Das Abenteuer von Galvin Kowalski

Das Abenteuer von Galvin Kowalski

Diana Lehmann


EUR 22,90
EUR 13,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 366
ISBN: 978-3-99064-629-8
Erscheinungsdatum: 29.10.2019

Leseprobe:

Auf dem Nachhauseweg kann er an nichts anderes mehr denken als an dieses Mädchen, er will nicht wahrhaben, dass sie ihn so gedemütigt und beleidigt hat. Seine Gefühle schwanken von deprimiert auf niedergeschlagen zu untröstlich. Nach einer Weile wechselt die Gemütslage von einer Verbitterung in eine Art selbstschützerische Abneigung gegen dieses Mädchen.
Wie er zu Hause ankommt, muss sich Galvin sehr zusammenreißen, er will nicht, dass seine Familie ihm irgendetwas anmerkt. So läuft er schnurstracks durch den Korridor, ohne nach links und nach rechts zu sehen, und rennt die Treppe hinauf. Seine Mutter Sandra fragt ihn beim Vorbeilaufen, ob er noch etwas zu Abend essen möchte. Muffig hat er geantwortet und knallt nun die Türe zu. Er will weder etwas essen noch mit jemandem darüber reden.
Der Junge schließt die Türe ab, da er genau weiß, dass seine Mutter in Kürze vor seinem Zimmer stehen wird und hartnäckig wissen will, was passiert ist.
Keine Minute später ist es so weit, Sandra und seine Geschwister trommeln an seine Türe und erkundigen sich nach seinem Befinden.
Nach etlichen bösartigen Kommentaren wie: „Zischt ab!“ und „Lasst mich in Ruhe!“ geben sie schließlich auf und gehen ins Wohnzimmer hinunter.
Galvin liegt weinend auf seinem Bett und sieht keinen Sinn mehr in seinem Leben.


Kapitel 2
Liebeskummer

Galvin, der älteste Sohn von Walter und Sandra Kowalski, sitzt in seinem Zimmer und schaut betrübt aus dem Fenster. Draußen ist der Frühling eingekehrt, von schneebedeckten Gärten erscheinen nun aus dem saftig genährten Gras die ersten Krokusse und Tulpen.
Die ersten Nachbarn arbeiten bereits im Garten, und auch seine Mutter hat alle Hände voll zu tun mit Umstechen und Säen. Der siebzehnjährige Junge mit den hellbraunen kurzen Haaren drückt sich immer, wenn es um Gartenarbeit geht.
In der Erde herumzustochern und stundenlanges Jäten ist nicht sein Fall.
Romina dagegen ist ein richtiges Blumenkind.
Sie hilft im Garten und pflanzt ihre eigenen Blumen, welche sie dann das ganze Jahr hindurch stolz präsentiert. Jetzt macht sie sich gerade an die Arbeit, die Schildkröte Molly aus dem Keller zu holen und ihr ein schönes Terrarium zu basteln. Als die Familie vor einigen Jahren die Echse angeschafft hat, war sie nicht größer als ein Fünfliberstück. In den vergangenen sechs Jahren hat die gepanzerte Echse etwa zwanzig Zentimeter an Größe zugelegt. Romina setzt das Tier auf einen sonnenbeschienenen Stein und beobachtet, wie diese ihren Kopf gemächlich an die Wärme streckt.
Vater Walter ist früh von der Arbeit heimgekehrt und versucht nun krampfhaft, den Rasenmäher in Gang zu bringen.
Im Nebenzimmer poltert es, weil Frank eine alte Fahne sucht, die er für einen Vortrag in der Schule bräuchte. Lautes Gefluche ertönt von dem Jungen, ebenfalls zeitgleich von Walter im Garten draußen.
„Interessiert mich alles nicht“, denkt Galvin trotzig und verschränkt die Arme auf seinem Pult. Seine Gedanken schweifen wieder zu seinem erlebten Schmerz, mit dem Mädchen seiner Träume, was ihn fast wahnsinnig macht.
Er denkt an die vergangenen Szenen in der Bäckerei sowie an das unangenehme Treffen am See. „Mit einem pickligen Grünschnabel wolle sie nichts zu tun haben“, wie sie ihm arrogant erklärte.
Nach ihrer Zusage zum ersten gemeinsamen Treffen fühlte er sich wie im siebten Himmel und war glücklich. Warum sie mit seinen Gefühlen gespielt und ihn für dumm verkauft hatte, kann er nicht verstehen.
