Alles aus meiner Hand

Alles aus meiner Hand

Angela Schwab


EUR 15,90
EUR 12,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 98
ISBN: 978-3-99107-305-5
Erscheinungsdatum: 20.01.2022
„Du musst perfekt sein“, sagte mir meine Mutter.Und was dachte ich? Ich glaubte, alles im Griff zu haben. Ich hielt alles fest. Aber dann bin ich gefallen, wie ein kleiner Vogel, der von seinem Netz herabfällt. Der Boden war kalt und ich war plötzlich allein.
Ich dachte ich hätte alles im Griff, aber es begann im Herbst 2016. Mir wurde zum dritten Mal der Job gekündigt, meine jüngere Tochter, die 2 ½jährig war, wurde an einem Tumor operiert. Kurze Zeit später wurde ihr eine Autismus-Spektrumsstörung diagnostiziert. 3 Monate später ging meine 18jährige Beziehung zu meinem Mann zu Ende:
Ich dachte, ich hätte alles unter Kontrolle, aber die Kontrolle verlor mich.


10.12.2015/14:15
Wer ist diese Frau die beim Laufen es immer so heilig hat, die immer so einen schnellen Schritt hat. Hat Sie diesen Laufgang von Ihrem Vater geerbt? Wer ist diese Frau die ganz viel zu erzählen hat, die mehrmals pro Woche joggen geht, manchmal auch im Dunkeln und die alleine unterwegs ist. Wer ist diese Frau, die entweder mit einem oder mit beiden Kindern einkaufen geht, die immer einen ernsten und traurigen Blick hat, die alles Drumherum genau anschaut und sich immer Fragen stellt? Alle diese Fragen kann ihr niemand beantworten.
Ich führe in Gedanken Selbstgespräche, und das tut mir gut, meistens. Ich bin alleine mit mir selbst und doch nie alleine. Gott ist bei mir, dieser Jesus ist in mir und über mir. Er ist wie ein Zweites Ich.

11.12.15/9:15
Diese Frau bin ich, schon seit 39 Jahren alt, immer noch dieselbe. Eigentlich wäre mein Name Ramona oder Natascia gewesen. Komisch nicht? Aber als im Spital diese Frage gestellt wurde war nur mein Vater anwesend. „Wie soll das Mädchen heissen?“ Wurde ihm gefragt.
Heute denke ich aber dass Angela gar kein schlechter Name ist. Die Aussprache ist offen, man kann darüber philosophieren, aber der Name ist unverwechselbar. Da merkt man sofort dass das italienisch klingt.
Es war ein warmer Sommer, sagte meine Mutter. Es war abends um 19:50 als ich zur Welt kam. Im Juni 1976. Es wurde mir gesagt dass ich ein Wunschkind war. Daran habe ich meine Zweifel, aber das spielt heute keine Rolle mehr. Es wurde mir auch gesagt ich sei ein pflegeleichtes Kind gewesen. Ich habe die Augenfarbe meines Vaters, grün-braun sind sie. Ja als Kind wollte ich immer wissen, welche Augenfarbe Kinder hatten, vielleicht weil ich mir selber blau gewünscht hatte. Ich konnte sogar erraten ob es ein Junge oder ein Mädchen wird, und komischerweise hatte ich immer Recht. Ja, ich wurde an einem Sommerabend im alten Spital in Grenchen geboren. In diesem Jahr wurden viele Mädchen geboren.
Mein Vater war ein netter Junge. Wenn ich seine Fotos anschaue denke ich, „also ich hätte den auch geheiratet!“. Er wuchs in Süditalien aus einer armen Familie heran. Sein Vater, geboren mit kurzen Beinen, war ursprünglich reich, hatte viel Land und trug sogar einen Titel. Ja, so wie diese adligen die man heute in den Zeitschriften liest. Er hiess: „Don Bellucci“. Er hiess Bellucci. Er heiratete meine Grossmutter Sofia. Sie war im Dorf bekannt weil sie ein sehr hübsches Mädchen war. Er war reich, alt, und Sie war jung und hübsch. Aber ds ist kein Märchen! So wurde mir das immer gesagt. Damals war sehr wichtig zu wissen aus welcher Familie man stammt und dass man einen guten Ruf hat. Mein Grossvater begann aber im Laufe seines Lebens zu trinken und verschuldete sich so sehr, dass er sein Land verlor. Seine Familie landete in Armut.
Mein Vater war das zweite von 4 Kindern. Er arbeitete auf dem Land. Einmal fand er ein kaputtes Velo und lerne alleine Velofahren. Er durfte zur Schule gehen, jedoch bis zur 3. Klasse. Heute kann er nur seine Unterschrift schreiben und schlecht lesen. Mein Vater ist ein gütiger Mensch, ich liebe ihn sehr. Er zeigt seine Gefühle nicht, er hat es nie gelernt. Er ist offen für Neues, ist korrekt und immer loyal und würde niemandem etwas antun. Er hilft immer wo er kann, wurde deswegen auch viel ausgenutzt. Weil seine Familie so arm war und im Dorf keine Arbeit war, kam er 1975 in die Schweiz. Sein älterer Bruder war schon hier. Sehr viele Italiener kamen zu dieser Zeit nach Grenchen um Arbeit zu suchen. Seine erste Stelle war im Baugewerbe. Dann arbeitete er als Kranführer. Er heiratete meine Mutter am 10. Oktober 1975. Damals wurden viele Paare verkuppelt. So auch meine Eltern. Meine Mutter sah meinen Vater 2 oder 3 Mal, dann heirateten sie. Aber zum Glück war es Liebe! Denn auch das ist nicht selbstverständlich! Mein Vater war damals 25 Jahre alt und sehr hübsch. Alle im Dorf meiner Mutter sagten: „Ecco l’americano! (hier ist der Amerikaner).
Als er meine Mutter besuchte, war immer eine Person die die beiden kontrollierte. Sex vor der Ehe war sowieso verboten, denn damals war es so dass wenn man vor der Ehe mit jemanden Sex hatte, wäre das für die ganze Familie eine Schande gewesen. Kein Mann würde eine Frau heiraten die bereits mit einem anderen Mann geschlafen hatte. Es war sehr wichtig, dass DIE FRAU noch Jungfrau war. Und wenn nicht, woran erkennt man dass …

