Christine und ihre Geige

Christine und ihre Geige

Eine Begegnung mit dem Komponisten Ewald Sträßer

Dietmar Berger


EUR 14,90
EUR 8,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 102
ISBN: 978-3-99038-316-2
Erscheinungsdatum: 18.02.2014

Leseprobe:

1

„Also, zuerst nach links gucken und dann nach rechts. Kommt ein Auto?“
„Nein!“
„Motorräder, Fahrradfahrer?“
Christine blickte schnell nach links und nach rechts die Straße hinunter: „Nä!“
„Dann los. Es heißt übrigens nein, nicht nä.“
„Mama, ich weiß doch schon lange, dass ich nach links und rechts gucken soll, wenn ich über die Straße möchte. Du tust ja gerade so, als wäre ich Ingrid!“
„Wenn du das weißt, dann mach es doch auch.“

Christine und ihre Mutter überquerten die Straße. Sie brauchten sich überhaupt nicht abzuhetzen, denn es herrschte wenig Verkehr. Sie gingen geradewegs auf ein großes Reihenhaus zu, das vier Stockwerke hoch und so lang wie die ganze Straße war. Während ihre Mutter noch mal die Hausnummer mit der Zahl auf ihrem Zettel verglich, wurde Christine jetzt doch unruhig: Es hatte verschiedener Überredungskünste bedurft, ihre Eltern davon zu überzeugen, dass sie wirklich Geige lernen wollte. Als sie es dann endlich geschafft hatte, sogar Mama rumzukriegen, hatten sie ziemlich schnell eine Lehrerin ausfindig gemacht. Christine hatte den Verdacht, dass ihre Eltern möglicherweise von Anfang an nicht so dagegen gewesen waren, dass sie Geige spielen lernen wollte. Sie taten vielleicht nur so, um herauszufinden, wie ernst es ihr mit dem Wunsch war, Geige zu spielen. Dringend war der Wunsch jedoch auf jeden Fall, das hatte sie Mama und Papa durch ständiges Gequengel klarmachen können.
Nachdem die Eltern also ihr Einverständnis gegeben hatten, hoffte Christine, dass die Geigenlehrerin auch nett war. Das war ihr wichtig. Sie fragte: „Mama, glaubst du, dass Frau Neuner nett ist? Ich geh nur zum Geigenunterricht, wenn sie nett ist!“
Ihre Mutter hatte bereits geklingelt, und wenige Augenblicke später summte der Türöffner. Durch ein großes Treppenhaus erreichten sie die dritte Etage, wo eine Frau in der Tür stand und auf sie wartete. Die Frau an der Tür sprach als Erste: „Guten Tag, Frau Höwolt, guten Tag, Christine. Ich bin Frau Neuner. Kommt herein.“
Das war also ihre Geigenlehrerin. Christine mochte sie auf den ersten Blick und war ziemlich erleichtert. Das behielt sie aber zunächst für sich. Ihre Mutter sagte: „Guten Tag. Wir haben miteinander telefoniert. Christine möchte Geige spielen lernen.“
Frau Neuner führte sie in ein großes, hohes Wohnzimmer, in das durch zwei Fenster helles Sonnenlicht hereinschien. „Ihr wundert euch sicher darüber, dass ich einen Namen habe, der wie eine Zahl klingt“, sagte Frau Neuner. „Aber so hieß nun mal mein Mann! Glücklicherweise haben wir nicht neun Kinder, sondern nur Richard und Leonie. Die sind heute im Fantasialand, weil Leonie Geburtstag hat.“ Nun unterhielten sich Frau Neuner und Mama über Christine, und Christine hörte genau zu, was Mama Frau Neuner über sie erzählte. Dabei schaute sie sich neugierig im Zimmer um. An der einen Wand bemerkte sie ein großes Gemälde in einem dicken goldenen Rahmen. Das Bild stellte einen dünnen Mann mit zerzausten Haaren dar. Er trug eine seltsame Kleidung und spielte auf einer Geige. Unten auf dem Bilderrahmen stand in schwarzer Schrift ‚Niccolò Paganini‘.