Diese Tatsache hätte Galvin eigentlich schon viel früher auffallen sollen, denn jeden Blick auf dem Schulplatz, jede Geste von ihm hat sie absichtlich ignoriert und mit ihren Busenfreundinnen ins Lächerliche gezogen.
Aus seiner Klasse wussten alle, dass er nur einer von vielen Jungs ist, die verliebt in Yuma Vanghoven sind. „Da hat sie es nicht nötig, mit mir, mit dem schlaksigen, pickligen Galvin Kowalski, etwas anfangen zu wollen“, denkt er verbittert.
Eines Nachmittags entdeckte der Junge seine Angebetete, wie sie durch die Altstadt von Schwarzenfels fuhr. Ohne lange zu überlegen, trat er wie ein Irrer in die Pedale, konnte sie aber nicht einholen, zu groß war der Vorsprung.
Er wollte eine Antwort auf die berechtigte Frage, weshalb sie überhaupt zum Treffen zusagte, obwohl sie niemals Interesse für ihn zeigte. Eigentlich könnte er sich die Antwort selbst geben, aber irgendetwas in ihm verlangt dies. Weit entfernt, sah er das Mädchen in eine Nebenstraße verschwinden, und Galvin sauste wie der Blitz hinterher.
Eine Stunde lang radelte der Junge umher, bis es langsam eindunkelte und er die Suche schlussendlich aufgab.
Als hätte die Liebe nicht schon gegen ihn gespielt, fing es wie aus Kübeln an zu regnen. Der Pechvogel kam völlig durchnässt und viel zu spät nach Hause, was einen Riesenärger und Konsequenzen mit sich zog. Sein Vater war außer sich und befahl ihm, mit diesen albernen Hirngespinsten aufzuhören und nicht mehr an dieses Mädchen zu denken. Er sei ja nicht mehr bei Trost, bereits aus der Schule erhielten die Eltern einen tadelnden Brief, in dem unmissverständlich seine Abwesenheiten und die schlechter gewordenen Noten beschrieben waren.
Es hagelte vierzehn Tage Hausarrest für sein unmögliches Benehmen, und zum Schluss folgte ein heftiger Streit, bei dem sich Galvin und seine Eltern nur noch anschrien. Es kam der Moment, in dem der Junge seine Eltern beleidigte, was eine schallende Ohrfeige zur Folge hatte.
Grollend verließ er dann die Küche, er fühlte sich unverstanden und verweigerte fortan den Kontakt mit seiner Familie und den Mitschülern.
Seither hat sich Galvin in seinem Zimmer vergraben und das Essen, welches ihm die Mutter sogar aus der Küche hochbringt, kaum angerührt.
Heute an diesem Freitag, ein trübseliger Tag wie jeder andere, hockt der Siebzehnjährige in seinem Zimmer und kritzelt wirres Zeug auf einen Zettel. Anstatt zu lernen, spielt sich die Szene vom See immer wieder vor seinen Augen ab.
Während er gedankenverloren die Wand anstarrt, fällt sein Blick auf den kleinen Holzzwerg, welcher seit Jahren an der Pinnwand hängt. Er hat ihn von seinen Eltern zum zwölften Geburtstag bekommen.
Der aus Eichenholz geschnitzte Zwerg hat eine längliche Nase und große Pausbacken mit einem breiten Lachen. Anhand der Furchen in seinem Gesicht und der dichten, buschigen Augenbrauen stellt der kleine Mann ein älteren Zwerg dar. Auf dem Kopf trägt er eine Zipfelmütze, und in der rechten Hand, hält er eine Schaufel.
Walter erklärte damals seinem Sohn die Bedeutung dieses Holzstücks. „Er ist ein Glücksbringer für dich, wird dich immer beschützen, und wenn du auf dein Herz hörst, wird er dir den Weg weisen, denke immer daran.“ Er erzählte weiter: „Ich selbst habe von meinem Vater einen ähnlichen Talisman bekommen, schau her.“ Aus einer alten Schachtel nahm er einen Zwerg aus demselben Holz hervor.
Walter fuhr fort:
„In jeder schwierigen Situation hat mir dieser Glücksbringer weitergeholfen.“ Aufgrund Galvins fragendem Gesichtsausdruck erklärte er weiter:
„Wenn ich nicht mehr weiterwusste und ein Problem nicht lösen konnte, begab ich mich an meinen Lieblingsplatz und habe ihn ganz fest an mich gedrückt. Die Augen hatte ich immer geschlossen, und auf einmal kamen mir alle Antworten und Lösungen in den Sinn! Es war unglaublich! Deswegen bedeutet mir dieser Talisman sehr viel, und ich wünsche dir dieselbe Klarheit, die ich mit ihm erfahren habe.“
Galvin hat diese Geschichte nie vergessen und heute, acht Jahre später, grübelt er an seinem Schreibtisch über seine Zukunft nach. Spontan schnappt er sich den Glücksbringer, zieht sich die Schuhe an und verlässt das Haus. Er will wissen, ob diese Geschichte bei ihm auch funktioniert.
