweglich, so könnte er mit anderen Organen verwachsen sein. Teile des Dickdarms, des Dünndarms und Lymphknoten werden entfernt, vielleicht muss auch ein künstlicher Darmausgang gelegt werden. Auf der Leber befinden sich jede Menge Zysten. Ein Nerv an meinem rechten Bein muss vielleicht gekappt werden und es wäre dann bewegungslos. Ich merke, dass es ihn betroffen macht, mir das alles erzählen zu müssen. Ich habe nur die Wahl, der Operation in der Hoffnung auf einen guten Ausgang zuzustimmen, um damit vielleicht am Leben bleiben zu können, oder die Operation mit dem Risiko abzulehnen, schon früh sterben zu müssen. So bleibt mir gar keine andere Wahl, als der Operation zuzustimmen, wenn ich um mein Leben kämpfen will. Schon für Freitag ist sie vorgesehen, die Zeit bis dahin werde ich noch aufgepäppelt, weil ich inzwischen ziemlich schwach geworden bin. Ich bekomme eine Menge an Infusionen, kalorienreiches Essen und zusätzlich Astronautennahrung. Die Kalorien, die mir jetzt zugeführt werden, würden einen Normalgewichtigen wahrscheinlich innerhalb kürzester Zeit zum Platzen bringen, mich aber nicht. Meine Gattin, die Managerin an meiner Seite, schränkt jetzt die Besuche auf ein Minimum ein, weil ich unbedingt geschont werden muss. So werden Freunde jetzt gebeten, Besuche auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Unterhaltungen von längerer Dauer überanstrengen mich. Meine Familie sitzt manchmal still neben mir, wenn mir das Sprechen zu viel wird.
Gelegentlich plaudere ich mit meinen Zimmerkollegen, wenn es die Kräfte erlauben. Man kommt sich näher, die Beziehungen vertiefen sich, und man erfährt über das Schicksal des anderen. Es entstehen Kameradschaften. Derjenige, der im Moment der Stärkere ist, hilft dem Schwächeren, und man tauscht Erfahrungen aus, um sich das Leben im Krankenhausalltag leichter zu machen. Ich bin froh, dass ich vor Diebstählen im Zimmer gewarnt wurde, weil man an so etwas nicht glauben kann. In diesem Krankenhaus kommt es oft zu Diebstählen, so muss man vorsichtig sein. Fremde tarnen sich als Besucher und schlagen zu, wenn man nicht immer im Zimmer ist oder gerade schläft. Das Schicksal eines anderen berührt mich besonders. Ein Kollege, es ist der Kollege an der Fensterseite, wird vermutlich nicht mehr lange leben. Sein Körper ist bereits mit einer Menge von Metastasen verseucht. Er leidet fürchterliche Schmerzen. Punktionen, die ihn vorübergehend schmerzfrei machen sollen, sind zum wiederholten Male fehlgeschlagen. Er wird mit Morphin behandelt. Eine Chemotherapie kann man bei ihm zurzeit nicht durchführen, weil er an einer Infektion leidet. So muss er noch warten. Er erhält eine Infusion nach der anderen, sein Fieber muss gesenkt werden. In so einem Stadium hat der Dirigent des Körpers sein Orchester nicht mehr richtig in der Hand. Es ergibt sich aus dem Gespräch, dass er ein Mensch mit gutem Charakter ist. Er tut mir sehr leid, so wie jeder andere Mensch auch in so einer schlimmen Situation. Da fragt man sich, was mit einem selbst geschehen wird. Mein Bein macht mir Sorgen, nach meiner Operation könnte es bewegungslos sein. Nie wieder laufen, mit Krücken gehen, im Rollstuhl sitzen, Plastikbeutel am Körper tragen – an so viele Möglichkeiten von Problemen in meiner Zukunft denke ich. Ich denke auch an unsere schöne Wohnung, in die wir erst vor Kurzem eingezogen sind. Da eröffnen sich wieder Perspektiven, die mir Mut machen. Die Wohnung ist sehr hell. Sie befindet sich im dritten Stock, schon über den Bäumen. Auf der einen Seite gibt es Blick auf die belebte Straße mit Bäumen, auf der anderen sieht man auf einen schönen Garten mit Bäumen. Da gibt es riesige Fichten, auf denen sich die Vögel nur so tummeln. Da fühlt man sich nicht so isoliert, weil es ringsum Leben gibt. Mit der modernen Kommunikation via Internet hat man auch als Invalide mit der Außenwelt Kontakt. Im Haus ist jetzt ein Lift vorhanden, mit dem ich problemlos nach unten und nach oben gelangen kann. Da sehe ich doch wieder Licht am Horizont, so Gott will, im Fall des Falles mit meiner Frau doch noch, wenn auch mit Einschränkungen, ein schönes Leben führen zu können.