Christine fand das Gemälde sehr merkwürdig. Dann entdeckte sie auf einem Tischchen in der Nähe der Fenster die beiden Geigen; sie lagen dort in zwei aufgeklappten Geigenkästen. Sie ging näher heran, um sich die Instrumente genauer anzusehen. Sofort stellte sie fest, dass die eine Geige kleiner war als die andere. Außerdem sah die kleine Geige neuer aus und glänzte. Und überhaupt: Je länger Christine die beiden Geigen miteinander verglich, desto unterschiedlicher sahen sie aus. Zum Beispiel sah das Holz der einen Geige dunkelbraun und das der anderen, der kleinen, eher gelb aus. Frau Neuner kam zu ihr, nahm die kleine, glänzende Geige und einen Bogen aus dem Kasten und stimmte die Saiten. Dann half sie ihr, sich die Geige unter das Kinn zu legen, und Christine durfte die Saiten anzupfen. Gemeinsam probierten sie noch andere Dinge aus, zum Beispiel, wie man den Bogen festhalten muss, und Frau Neuner sagte, sie mache das sehr schön. Frau Neuner nannte auch die Namen der Saiten, nämlich g, d, a, e, und dass sie sich die Namen merken solle. Während Christine also leise vor sich hinsagte: „g, d, a, e … g, d, a, e … g, d, a, e …“ unterhielten sich ihre Mama und Frau Neuner wieder, und es wurde vereinbart, dass Christine in der nächsten Woche zur gleichen Zeit wiederkommen sollte. Damit war ihre erste Geigenstunde zu Ende, und Christine hatte es eigentlich ganz gut gefallen. Richtige Musikstücke hatte sie zwar noch nicht gespielt, aber Frau Neuner hatte ihr gesagt, dass sie das noch lernen werde. Auf dem Nachhauseweg erklärte ihre Mama ihr, dass sie ab jetzt jeden Tag gemeinsam die Dinge üben würden, die Frau Neuner ihr in der Stunde gezeigt hatte. Christine war einverstanden: „Ja, das machen wir. Ein Glück, dass Frau Neuner uns die Geige gegeben hat.“ „Das ist wirklich sehr nett von Frau Neuner“, sagte ihre Mutter. „Aber sie hat uns die Geige nur ausgeliehen, und du musst sehr vorsichtig sein, dass da nichts kaputtgeht. So eine Geige ist nämlich erstens sehr empfindlich und zweitens ziemlich teuer.“ Christine entgegnete, dass das ja wohl klar sei.

Kaum waren sie zu Hause angekommen, musste Christine Papa und Ingrid ihre neue Geige zeigen und erzählen, wie gut ihr die Stunde gefallen hatte. Dabei hatte Papa auch eine eigene Geige, eine große, die schon seit langer Zeit in ihrem Kasten auf dem Schrank im Schlafzimmer lag, und er hätte daher eigentlich wissen müssen, wie eine normale Geige aussieht. Ingrid dagegen war noch viel zu klein, um etwas von Geigen verstehen zu können, und bestimmt auch nicht vorsichtig genug, als dass man ihr ein solches Instrument in die Hand hätte geben können. Außerdem wollte sie dann bestimmt auch Geige lernen. Ingrid wollte ihr nämlich immer alles nachmachen. Ingrid ist übrigens Christines kleine Schwester.