13.12.15
Meine Mutter wurde auf dem Land geboren, jedoch 3 Tage später auf der Gemeinde gemeldet. Das war damals oft so weil viele nicht immer die Möglichkeit hatten, ins Dorf zu gehen. Der Esel war das häufigste Transportmittel zu dieser Zeit. Später kam dann das Auto (Cinquecento).
Meine Mutter war das erste Kind von 3. Sie sagte mir einmal, dass vor ihr jedoch ein Junge unterwegs war. Meine Mutter spürte, dass sie nicht willkommen war. Ihr Vater, also mein Grossvater, war viele Jahre im Zweiten Weltkrieg gefangen gehalten. Danach arbeitete er in Deutschland, während meine Grossmutter die Kinder alleine grosszog. Heute macht es mich traurig zu wissen, dass ich die Geschichte meines Grossvaters nicht gut kenne. Er arbeitete bei der Volkswagen und brachte das Geld nach Hause. Meine Grossmutter war sozusagen alleinerziehend. Sie konnte weder lesen noch schreiben. Nach knapp zwei Jahren kam das zweite Kind auf die Welt, Ein Junge.

Ich erzähle diese Geschichte sogut ich kenne, und vor allem damit alle die Hintergründe besser verstehen.

Meine Mutter ging zur Schule und war lernfreudig, ehrgeizig und voller Emotionen. Ja, so wie Sie heute ist. Aber das erzähle ich dann später …
Nachdem Sie die 5. Klasse abschliess, war damals das letzte obligatorische Schuljahr, entschied meine Grossmutter sie nicht mehr in die Schule zu schicken. Der Grund war die Geburt des dritten Kindes. Meine Mutter hatte die Aufgabe, zum Kleinen zu schauen. Meine Grossmutter ging morgen früh auf das Land arbeiten. Sie sagte mir oft, sie wehrte sich gegen diesen Entscheid, und weinte eine Woche lang. Auch ihre Lehrerin versuchte das Gespräch mit meiner Grossmutter, jedoch ohne Erfolg.
Als meine Grossvater mehrmals jährlich zur Familie kehrte, durfte meine Mutter ein neues Kleid und neue Schuhe kaufen. Meine Mutter musste immer Kleider anziehen die ihr nicht gefielen, aber wenn dann mein Grossvater nach Hause kam, durfte Sie diese Kleider selber aussuchen und anziehen. Meine Mutter ist meinem Grossvater sehr ähnlich. Sie behauptet Sie wisse alles noch genau. Sie hat ein gutes Gedächtnis, übernimmt gerne die Macht und die Verantwortung. Auch darüber werde ich später erzählen.
Meine Grossmutter war immer präsent, stark und liess sich nie unterordnen. Dazwischen entstand so etwas wie Hassliebe.
Mein Grossvater hatte viele Operationen und bekam sehr früh eine IV-Rente. Als er von Deutschland zurückkam, war das Zusammenleben mit meiner Grossmutter auch sehr schwierig. Mein Grossvater hatte den zweiten Weltkrieg erlebt, war in mehrere Länder gefangen gehalten. Zuhause kümmerte es sich um Lebensmittel und organisierte Vorräte, zuhause fehlte an nichts. Er und meine Grossmutter stritten viel. Was er kaufte war nie gut für Sie. Er war immer fröhlich und optimistisch, machte immer Witze und war immer aufgestellt. Meine Grossmutter war eher Einzelgängerin, wobei Sie den Kontakt zu den Nachbarn immer pflegte. Sie arbeitete auf dem Land. Entweder war die Zeit der Trauben Ernte, oder der Orangen/Zitronen Ernte oder der Oliven. Er gab immer zu Tun. Waschmaschinen gab es damals keine, also machte Sie die Wäsche an einem Brunnen. Ich erinnere mich gut, wo meine Grossmutter die Wäsche bügelte, mit heisser Kohle in einem Bügeleisen! Ich durfte aber nicht bügeln, es war zu heiss.
Meine Grossmutter sagte zu mir: „Du bindest meine Beine!“. Sie musste auf mich schauen, stattdessen hätte Sie gerne im Quartier ihre Freundinnen besucht oder wäre gerne auf „die Campagna“ gegangen. Sie war keine Hausfrau, aber Sie strickte stundenlang. Ich strickte auch, war zwischen 8 und 10 jährig. Wir strickten beide neben dem Kamin. Draussen war es kalt und die kalte Meeresluft dringte ins Dorf hinein. Ich liebte den Kamin. Ich werde diesen Geruch nie vergessen! Oft war mein Hund auch bei uns. Mein bester Freund. Er hiess Bricco, und ich liebe ihn noch heute.