Der Tag meiner Operation naht. Ich werde von einer Psychotherapeutin besucht, die hier im Krankenhaus ihren Dienst versieht. Ich bespreche mit ihr einen meiner wilden Träume vom Vortag. Im Radio höre ich über einen Atomangriff auf unser Land. Ich lege mich mit meiner Frau im Wohnzimmer auf den Fußboden, um auf den Tod zu warten. Das Unglück soll von einem Land im Westen auf uns zukommen und in 10 Minuten hier sein, so war es im Radio zu hören. Da ist er auch schon da, dieser riesige gelbrote Feuerball. Wir reichen uns noch die Hände und plötzlich ist es aus, ohne einen Schmerz zu verspüren, ohne etwas vom Sterben mitzubekommen. Dieser gewaltige Feuerball ist mir tief in Erinnerung geblieben und ich werde ihn bestimmt nie wieder vergessen können, so intensiv war dieser Traum. So ein Traum zeigt doch nur den Tod an, meine ich bestürzt. Da erklärt mir die Therapeutin, dass dieser Feuerball das Symbol für den Tumor in meinem Körper sei, der sterben wird. In nicht allzu langer Zeit wird mich der Chirurg davon befreien, wobei ich keinen Schmerz verspüren werde. Zwischen meiner Frau und mir wird die Tiefe unserer Liebe zunehmen und das Gefühl der Zusammengehörigkeit noch stärker werden. Mit dieser Interpretation des Traums kann ich mich anfreunden, bin beruhigt und warte nicht mehr so ängstlich auf den Tag, an dem ich von meinen Schmerzen befreit werde, den mir der Tumor verursacht. Es besucht mich auch eine evangelische Pfarrerin. Sie erobert mich mit ihrem angenehmen Lächeln. Sie strahlt Ruhe aus und das tut mir gut. Ich plaudere gerne mit ihr. Sie ist zurückhaltend in Bezug auf die Kirche, weil sie wahrscheinlich fühlt, dass ich mich in dieser Richtung nicht so tief einlassen möchte. So plaudern wird auf ethischer Ebene über andere Themen. Sie verspricht mir, mich öfters zu besuchen und auch an meiner Seite zu sitzen, wenn ich mich zu schwach fühle, um zu sprechen. Ich habe kein Problem damit, mich über Gott zu unterhalten. Meine Beziehung zu Gott ist ja eine gute, nur mit der Kirche habe ich Probleme. In meiner Kindheit hat sie mir Wunden hinterlassen, die nicht verheilt sind. Die Priester am Lande konnten sehr autoritär sein, da habe ich offensichtlich einen psychischen Knacks abbekommen, und diesen noch immer nicht verarbeitet. An einem Abend besucht mich der Pastor aus der Kirche, der meine Frau angehört. Er ist ein netter Mensch, ich schätze den privaten Kontakt zu ihm. Er bittet bei Gott für mich, dass er mich beschützen möge. In dieser Kirchengemeinschaft wird viel für mich gebetet. Ich bin dankbar dafür. Später, wenn ich wieder gesund bin, will ich auch Gutes an andere weitergeben. Im Moment bin ich schwach und kann niemand helfen, außer meinen Bettnachbarn mit aufmunternden Gesprächen, wenn auch ihnen die Sorgen über den Kopf wachsen.