Christine grummelte etwas wie „Die Stunde war super“ und verschwand dann schnell in ihr Zimmer. Dort legte sie den Geigenkasten auf ihr Bett und öffnete ihn vorsichtig. Die Geige sah wirklich sehr schön aus, so glänzend, fast so, als schliefe sie in ihrem eigenen Bettchen.
Christine beschloss, die Geige eingehender zu untersuchen. Sie nahm sie aus dem Kasten und betrachtete den schneckenförmigen Kopf. Mit dem Zeigefinger fuhr sie am Rand der Schnecke entlang, einmal hin und wieder zurück; das machte sie auf beiden Seiten. An ihrem Zeigefinger war jetzt etwas Staub, obwohl das Holz so sauber aussah und glänzte. Christine holte auch den Bogen aus dem Kasten und drehte etwas an der Schraube an dem einen Ende. Um herauszubekommen, ob sich vielleicht etwas in der Geige befinde, spähte sie in einen der schlangenförmigen Schlitze, die vorne auf der Geige, direkt neben den Saiten, waren. Eigentlich erwartete sie, dass dort nichts als Luft wäre. Doch sofort fiel ihr der helle Holzstab im Inneren auf, der sich da nahe des einen Schlitzes befand. Unten stand er einfach auf dem Boden der Geige, oben konnte sie nichts erkennen. Sie guckte durch den Schlitz auf der anderen Seite und konnte den Stab wieder deutlich sehen. Sie rüttelte das Instrument, aber es klapperte nichts im Inneren. Sie schaute wieder durch die Schlitze. Der Stab stand noch immer an derselben Stelle. Verdattert fragte sie sich, ob da etwas kaputt wäre. Hatte sie die Geige vielleicht irgendwie beschädigt, zum Beispiel eben in der U-Bahn? Christine hatte sie so vorsichtig behandelt wie nur möglich, wie ein rohes Ei, oder wie man sonst so sagt. Sie überlegte, ob sie ihren Eltern diesen merkwürdigen Stock zeigen sollte. Ihr Vater besaß schließlich auch eine Geige und wusste vielleicht, was damit los war. Sie könnten seine Geige ja mal vom Schrank herunterholen und nachsehen, ob auch da ein Stab drin war. Doch dann entschied sie, das erst mal zu verschieben. Es war immerhin bereits spät am Abend, und sie musste bestimmt gleich ins Bett.



2

Christine fragte ihren Vater am nächsten Tag doch nicht, was der kleine Stab in ihrer Geige zu bedeuten habe. Sie vergaß überhaupt, dass sie ihn entdeckt hatte. Und sie fragte auch nicht an einem der nächsten Tage. Denn schließlich klapperte nichts in der Geige, wenn man sie schüttelte, und wenn Christine die Saiten anzupfte, wie es Frau Neuner ihr gezeigt hatte, dann klangen die Töne sehr schön. Vielleicht war ja alles normal.

Christine freute sich schon sehr auf ihre nächste Geigenstunde und übte deshalb jeden Tag ein bisschen, manchmal sogar mehrmals am Tag. Erst als sie mit ihrer Mama eine Woche später wieder zu Frau Neuner fuhr, fiel ihr die Sache mit dem Stock in ihrer Geige wieder ein. Sie erzählte ihrer Mutter jedoch immer noch nichts davon, weil sie fand, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt sei. Stattdessen berichtete sie, was ihre Freundin Katrin und sie am Morgen in der Schule während der Pause gemacht hatten. „Ritchie und Johnny haben uns wieder geärgert – wie immer, die Blöden!“