Am anderen Ende der Stadt liegt ein bekannter und vielbesuchter Aussichtspunkt, welcher ihm sehr gefällt. Von diesem Standort haben die Besucher einen wunderbaren Blick auf die fernen Spitzberge, eine Gebirgskette, welche das ganze Jahr über mit Schnee bedeckt ist.
Auf seinen eigentlichen Lieblingsplatz, den Schwarzsee, hat der Junge nach dem überaus enttäuschenden Treffen wahrhaftig keine Lust. Er streift sich einen braunen Pullover über, zieht Turnschuhe an und läuft in die Garage zu seinem Fahrrad. Außer in die Schule zu gehen, hat er es nicht benutzt und auch jetzt fühlt sich der freiwillige Gang nach draußen etwas komisch an. Den Talisman im Hosensack, steigt er auf und fährt los. Die Sonne scheint auf sein bleiches Gesicht, und mit den schwarzen Augenringen sieht er ein wenig Furcht einflößend aus.
Der kühle Fahrtwind weht ihm um die Nase, und er atmet die frische Luft ein, welche seine Lungenflügel durchströmen.
Er fährt der Hauptstraße entlang bis zur Eisenbahnbrücke und biegt danach links ab. Gleich ist er bei seinem Ziel angekommen, jedoch muss er den kleinen Hügel hochfahren, auf den er in seiner momentanen Gemütslage keine Lust hat.
Vor seinem Liebeskummer fuhr er nach der Schule des Öfteren hierhin, und jedes Mal hatte er keine große Mühe, den Hügel zu meistern.
Galvin fühlt sich, als wären er und sein ganzer Körper eingeschlafen. Keuchend schiebt er das Fahrrad über den Kieselsteinweg und bemerkt, wie die Muskelfasern in seinen Waden rebellieren.
Als der Junge endlich oben angekommen ist, sieht er, dass die Trinkflasche vom vorderen Tag noch in der Halterung steckt. Über einen Tropfen Wasser hat er sich selten so gefreut und setzt sich bei der großen Marmorstatue auf den Sockel.
Während er das erfrischende Wasser trinkt, schaut er zu den Spitzbergen hin. Sie vermitteln einen majestätischen und unnahbaren Eindruck, welcher jedem Betrachter unvergesslich bleibt. Galvin hat diesen Anblick schon immer gemocht. Das Gebirge liegt mehrere Autostunden entfernt, aber je nach Föhnlage sind die imposanten Bergkämme wahrhaftig zum Greifen nah.
Sein Blick schweift wieder zur Stadt hinunter, zu einer bestimmten Ecke, in der Yuma Vanghofen zu Hause ist. Dieser Stadtteil von Schwarzenfels kennt er noch von einem Kollegen, den er früher des Öfteren besucht hat.
Schnell schwirren ein paar Gedanken durch seinen Kopf, ob Yuma vielleicht zu Hause ist und ob er sie mit einem spontanen Besuch überraschen sollte. Bei dieser Idee spürt er aber selbst, dass dies sehr wahrscheinlich nicht gut ankommen würde, und redet sich das gleich wieder aus.
Die gehässige und arrogante Art, wie sie ihn am Schwarzsee stehen ließ, wird er noch lange nicht vergessen. Auch der Schmerz in der Brust taucht immer wieder auf, sobald er an sie denkt. Während seines Liebeskummers dachte er oft daran, ob es jemand empfinden oder auffallen würde, wenn er plötzlich nicht mehr da wäre?! Ob Yuma ihn ernst nehmen würde, wenn er auf einmal einen Unfall hätte oder sogar im Sterben läge?
Seine Gedanken schweifen zu Marcel, dem früheren Kollegen, welcher sich auf tragische Weise das Leben genommen hat. Er wuchs alleine bei seiner Mutter auf, sein Vater starb, als er noch ein kleiner Junge war.
Die Mutter wurde mit der Zeit immer verbitterter, und Marcel hat sich die Schwierigkeit auferlegt, ihr alles immer recht zu machen.