Am Tag vor meiner Operation werde ich noch einmal zu meinem Chirurgen gebeten. Einmal mehr noch macht er mich auf alle Risiken meiner Operation aufmerksam. Es ist ein Eingriff, der weit über die Routine hinauszugehen scheint. Ich habe wieder den Eindruck, dass er sich sehr besorgt um mich zeigt. Noch könnte ich Nein zur Operation sagen, doch ich will es nicht, bleibt mir doch keine andere Wahl. Ich bin jetzt mittendrin in dieser Maschinerie, es gibt kein Zurück mehr, da muss ich einfach durch. Ich sage ihm, dass ich ihm vertraue und jeden Ausgang der Operation akzeptieren werde, egal wie die Operation ausgehen möge. Ich sehe mir seine Hände an, die mich operieren werden. Ich bin mir sicher, dass sie es nach der Entnahme des Tumors schaffen werden, mich auch wieder ordentlich zusammenzuflicken, mit dem, was an mir noch übrig bleibt. Wir blicken uns in die Augen und vertrauen einander, er scheint ein Mensch mit Handschlagqualität zu sein, da bedarf es keiner umständlichen schriftlichen Erklärungen. Zwei weitere Professoren werden bei meiner Operation an seiner Seite stehen, erfahre ich von ihm. Mein behandelnder Arzt wird sich meine Leber ansehen, weil es da ja diese Zysten gibt. Er ist Spezialist auf diesem Gebiet. Ein anderer, der vom Bereich der Mikrochirurgie gerufen wird, wenn es zum Problem an meinem rechten Bein kommen sollte. Ein Nerv an der Leiste muss durchtrennt werden. Noch weiß man nicht, wo er hingehört. Man hofft, dass es nicht der Nerv ist, der für die Bewegung zuständig ist. In den letzten Tagen hat man alles Mögliche unternommen, um mich für die Operation zu stabilisieren. Heute bekomme ich noch zwei Transfusionen zum Dessert, es sind Bluttransfusionen, die mein Blutbild wieder zum Glänzen bringen sollen. In meinem Leben habe ich oft Blut gespendet, an die sechzig Mal. Es war mir immer wichtig, als gesunder Mensch anderen Menschen mit einer Blutspende zu helfen. Ich wollte einen Teil davon weitergeben, was Gott mir an Gesundheit geschenkt hatte, und nun liege ich da und erhalte von einem anderen Menschen etwas zurück. In diesem Moment empfinde ich es als so schön, von jemand beschenkt zu werden, den man nicht kennt, aber es macht mich auch traurig, erinnert zu werden, selbst nie mehr spenden zu dürfen. Die Gedanken kreisen herum. Auf dieser Erde gibt es immer einen Anfang und ein Ende. Ich denke, dass morgen ein Lebensabschnitt von mir zu Ende gehen wird. Der erste Akt wird zu Ende sein. Es wird eine kurze Pause geben, und dann wird es mit dem zweiten, einem völlig anderen weitergehen. Ich sehe mein Leben als Bühne, gelenkt von Gott, auf der er für mich hoffentlich mehr als einen Akt vorgesehen hat.
Die Schwester kommt ins Zimmer und hängt mir das Taferl „Nüchtern“ ans Bett. Jetzt wirds langsam ernst. Ich werde morgen schon früh drankommen. Es gibt nur einen Patienten vor mir. Mein Nachbar am Fensterplatz, mit dem ich mich angefreundet habe, plaudert noch mit mir. Er erklärt mir den Ablauf des morgigen Tages, da er schon ein Profi auf diesem Gebiet ist. So bekomme ich einen besseren Überblick über all das, was rundherum um mich ablaufen wird. Er will mich auch den ganzen morgigen Tag mit positiven Gedanken begleiten, weil er mir von Herzen einen guten Ausgang meiner Operation wünscht. Über diese nette Zuwendung kann ich nur dankbar sein, und ich wäre so froh, auch ihm in seiner so schwierigen Lage irgendwie helfen zu können. Da fällt ihm zum Abschluss des Abends noch scherzend ein, dass es ein gutes Omen sei, der Zweite in der Warteposition zu sein. Mein Chirurg wird bei seiner Arbeit an mir nach seiner ersten Zigarettenpause nicht mehr so müde, aber auch noch nicht übermüdet sein. Mein Chirurg ist als starker Raucher bekannt. Jetzt ist Feierabend, ich versuche mich zu entspannen, um bald einschlafen zu können. Ich möchte für den morgigen Tag ausgeruht und kräftig sein. Es gelingt mir durchzuschlafen. Mein Abendmedikament, das ich seit meiner Depression täglich zu mir nehme, hat mir dabei geholfen.
Ich wache zu meiner gewohnten Zeit auf und da ist er, der besondere Tag, an dem sich der lebensgefährliche Tumor von meinem Körper trennen muss. Meine Gattin ist an meiner Seite, um sich von mir bis zum Abend zu verabschieden. Sie nimmt meinen Ehering an sich. Bei der Operation darf man keinen Schmuck tragen. Ein eigenartiges Gefühl, wenn man seinen gewohnten Ring nach vielen Jahren nicht mehr an der Hand verspürt. Erster Akt, Pause, zweiter Akt, fällt mir jetzt ein, als es ab zur Pause geht. Der Krankenpfleger startet mit meinem rollenden Bett durch. Die Dimensionen von Raum und Zeit verschieben sich jetzt in meiner Wahrnehmung. Ich fühle mich so klein und leicht, und alles ringsherum wirkt so groß auf mich, als würde ich es mit Kinderaugen betrachten. Ein Gang, dann ein Lift, wieder ein Gang, einmal nach rechts, einmal nach links, im Riesentempo geht’s dahin und schon bremst er sich ein. Wir stehen vor einem breiten Fenster. Es öffnet sich. Ich werde von meinem Bett auf einen Operationstisch durchgereicht.
24.11.2011Ein Ratgeber, der Mut macht
buchjournal
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