„Du sollst nicht die Blöden sagen“, erwiderte ihre Mutter. „Jungen sind halt so. Die wollen wahrscheinlich nur mit euch spielen.“
„Aber Katrin und ich, wir unterhalten uns nur, wir spielen gar nicht. Da stören die Blö… Ich meine, Ritchie und Johnny nur.“
Frau Neuner empfing sie wieder in demselben schönen Zimmer wie beim ersten Mal. Sie packte sofort die Geige und den Bogen aus und stimmte die Saiten, noch bevor Christine auch nur den Mund aufmachen konnte. Frau Neuner schien überhaupt nicht zu bemerken, dass mit der Geige etwas nicht in Ordnung sein könnte. Sie reichte Christine die Geige, damit sie all das vorspielen konnte, was sie geübt hatte.
Christine atmete erleichtert auf. Puh, alles war also okay, nichts war kaputt, und der Stab in der Geige gehörte wohl doch dorthin. Sie zupfte die Saiten an, mal laut, mal leise, und sagte die Namen der Saiten auf: „g, d, a, e.“ Oder in veränderter Reihenfolge: „a, e, g, d“ oder „g, a, d, e“ und so weiter.
Frau Neuner zeigte auf den Notenständer. Darauf lag ein Notenheft mit einem bunten Umschlag, auf dem geschrieben stand: „Violinschule“.
„Vielleicht weißt du bereits, dass man eine Geige auch als Violine bezeichnen kann“, erklärte Frau Neuner. „Diese Violinschule enthält viele Stücke sowie Übungen und Tonleitern. Ganz vorne im Heft ist eine Zeichnung von einer Geige, die zeigt, wie die einzelnen Teile heißen. Hier, guck mal!“
Die Lehrerin schlug die Seite mit der Abbildung auf. Tatsächlich war dort eine Geige zu sehen. Der Maler hatte das Instrument jedoch nicht realistisch dargestellt, sondern nur mit schwarzen Umrisslinien, ganz ohne Farbe. Es sah so aus, als ob man durch es hindurchsehen könnte, als wäre es aus Glas. Und da! Christine wäre vor Überraschung fast umgekippt! Da war auch der Stock gezeichnet, neben den Schlitzen, so wie in ihrer Geige! Sie stotterte: „In meiner Violine ist auch so ein Stock!“
Frau Neuner sah sie überrascht an. Das war ja immerhin das erste Mal, dass Christine überhaupt etwas sagte. Bisher hatte sie nur mit dem Kopf genickt, wenn Frau Neuner sie etwas gefragt hatte, und zweimal hatte sie den Kopf geschüttelt, weil sie etwas nicht verstanden hatte. Frau Neuner war daher nicht etwa darüber erstaunt, dass sich in Christines Geige ein Stock befand, sondern weil sie überhaupt etwas gesagt hatte. Und zwar deshalb, weil Christine sowohl überrascht als auch erleichtert war, als sie den Stock auf der Zeichnung sah. So ein Stab musste also in einer Geige sein! Auf dem Bild war neben dem Stock ein Pfeil eingezeichnet, und dahinter stand geschrieben: Stimmstock.
„Das ist gut, dass in deiner Geige auch ein Stimmstock ist, denn er ist nötig, damit sie gut klingt“, erklärte Frau Neuner. „Manche Geigenspieler nennen den Stimmstock auch die Seele des Instruments, und erst durch die Seele kann das Instrument sprechen beziehungsweise singen.“
Das verstand Christine nicht. Ihre Geige konnte doch nicht sprechen. Ja, sie konnte noch nicht einmal irgendein Geräusch machen. Es sei denn, Christine zupfte die Saiten an, aber das waren ja dann richtige Töne. Und das Wort Seele hatte Christine noch nie gehört. Doch, fiel ihr ein, in der Kirche. Oder vielleicht doch nicht?