15.12.15
Manchmal muss ich weinen, so wie jetzt, nur leider bekomme ich keine Erlösung. Es ist Dienstagmorgen und beide Mädchen sind weg. Vor kurzem hätte ich gleich die Jüngere zum Mond geschickt, denn Sie wollte nicht in die Spielgruppe gehen und überhaupt auch nicht dort bleiben. Meine Nerven sind so dünn geworden dass das für mich zuviel ist. Was bin ich für eine Mutter die sofort die Nerven verliert? Draussen ist es kalt, der nasse Nebel drückt auf meinem Kopf und auf meine Stimmung. Ich habe gebetet dass mein Gott mir wieder hilft und dass er all meine Taten segnet. Ich spüre es, wenn Sein Segen nicht da ist dann ist der Alltag härter und schwieriger. Ich hoffe dass ich bis 11 Uhr Ruhe habe, bevor die Spielgruppe zu Ende geht, damit ich Zeit für mich habe.
Meistens gehe ich nach draussen wenn es mir schlecht geht. Ich halte es hier in der Wohnung nicht aus. Es erdrückt mich alles, und ich halte es nicht aus. Mein früherer Psychiater sagte mir einmal: „auch ich kann manchmal nicht alles ertragen, aber es gehört zum Leben dass man gewisse Dinge aushält“. Was für eine Einstellung! Ich sage hier: ich halte gewisse Dinge nicht aus, und ich könnte schreien! Und ausserdem, ich bin nicht bereit es auszuhalten! Manchmal fahre ich auf der Autobahn mit meinem Auto Zig-Zag, und das ist befreiend. Manchmal höre ist so laut Musik im Auto dass ich denke, jetzt geht etwas kaputt! Oder ich singe mit den Tränen in den Augen, und das ist auch befreiend. Wer kennt das Gefühl? Habt ihr das manchmal auch?
Ich gehöre nicht einem Muster, ich bin nicht kantig. Ich bin halbrund und ich fliesse so wie ich bin. Ich bin schräg, und so bin ich. Ich gehe joggen was andere Hausfrauen in meiner Gegend nicht tun. Ich gehe alleine Kleider kaufen, ich gehe alleine in die Damentoilette, was andere vielleicht nicht alleine machen. Ich sage vor anderen Müttern: „ich habe genug von meinem Kindern“, ich wollte nie Kinder haben. Andere Mütter verstehen das nicht. Sie sprechen über schöne Erlebnisse und darüber, was ich Kind alles so kann. Ich rede nicht über meine Kinder. Irgendeinmal würden sie mich verlassen und dann? Was wird dann aus mir? Dann kann ich nicht mehr erzählen, was sie alles in meinem Leben gemacht haben. Ich erzähle, was ich in meinem Leben für mein Leben gemacht habe. Und wenn ich das nicht gemacht habe dann stehe ich da mit einer Leere die sowieso niemand mehr auffüllen kann. Vielleicht sitze ich im Auto neben einem Mann und habe nichts mehr zu erzählen, weil mein Leben sich immer auf das Leben meiner Kinder gedreht hat. Mein Leben ist dann verloren gegangen, und niemand wird das merken. Der Mann der neben mir sitzt hat sowieso nichts von meinem Leben mitbekommen und ist vielleicht froh, dass FRAU über die Jahre hinweg alles organisiert hat. Er spürt nicht dass seine FRAU verloren gegangen ist. Das will ich nicht miterleben. Auf keinen Frau will ich zu diesen Frauen gehören die sich verloren haben.
Auch nur deswegen weil ich eh keinen Mann habe. Mein Mann ist genau gestern vor dem Richter gesessen und ist verloren gegangen. Zwei Mal JA musste ich, nein Entschuldigung: JA durfte ich sagen, dann wurde die Scheidung ausgesprochen. Ja, 18 Jahre mit demselben Mann, 17 Jahre verheiratet. Jetzt ist dieser Mann weg, so wie meine Gefühle, vielleicht. Ich hatte nichts mehr zu sagen. Ich sass da wie ein Stein. Aber zwei Kinder bleiben noch. Aber auch sie werden ihren Weg machen, also bin ich trotzdem alleine. Ja, ich bin alleine mit meinem Leben, meinem Körper und meiner Seele. Sie gehört mir. Was mache ich jetzt damit?