Sie fing dann zu trinken an und trieb sich mit zwielichtigen Männern herum, während er zu Hause für Ordnung gesorgt hat. Er hatte sogar neben der Schule gearbeitet und auf sein Leben als Jugendlicher verzichtet. Es kam der Moment, als sie begann, ihn zu schlagen, trotzdem ließ er sie nie im Stich.
Galvin konnte ihm nicht helfen, sosehr er es wollte, Marcel hatte es sich in den Kopf gesetzt, stets für seine Mutter da zu sein.
Es kam der Zeitpunkt, und der Junge hat sich in ein Mädchen verliebt, die beiden waren unzertrennlich. Fast jeden Tag haben sie zusammen verbracht, und Marcel blühte regelrecht auf. Seine Mutter hingegen hat unter der jungen Liebe so sehr gelitten, dass sie versuchte, die Beziehung der beiden zu zerstören.
Aus irgendeinem Grund waren die Eltern des Mädchens gezwungen, von Schwarzenfels wegzuziehen. Es passierte alles so schnell, und das Paar konnte sich nur noch knapp verabschieden. Das war für Marcel zu viel. Er hatte genug vom Leben erfahren, und ohne sein Mädchen wollte er nicht weiterleben. An einem Tag im April begab er sich etwas außerhalb der Stadt zum Geleise und sprang vor den Zug.
In den täglichen Nachrichten, welche Walter Kowalski nie verpasst, wurden dann Bilder des Tatortes gezeigt und der Name des Opfers genannt.
Für Galvin brach damals eine Welt zusammen, und er machte sich haufenweise Vorwürfe.
Heute aber ist er um einiges älter und versteht, weshalb sein Freund nicht mehr leben wollte. Er musste sich eingestehen, dass sein Leben weitaus besser verläuft als das von Marcel.
Der Junge auf dem Sockel schickt einen lieben Gruß zum Himmel und erinnert sich wieder an den Grund seines spontanen Ausflugs.
Als er den Zwerg aus der Brusttasche hervorholt, überlegt er sich, ob das funktionieren könnte. Während er den Holztalisman betrachtet und mit dem Zeigefinger über die vielen Kanten fährt, wird ihm bewusst, dass das Leben sicher noch mehr zu bieten hat.
Er hat genug vom Liebeskummer, der ihn fast auffrisst und keinen Sinn ergibt.
Zugleich findet er es doof, von den Mädchen nur als der nette Galvin angesehen zu werden. „Wann würde er sich in ein Mädchen verlieben, welches seine Gefühle erwidert?“, fragt sich der Junge.
Dass sich der Siebzehnjährige eine Freundin wünscht, wissen auch seine Kameraden in der Schule, ihm ist es aber peinlich, über diese Sache reden zu müssen. Die Jungs spotten zwar nicht über sein Pech, die Blicke bemerkt er trotzdem und kann sich in etwa ausmalen, was man denkt.
Seitdem er Yuma das erste Mal gesehen hat, erhoffte sich Galvin auch eine Beziehung, doch leider kam es anders.
Aus heiterem Himmel meldet sich plötzlich eine Stimme in seinem Kopf, welche sagt:
„Irgendwo in der Welt wird es ein Mädchen geben, das dich liebt, wie du bist, und dich überallhin begleiten wird. Hab Geduld und such nicht am falschen Ort!“ Etwas irritiert guckt Galvin auf den stummen Zwerg in der Hand, und ihm wird bald klar, dass diese besondere Botschaft von seinem Glücksbringer kommt. Wahrscheinlich hat das Vater genauso erlebt und wusste dann, was zu tun war. „Wie soll ich denn das angehen?“, fragt er laut vor sich hin und wartet. Doch nichts zieht durch seine Gedanken, keine Stimme meldet sich. Seufzend stellt er sein Mitbringsel neben sich hin und schaut wieder zu den Spitzbergen. „Mach dich auf und geh, wage ein Abenteuer“, fährt es wieder durch seinen Kopf, und der Junge schaut verdutzt auf den Zwerg. Er überlegt eine Weile, was damit gemeint sein könnte, und fühlt plötzlich eine aufbäumende Kraft in ihm, welche er selten zuvor gespürt hat. Es kribbelt im ganzen Körper, als würden Tausende Ameisen auf ihm herumkrabbeln. Auf den Armen bekommt er Gänsehaut, als stehe er unter einer eiskalten Dusche, und fühlt sich so erfrischt, dass er Bäume ausreißen könnte. „Mysteriöse Sache“, denkt er sich und trinkt von seiner Wasserflasche. Auf einmal spürt Galvin, wie diese innere Kraft seine Hand leitet und nach einem spitzen Stein greifen lässt.