1

„Also, zuerst nach links gucken und dann nach rechts. Kommt ein Auto?“
„Nein!“
„Motorräder, Fahrradfahrer?“
Christine blickte schnell nach links und nach rechts die Straße hinunter: „Nä!“
„Dann los. Es heißt übrigens nein, nicht nä.“
„Mama, ich weiß doch schon lange, dass ich nach links und rechts gucken soll, wenn ich über die Straße möchte. Du tust ja gerade so, als wäre ich Ingrid!“
„Wenn du das weißt, dann mach es doch auch.“

Christine und ihre Mutter überquerten die Straße. Sie brauchten sich überhaupt nicht abzuhetzen, denn es herrschte wenig Verkehr. Sie gingen geradewegs auf ein großes Reihenhaus zu, das vier Stockwerke hoch und so lang wie die ganze Straße war. Während ihre Mutter noch mal die Hausnummer mit der Zahl auf ihrem Zettel verglich, wurde Christine jetzt doch unruhig: Es hatte verschiedener Überredungskünste bedurft, ihre Eltern davon zu überzeugen, dass sie wirklich Geige lernen wollte. Als sie es dann endlich geschafft hatte, sogar Mama rumzukriegen, hatten sie ziemlich schnell eine Lehrerin ausfindig gemacht. Christine hatte den Verdacht, dass ihre Eltern möglicherweise von Anfang an nicht so dagegen gewesen waren, dass sie Geige spielen lernen wollte. Sie taten vielleicht nur so, um herauszufinden, wie ernst es ihr mit dem Wunsch war, Geige zu spielen. Dringend war der Wunsch jedoch auf jeden Fall, das hatte sie Mama und Papa durch ständiges Gequengel klarmachen können.
Nachdem die Eltern also ihr Einverständnis gegeben hatten, hoffte Christine, dass die Geigenlehrerin auch nett war. Das war ihr wichtig. Sie fragte: „Mama, glaubst du, dass Frau Neuner nett ist? Ich geh nur zum Geigenunterricht, wenn sie nett ist!“
Ihre Mutter hatte bereits geklingelt, und wenige Augenblicke später summte der Türöffner. Durch ein großes Treppenhaus erreichten sie die dritte Etage, wo eine Frau in der Tür stand und auf sie wartete. Die Frau an der Tür sprach als Erste: „Guten Tag, Frau Höwolt, guten Tag, Christine. Ich bin Frau Neuner. Kommt herein.“
Das war also ihre Geigenlehrerin. Christine mochte sie auf den ersten Blick und war ziemlich erleichtert. Das behielt sie aber zunächst für sich. Ihre Mutter sagte: „Guten Tag. Wir haben miteinander telefoniert. Christine möchte Geige spielen lernen.“
Frau Neuner führte sie in ein großes, hohes Wohnzimmer, in das durch zwei Fenster helles Sonnenlicht hereinschien. „Ihr wundert euch sicher darüber, dass ich einen Namen habe, der wie eine Zahl klingt“, sagte Frau Neuner. „Aber so hieß nun mal mein Mann! Glücklicherweise haben wir nicht neun Kinder, sondern nur Richard und Leonie. Die sind heute im Fantasialand, weil Leonie Geburtstag hat.“ Nun unterhielten sich Frau Neuner und Mama über Christine, und Christine hörte genau zu, was Mama Frau Neuner über sie erzählte. Dabei schaute sie sich neugierig im Zimmer um. An der einen Wand bemerkte sie ein großes Gemälde in einem dicken goldenen Rahmen. Das Bild stellte einen dünnen Mann mit zerzausten Haaren dar. Er trug eine seltsame Kleidung und spielte auf einer Geige. Unten auf dem Bilderrahmen stand in schwarzer Schrift ‚Niccolò Paganini‘.

Christine fand das Gemälde sehr merkwürdig. Dann entdeckte sie auf einem Tischchen in der Nähe der Fenster die beiden Geigen; sie lagen dort in zwei aufgeklappten Geigenkästen. Sie ging näher heran, um sich die Instrumente genauer anzusehen. Sofort stellte sie fest, dass die eine Geige kleiner war als die andere. Außerdem sah die kleine Geige neuer aus und glänzte. Und überhaupt: Je länger Christine die beiden Geigen miteinander verglich, desto unterschiedlicher sahen sie aus. Zum Beispiel sah das Holz der einen Geige dunkelbraun und das der anderen, der kleinen, eher gelb aus. Frau Neuner kam zu ihr, nahm die kleine, glänzende Geige und einen Bogen aus dem Kasten und stimmte die Saiten. Dann half sie ihr, sich die Geige unter das Kinn zu legen, und Christine durfte die Saiten anzupfen. Gemeinsam probierten sie noch andere Dinge aus, zum Beispiel, wie man den Bogen festhalten muss, und Frau Neuner sagte, sie mache das sehr schön. Frau Neuner nannte auch die Namen der Saiten, nämlich g, d, a, e, und dass sie sich die Namen merken solle. Während Christine also leise vor sich hinsagte: „g, d, a, e … g, d, a, e … g, d, a, e …“ unterhielten sich ihre Mama und Frau Neuner wieder, und es wurde vereinbart, dass Christine in der nächsten Woche zur gleichen Zeit wiederkommen sollte. Damit war ihre erste Geigenstunde zu Ende, und Christine hatte es eigentlich ganz gut gefallen. Richtige Musikstücke hatte sie zwar noch nicht gespielt, aber Frau Neuner hatte ihr gesagt, dass sie das noch lernen werde. Auf dem Nachhauseweg erklärte ihre Mama ihr, dass sie ab jetzt jeden Tag gemeinsam die Dinge üben würden, die Frau Neuner ihr in der Stunde gezeigt hatte. Christine war einverstanden: „Ja, das machen wir. Ein Glück, dass Frau Neuner uns die Geige gegeben hat.“ „Das ist wirklich sehr nett von Frau Neuner“, sagte ihre Mutter. „Aber sie hat uns die Geige nur ausgeliehen, und du musst sehr vorsichtig sein, dass da nichts kaputtgeht. So eine Geige ist nämlich erstens sehr empfindlich und zweitens ziemlich teuer.“ Christine entgegnete, dass das ja wohl klar sei.