15.12.15/18:30
Es ist schon hart nach Hause zu kommen und festzustellen, dass alles noch da steht wo ich es verlassen habe. Ja, nach Hause kommen mit den Händen voll Tragtaschen, verteilt nach Gewicht damit ich sie bis zum 5. Stock tragen kann. Auch die Mädchen müssen etwas tragen. Ja, mit der Hoffnung dass auch sie etwas tragen können. Die Erwartungen sind aber meistens zu hoch, denn so tollpatschig wie sie sind, stolpern sie auf ihre eigenen Füsse und lassen die Taschen am Boden fallen. Ja, ganz ohne Unfall geht das meistens nicht, sodass ich mich entscheide, alles Mögliche selber hochzutragen. Verschwitzt und entnervt komme ich ans Ziel, in den 5. Stock, und lasse alles auf dem Boden fallen. Das befreit mich und tut meiner Wut gut.
Habt ihr auch schon einmal so schlecht auf eine Situation reagiert, dass ihr am liebsten möchtet in den Boden versinken? „Es darf einfach nicht wahr sein“ aber so etwas ist mir von einer halben Stunde gerade passiert, und ich kriege es einfach nicht aus dem Kopf. Ich kann nur weinen, schon wieder! Was bin ich für eine Mutter die so reagiert wie ein Kind! Ich konnte mich nicht entschuldigen, und ich frage mich warum. Es war meine ältere Tochter. Sie streitete mit ihrer jüngeren Schwester und ich konnte es nicht aushalten. Das ist doch normal, oder? Aber selbst diese Kleinigkeiten beschäftigen mich den ganzen Tag. Warum kann ich nicht die Ruhe bewahren wenn zwei Geschwistern sich streiten? Vielleicht weil ich das selber nicht kenne weil ich ein Einzelkind bin.
Meine Hand ist geflogen. Die Tatsache zu sehen, wie mein Kind Tränen in den Augen hat, macht mich fertig. Es ist jetzt zwar vorbei, vermutlich hat sie es vergessen, aber Ich kann es nicht vergessen. Und es tut mir so leid. Ich kann nur weinen.
5 Sterne
Depression - 23.03.2022
Käufer

sehr tiefgreifende Gedanken. echt und unverblümte Geschickte eines Alltags in der Krankheit.kann ich weiterempfehlen!

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