Mit diesem ritzt er, exakt und gekonnt, ein ihm unbekanntes Zeichen in den Sandsteinsockel.

Auf dem Nachhauseweg kann er an nichts anderes mehr denken als an dieses Mädchen, er will nicht wahrhaben, dass sie ihn so gedemütigt und beleidigt hat. Seine Gefühle schwanken von deprimiert auf niedergeschlagen zu untröstlich. Nach einer Weile wechselt die Gemütslage von einer Verbitterung in eine Art selbstschützerische Abneigung gegen dieses Mädchen.
Wie er zu Hause ankommt, muss sich Galvin sehr zusammenreißen, er will nicht, dass seine Familie ihm irgendetwas anmerkt. So läuft er schnurstracks durch den Korridor, ohne nach links und nach rechts zu sehen, und rennt die Treppe hinauf. Seine Mutter Sandra fragt ihn beim Vorbeilaufen, ob er noch etwas zu Abend essen möchte. Muffig hat er geantwortet und knallt nun die Türe zu. Er will weder etwas essen noch mit jemandem darüber reden.
Der Junge schließt die Türe ab, da er genau weiß, dass seine Mutter in Kürze vor seinem Zimmer stehen wird und hartnäckig wissen will, was passiert ist.
Keine Minute später ist es so weit, Sandra und seine Geschwister trommeln an seine Türe und erkundigen sich nach seinem Befinden.
Nach etlichen bösartigen Kommentaren wie: „Zischt ab!“ und „Lasst mich in Ruhe!“ geben sie schließlich auf und gehen ins Wohnzimmer hinunter.
Galvin liegt weinend auf seinem Bett und sieht keinen Sinn mehr in seinem Leben.


Kapitel 2
Liebeskummer

Galvin, der älteste Sohn von Walter und Sandra Kowalski, sitzt in seinem Zimmer und schaut betrübt aus dem Fenster. Draußen ist der Frühling eingekehrt, von schneebedeckten Gärten erscheinen nun aus dem saftig genährten Gras die ersten Krokusse und Tulpen.
Die ersten Nachbarn arbeiten bereits im Garten, und auch seine Mutter hat alle Hände voll zu tun mit Umstechen und Säen. Der siebzehnjährige Junge mit den hellbraunen kurzen Haaren drückt sich immer, wenn es um Gartenarbeit geht.
In der Erde herumzustochern und stundenlanges Jäten ist nicht sein Fall.
Romina dagegen ist ein richtiges Blumenkind.
Sie hilft im Garten und pflanzt ihre eigenen Blumen, welche sie dann das ganze Jahr hindurch stolz präsentiert. Jetzt macht sie sich gerade an die Arbeit, die Schildkröte Molly aus dem Keller zu holen und ihr ein schönes Terrarium zu basteln. Als die Familie vor einigen Jahren die Echse angeschafft hat, war sie nicht größer als ein Fünfliberstück. In den vergangenen sechs Jahren hat die gepanzerte Echse etwa zwanzig Zentimeter an Größe zugelegt. Romina setzt das Tier auf einen sonnenbeschienenen Stein und beobachtet, wie diese ihren Kopf gemächlich an die Wärme streckt.
Vater Walter ist früh von der Arbeit heimgekehrt und versucht nun krampfhaft, den Rasenmäher in Gang zu bringen.
Im Nebenzimmer poltert es, weil Frank eine alte Fahne sucht, die er für einen Vortrag in der Schule bräuchte. Lautes Gefluche ertönt von dem Jungen, ebenfalls zeitgleich von Walter im Garten draußen.
„Interessiert mich alles nicht“, denkt Galvin trotzig und verschränkt die Arme auf seinem Pult. Seine Gedanken schweifen wieder zu seinem erlebten Schmerz, mit dem Mädchen seiner Träume, was ihn fast wahnsinnig macht.
Er denkt an die vergangenen Szenen in der Bäckerei sowie an das unangenehme Treffen am See. „Mit einem pickligen Grünschnabel wolle sie nichts zu tun haben“, wie sie ihm arrogant erklärte.
Nach ihrer Zusage zum ersten gemeinsamen Treffen fühlte er sich wie im siebten Himmel und war glücklich. Warum sie mit seinen Gefühlen gespielt und ihn für dumm verkauft hatte, kann er nicht verstehen.
Diese Tatsache hätte Galvin eigentlich schon viel früher auffallen sollen, denn jeden Blick auf dem Schulplatz, jede Geste von ihm hat sie absichtlich ignoriert und mit ihren Busenfreundinnen ins Lächerliche gezogen.