Kaum waren sie zu Hause angekommen, musste Christine Papa und Ingrid ihre neue Geige zeigen und erzählen, wie gut ihr die Stunde gefallen hatte. Dabei hatte Papa auch eine eigene Geige, eine große, die schon seit langer Zeit in ihrem Kasten auf dem Schrank im Schlafzimmer lag, und er hätte daher eigentlich wissen müssen, wie eine normale Geige aussieht. Ingrid dagegen war noch viel zu klein, um etwas von Geigen verstehen zu können, und bestimmt auch nicht vorsichtig genug, als dass man ihr ein solches Instrument in die Hand hätte geben können. Außerdem wollte sie dann bestimmt auch Geige lernen. Ingrid wollte ihr nämlich immer alles nachmachen. Ingrid ist übrigens Christines kleine Schwester.

Christine grummelte etwas wie „Die Stunde war super“ und verschwand dann schnell in ihr Zimmer. Dort legte sie den Geigenkasten auf ihr Bett und öffnete ihn vorsichtig. Die Geige sah wirklich sehr schön aus, so glänzend, fast so, als schliefe sie in ihrem eigenen Bettchen.
Christine beschloss, die Geige eingehender zu untersuchen. Sie nahm sie aus dem Kasten und betrachtete den schneckenförmigen Kopf. Mit dem Zeigefinger fuhr sie am Rand der Schnecke entlang, einmal hin und wieder zurück; das machte sie auf beiden Seiten. An ihrem Zeigefinger war jetzt etwas Staub, obwohl das Holz so sauber aussah und glänzte. Christine holte auch den Bogen aus dem Kasten und drehte etwas an der Schraube an dem einen Ende. Um herauszubekommen, ob sich vielleicht etwas in der Geige befinde, spähte sie in einen der schlangenförmigen Schlitze, die vorne auf der Geige, direkt neben den Saiten, waren. Eigentlich erwartete sie, dass dort nichts als Luft wäre. Doch sofort fiel ihr der helle Holzstab im Inneren auf, der sich da nahe des einen Schlitzes befand. Unten stand er einfach auf dem Boden der Geige, oben konnte sie nichts erkennen. Sie guckte durch den Schlitz auf der anderen Seite und konnte den Stab wieder deutlich sehen. Sie rüttelte das Instrument, aber es klapperte nichts im Inneren. Sie schaute wieder durch die Schlitze. Der Stab stand noch immer an derselben Stelle. Verdattert fragte sie sich, ob da etwas kaputt wäre. Hatte sie die Geige vielleicht irgendwie beschädigt, zum Beispiel eben in der U-Bahn? Christine hatte sie so vorsichtig behandelt wie nur möglich, wie ein rohes Ei, oder wie man sonst so sagt. Sie überlegte, ob sie ihren Eltern diesen merkwürdigen Stock zeigen sollte. Ihr Vater besaß schließlich auch eine Geige und wusste vielleicht, was damit los war. Sie könnten seine Geige ja mal vom Schrank herunterholen und nachsehen, ob auch da ein Stab drin war. Doch dann entschied sie, das erst mal zu verschieben. Es war immerhin bereits spät am Abend, und sie musste bestimmt gleich ins Bett.



2

Christine fragte ihren Vater am nächsten Tag doch nicht, was der kleine Stab in ihrer Geige zu bedeuten habe. Sie vergaß überhaupt, dass sie ihn entdeckt hatte. Und sie fragte auch nicht an einem der nächsten Tage. Denn schließlich klapperte nichts in der Geige, wenn man sie schüttelte, und wenn Christine die Saiten anzupfte, wie es Frau Neuner ihr gezeigt hatte, dann klangen die Töne sehr schön. Vielleicht war ja alles normal.

Christine freute sich schon sehr auf ihre nächste Geigenstunde und übte deshalb jeden Tag ein bisschen, manchmal sogar mehrmals am Tag. Erst als sie mit ihrer Mama eine Woche später wieder zu Frau Neuner fuhr, fiel ihr die Sache mit dem Stock in ihrer Geige wieder ein. Sie erzählte ihrer Mutter jedoch immer noch nichts davon, weil sie fand, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt sei. Stattdessen berichtete sie, was ihre Freundin Katrin und sie am Morgen in der Schule während der Pause gemacht hatten. „Ritchie und Johnny haben uns wieder geärgert – wie immer, die Blöden!“
„Du sollst nicht die Blöden sagen“, erwiderte ihre Mutter. „Jungen sind halt so. Die wollen wahrscheinlich nur mit euch spielen.“
„Aber Katrin und ich, wir unterhalten uns nur, wir spielen gar nicht. Da stören die Blö… Ich meine, Ritchie und Johnny nur.“
Frau Neuner empfing sie wieder in demselben schönen Zimmer wie beim ersten Mal. Sie packte sofort die Geige und den Bogen aus und stimmte die Saiten, noch bevor Christine auch nur den Mund aufmachen konnte. Frau Neuner schien überhaupt nicht zu bemerken, dass mit der Geige etwas nicht in Ordnung sein könnte. Sie reichte Christine die Geige, damit sie all das vorspielen konnte, was sie geübt hatte.
Christine atmete erleichtert auf. Puh, alles war also okay, nichts war kaputt, und der Stab in der Geige gehörte wohl doch dorthin. Sie zupfte die Saiten an, mal laut, mal leise, und sagte die Namen der Saiten auf: „g, d, a, e.“ Oder in veränderter Reihenfolge: „a, e, g, d“ oder „g, a, d, e“ und so weiter.
Frau Neuner zeigte auf den Notenständer. Darauf lag ein Notenheft mit einem bunten Umschlag, auf dem geschrieben stand: „Violinschule“.
„Vielleicht weißt du bereits, dass man eine Geige auch als Violine bezeichnen kann“, erklärte Frau Neuner. „Diese Violinschule enthält viele Stücke sowie Übungen und Tonleitern. Ganz vorne im Heft ist eine Zeichnung von einer Geige, die zeigt, wie die einzelnen Teile heißen. Hier, guck mal!“
Die Lehrerin schlug die Seite mit der Abbildung auf. Tatsächlich war dort eine Geige zu sehen. Der Maler hatte das Instrument jedoch nicht realistisch dargestellt, sondern nur mit schwarzen Umrisslinien, ganz ohne Farbe. Es sah so aus, als ob man durch es hindurchsehen könnte, als wäre es aus Glas. Und da! Christine wäre vor Überraschung fast umgekippt! Da war auch der Stock gezeichnet, neben den Schlitzen, so wie in ihrer Geige! Sie stotterte: „In meiner Violine ist auch so ein Stock!“
Frau Neuner sah sie überrascht an. Das war ja immerhin das erste Mal, dass Christine überhaupt etwas sagte. Bisher hatte sie nur mit dem Kopf genickt, wenn Frau Neuner sie etwas gefragt hatte, und zweimal hatte sie den Kopf geschüttelt, weil sie etwas nicht verstanden hatte. Frau Neuner war daher nicht etwa darüber erstaunt, dass sich in Christines Geige ein Stock befand, sondern weil sie überhaupt etwas gesagt hatte. Und zwar deshalb, weil Christine sowohl überrascht als auch erleichtert war, als sie den Stock auf der Zeichnung sah. So ein Stab musste also in einer Geige sein! Auf dem Bild war neben dem Stock ein Pfeil eingezeichnet, und dahinter stand geschrieben: Stimmstock.
„Das ist gut, dass in deiner Geige auch ein Stimmstock ist, denn er ist nötig, damit sie gut klingt“, erklärte Frau Neuner. „Manche Geigenspieler nennen den Stimmstock auch die Seele des Instruments, und erst durch die Seele kann das Instrument sprechen beziehungsweise singen.“
Das verstand Christine nicht. Ihre Geige konnte doch nicht sprechen. Ja, sie konnte noch nicht einmal irgendein Geräusch machen. Es sei denn, Christine zupfte die Saiten an, aber das waren ja dann richtige Töne. Und das Wort Seele hatte Christine noch nie gehört. Doch, fiel ihr ein, in der Kirche. Oder vielleicht doch nicht?

Das könnte ihnen auch gefallen :

Christine und ihre Geige

Sandra Pflug

Die Straßenhund-Mami und ihr Kind Ulma

Buchbewertung:
*Pflichtfelder