Aus seiner Klasse wussten alle, dass er nur einer von vielen Jungs ist, die verliebt in Yuma Vanghoven sind. „Da hat sie es nicht nötig, mit mir, mit dem schlaksigen, pickligen Galvin Kowalski, etwas anfangen zu wollen“, denkt er verbittert.
Eines Nachmittags entdeckte der Junge seine Angebetete, wie sie durch die Altstadt von Schwarzenfels fuhr. Ohne lange zu überlegen, trat er wie ein Irrer in die Pedale, konnte sie aber nicht einholen, zu groß war der Vorsprung.
Er wollte eine Antwort auf die berechtigte Frage, weshalb sie überhaupt zum Treffen zusagte, obwohl sie niemals Interesse für ihn zeigte. Eigentlich könnte er sich die Antwort selbst geben, aber irgendetwas in ihm verlangt dies. Weit entfernt, sah er das Mädchen in eine Nebenstraße verschwinden, und Galvin sauste wie der Blitz hinterher.
Eine Stunde lang radelte der Junge umher, bis es langsam eindunkelte und er die Suche schlussendlich aufgab.
Als hätte die Liebe nicht schon gegen ihn gespielt, fing es wie aus Kübeln an zu regnen. Der Pechvogel kam völlig durchnässt und viel zu spät nach Hause, was einen Riesenärger und Konsequenzen mit sich zog. Sein Vater war außer sich und befahl ihm, mit diesen albernen Hirngespinsten aufzuhören und nicht mehr an dieses Mädchen zu denken. Er sei ja nicht mehr bei Trost, bereits aus der Schule erhielten die Eltern einen tadelnden Brief, in dem unmissverständlich seine Abwesenheiten und die schlechter gewordenen Noten beschrieben waren.
Es hagelte vierzehn Tage Hausarrest für sein unmögliches Benehmen, und zum Schluss folgte ein heftiger Streit, bei dem sich Galvin und seine Eltern nur noch anschrien. Es kam der Moment, in dem der Junge seine Eltern beleidigte, was eine schallende Ohrfeige zur Folge hatte.
Grollend verließ er dann die Küche, er fühlte sich unverstanden und verweigerte fortan den Kontakt mit seiner Familie und den Mitschülern.
Seither hat sich Galvin in seinem Zimmer vergraben und das Essen, welches ihm die Mutter sogar aus der Küche hochbringt, kaum angerührt.
Heute an diesem Freitag, ein trübseliger Tag wie jeder andere, hockt der Siebzehnjährige in seinem Zimmer und kritzelt wirres Zeug auf einen Zettel. Anstatt zu lernen, spielt sich die Szene vom See immer wieder vor seinen Augen ab.
Während er gedankenverloren die Wand anstarrt, fällt sein Blick auf den kleinen Holzzwerg, welcher seit Jahren an der Pinnwand hängt. Er hat ihn von seinen Eltern zum zwölften Geburtstag bekommen.
Der aus Eichenholz geschnitzte Zwerg hat eine längliche Nase und große Pausbacken mit einem breiten Lachen. Anhand der Furchen in seinem Gesicht und der dichten, buschigen Augenbrauen stellt der kleine Mann ein älteren Zwerg dar. Auf dem Kopf trägt er eine Zipfelmütze, und in der rechten Hand, hält er eine Schaufel.
Walter erklärte damals seinem Sohn die Bedeutung dieses Holzstücks. „Er ist ein Glücksbringer für dich, wird dich immer beschützen, und wenn du auf dein Herz hörst, wird er dir den Weg weisen, denke immer daran.“ Er erzählte weiter: „Ich selbst habe von meinem Vater einen ähnlichen Talisman bekommen, schau her.“ Aus einer alten Schachtel nahm er einen Zwerg aus demselben Holz hervor.
Walter fuhr fort:
„In jeder schwierigen Situation hat mir dieser Glücksbringer weitergeholfen.“ Aufgrund Galvins fragendem Gesichtsausdruck erklärte er weiter:
„Wenn ich nicht mehr weiterwusste und ein Problem nicht lösen konnte, begab ich mich an meinen Lieblingsplatz und habe ihn ganz fest an mich gedrückt. Die Augen hatte ich immer geschlossen, und auf einmal kamen mir alle Antworten und Lösungen in den Sinn! Es war unglaublich! Deswegen bedeutet mir dieser Talisman sehr viel, und ich wünsche dir dieselbe Klarheit, die ich mit ihm erfahren habe.“
Galvin hat diese Geschichte nie vergessen und heute, acht Jahre später, grübelt er an seinem Schreibtisch über seine Zukunft nach. Spontan schnappt er sich den Glücksbringer, zieht sich die Schuhe an und verlässt das Haus. Er will wissen, ob diese Geschichte bei ihm auch funktioniert.
Am anderen Ende der Stadt liegt ein bekannter und vielbesuchter Aussichtspunkt, welcher ihm sehr gefällt. Von diesem Standort haben die Besucher einen wunderbaren Blick auf die fernen Spitzberge, eine Gebirgskette, welche das ganze Jahr über mit Schnee bedeckt ist.
Auf seinen eigentlichen Lieblingsplatz, den Schwarzsee, hat der Junge nach dem überaus enttäuschenden Treffen wahrhaftig keine Lust. Er streift sich einen braunen Pullover über, zieht Turnschuhe an und läuft in die Garage zu seinem Fahrrad. Außer in die Schule zu gehen, hat er es nicht benutzt und auch jetzt fühlt sich der freiwillige Gang nach draußen etwas komisch an. Den Talisman im Hosensack, steigt er auf und fährt los. Die Sonne scheint auf sein bleiches Gesicht, und mit den schwarzen Augenringen sieht er ein wenig Furcht einflößend aus.
Der kühle Fahrtwind weht ihm um die Nase, und er atmet die frische Luft ein, welche seine Lungenflügel durchströmen.
Er fährt der Hauptstraße entlang bis zur Eisenbahnbrücke und biegt danach links ab. Gleich ist er bei seinem Ziel angekommen, jedoch muss er den kleinen Hügel hochfahren, auf den er in seiner momentanen Gemütslage keine Lust hat.
Vor seinem Liebeskummer fuhr er nach der Schule des Öfteren hierhin, und jedes Mal hatte er keine große Mühe, den Hügel zu meistern.
Galvin fühlt sich, als wären er und sein ganzer Körper eingeschlafen. Keuchend schiebt er das Fahrrad über den Kieselsteinweg und bemerkt, wie die Muskelfasern in seinen Waden rebellieren.
Als der Junge endlich oben angekommen ist, sieht er, dass die Trinkflasche vom vorderen Tag noch in der Halterung steckt. Über einen Tropfen Wasser hat er sich selten so gefreut und setzt sich bei der großen Marmorstatue auf den Sockel.
Während er das erfrischende Wasser trinkt, schaut er zu den Spitzbergen hin. Sie vermitteln einen majestätischen und unnahbaren Eindruck, welcher jedem Betrachter unvergesslich bleibt. Galvin hat diesen Anblick schon immer gemocht. Das Gebirge liegt mehrere Autostunden entfernt, aber je nach Föhnlage sind die imposanten Bergkämme wahrhaftig zum Greifen nah.
Sein Blick schweift wieder zur Stadt hinunter, zu einer bestimmten Ecke, in der Yuma Vanghofen zu Hause ist. Dieser Stadtteil von Schwarzenfels kennt er noch von einem Kollegen, den er früher des Öfteren besucht hat.
Schnell schwirren ein paar Gedanken durch seinen Kopf, ob Yuma vielleicht zu Hause ist und ob er sie mit einem spontanen Besuch überraschen sollte. Bei dieser Idee spürt er aber selbst, dass dies sehr wahrscheinlich nicht gut ankommen würde, und redet sich das gleich wieder aus.
Die gehässige und arrogante Art, wie sie ihn am Schwarzsee stehen ließ, wird er noch lange nicht vergessen. Auch der Schmerz in der Brust taucht immer wieder auf, sobald er an sie denkt. Während seines Liebeskummers dachte er oft daran, ob es jemand empfinden oder auffallen würde, wenn er plötzlich nicht mehr da wäre?! Ob Yuma ihn ernst nehmen würde, wenn er auf einmal einen Unfall hätte oder sogar im Sterben läge?
Seine Gedanken schweifen zu Marcel, dem früheren Kollegen, welcher sich auf tragische Weise das Leben genommen hat. Er wuchs alleine bei seiner Mutter auf, sein Vater starb, als er noch ein kleiner Junge war.
Die Mutter wurde mit der Zeit immer verbitterter, und Marcel hat sich die Schwierigkeit auferlegt, ihr alles immer recht zu machen.
Sie fing dann zu trinken an und trieb sich mit zwielichtigen Männern herum, während er zu Hause für Ordnung gesorgt hat. Er hatte sogar neben der Schule gearbeitet und auf sein Leben als Jugendlicher verzichtet. Es kam der Moment, als sie begann, ihn zu schlagen, trotzdem ließ er sie nie im Stich.
Galvin konnte ihm nicht helfen, sosehr er es wollte, Marcel hatte es sich in den Kopf gesetzt, stets für seine Mutter da zu sein.
Es kam der Zeitpunkt, und der Junge hat sich in ein Mädchen verliebt, die beiden waren unzertrennlich. Fast jeden Tag haben sie zusammen verbracht, und Marcel blühte regelrecht auf. Seine Mutter hingegen hat unter der jungen Liebe so sehr gelitten, dass sie versuchte, die Beziehung der beiden zu zerstören.
Aus irgendeinem Grund waren die Eltern des Mädchens gezwungen, von Schwarzenfels wegzuziehen. Es passierte alles so schnell, und das Paar konnte sich nur noch knapp verabschieden. Das war für Marcel zu viel. Er hatte genug vom Leben erfahren, und ohne sein Mädchen wollte er nicht weiterleben. An einem Tag im April begab er sich etwas außerhalb der Stadt zum Geleise und sprang vor den Zug.
In den täglichen Nachrichten, welche Walter Kowalski nie verpasst, wurden dann Bilder des Tatortes gezeigt und der Name des Opfers genannt.
Für Galvin brach damals eine Welt zusammen, und er machte sich haufenweise Vorwürfe.
Heute aber ist er um einiges älter und versteht, weshalb sein Freund nicht mehr leben wollte. Er musste sich eingestehen, dass sein Leben weitaus besser verläuft als das von Marcel.
Der Junge auf dem Sockel schickt einen lieben Gruß zum Himmel und erinnert sich wieder an den Grund seines spontanen Ausflugs.
Als er den Zwerg aus der Brusttasche hervorholt, überlegt er sich, ob das funktionieren könnte. Während er den Holztalisman betrachtet und mit dem Zeigefinger über die vielen Kanten fährt, wird ihm bewusst, dass das Leben sicher noch mehr zu bieten hat.
Er hat genug vom Liebeskummer, der ihn fast auffrisst und keinen Sinn ergibt.
Zugleich findet er es doof, von den Mädchen nur als der nette Galvin angesehen zu werden. „Wann würde er sich in ein Mädchen verlieben, welches seine Gefühle erwidert?“, fragt sich der Junge.
Dass sich der Siebzehnjährige eine Freundin wünscht, wissen auch seine Kameraden in der Schule, ihm ist es aber peinlich, über diese Sache reden zu müssen. Die Jungs spotten zwar nicht über sein Pech, die Blicke bemerkt er trotzdem und kann sich in etwa ausmalen, was man denkt.
Seitdem er Yuma das erste Mal gesehen hat, erhoffte sich Galvin auch eine Beziehung, doch leider kam es anders.
Aus heiterem Himmel meldet sich plötzlich eine Stimme in seinem Kopf, welche sagt:
„Irgendwo in der Welt wird es ein Mädchen geben, das dich liebt, wie du bist, und dich überallhin begleiten wird. Hab Geduld und such nicht am falschen Ort!“ Etwas irritiert guckt Galvin auf den stummen Zwerg in der Hand, und ihm wird bald klar, dass diese besondere Botschaft von seinem Glücksbringer kommt. Wahrscheinlich hat das Vater genauso erlebt und wusste dann, was zu tun war. „Wie soll ich denn das angehen?“, fragt er laut vor sich hin und wartet. Doch nichts zieht durch seine Gedanken, keine Stimme meldet sich. Seufzend stellt er sein Mitbringsel neben sich hin und schaut wieder zu den Spitzbergen. „Mach dich auf und geh, wage ein Abenteuer“, fährt es wieder durch seinen Kopf, und der Junge schaut verdutzt auf den Zwerg. Er überlegt eine Weile, was damit gemeint sein könnte, und fühlt plötzlich eine aufbäumende Kraft in ihm, welche er selten zuvor gespürt hat. Es kribbelt im ganzen Körper, als würden Tausende Ameisen auf ihm herumkrabbeln. Auf den Armen bekommt er Gänsehaut, als stehe er unter einer eiskalten Dusche, und fühlt sich so erfrischt, dass er Bäume ausreißen könnte. „Mysteriöse Sache“, denkt er sich und trinkt von seiner Wasserflasche. Auf einmal spürt Galvin, wie diese innere Kraft seine Hand leitet und nach einem spitzen Stein greifen lässt.
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