Was bist du, Kay

Was bist du, Kay

Tanja Mooswald


EUR 21,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 364
ISBN: 978-3-99146-557-7
Erscheinungsdatum: 18.03.2024
Ein dreizehnjähriger Junge, ein Umzug in die Stadt und eine schwarze Gestalt, die hinter ihm her ist. Kann Paul herausfinden, warum er in seinem Zuhause von Brandgeruch verfolgt wird? Was verheimlicht seine Großmutter? Und was lebt in seinem Kleiderschrank?

Der alte Bus fuhr die endlose Landstraße entlang. Links und rechts zog Einöde an den staubigen Fenstern vorbei: Die gelben Strohstoppel der Getreidefelder, die schwarzen Rechtecke der frisch geernteten Maisfelder, Giebeldächer der Dörfer und ab und zu die langen Streifen der rostfarbenen Wälder baten dem Auge keine zu große Abwechslung. Nur sehr selten, wie ein Hoffnungsschimmer am Horizont, leuchtete in der Ferne kurz eine Teich- oder Seefläche auf.

Im Bus selbst herrschte ähnliche Atmosphäre: Die Passagiere starrten gelangweilt aus den Fenstern in die eintönige Landschaft hinaus oder, in eigene Gedanken vertieft, einfach vor sich hin. Manche von ihnen versuchten die örtliche Zeitung zu lesen, mussten aber schnell wieder aufgeben, als das nächste Schlagloch die Zeilen vor ihren Augen tanzen ließ. Nach ihrer Kleidung zu urteilen, waren die meisten von ihnen einfache Dorfleute, die in die Stadt fuhren, um irgendeinen langweiligen Papierkram zu erledigen, oder die Pendler, die in umliegenden Ortschaften ihre Jobs hatten.

Paul passte die schläfrige Atmosphäre im Bus ganz und gar nicht. Die Schläfrigkeit der Reisenden und die monotone Landschaft hinter seinem Fenster langweilten ihn zu Tode. Er saß wie auf heißen Kohlen, drehte sich auf seinem Sitz nach allen Seiten um und schaute verständnislos zu seiner Großmutter, die neben ihm saß. Sie war während der langen Reise eingenickt und in ihrem Sitz nach vorne gekippt. Ihr Kopf ruhte auf einem großen Bündel, das auf ihrem Schoß lag und das sie mit beiden Armen fest umklammerte, damit es ihr nicht auf den Boden rutschte. Es schien ihr nichts auszumachen, dass der Bus auf der schlechten Landstraße immer wieder holperte und alle Passagiere dabei in ihren Sitzen hochhüpften. Der Knoten ihres Kopftuches hatte sich gelockert, das Tuch selbst rutschte zur Seite und ihr aschgraues Haar kam zum Vorschein. Paul erinnerte sich gar nicht mehr, welche Farbe Großmutters Haare eigentlich hatten. Solange er auf der Welt war, seit fast vierzehn Jahren also, hatte er sie nur mit grauen Haaren erlebt. So gut wie alle Fotos in ihrem alten Fotoalbum waren schwarzweiß und gaben keine richtige Vorstellung von Großmutters Haarfarbe. Auf diesen Fotos war sie oft mit Großvater zu sehen – einem dürren, streng aussehenden Mann, der so gut wie nie lächelte. Sein gequälter Gesichtsausdruck auf manchen der letzten Fotos deutete auf eine schlimme Krankheit hin, an der er letztendlich starb, noch bevor Paul geboren wurde. Seine Großmutter dagegen war schon immer korpulent und Paul schmunzelte jedes Mal, wenn er auf den Fotos ihren massigen Körper neben der schmächtigen Figur seines Großvaters sah.

Jetzt schlummerte sie auf ihrem Bündel, als ob sie in der Stube in ihrem alten Sessel eingenickt wäre. Wie konnte sie nur so friedlich dösen, wenn ihnen beiden so etwas Aufregendes wie ein Umzug in eine Stadtwohnung bevorstand! Paul hielt die Langeweile nicht länger aus. Dazu kam, dass die Situation für ihn immer peinlicher wurde: Ein Passagier links von ihnen warf ab und zu amüsierte Blicke herüber. „Omi, wach auf! Du schnarchst!“, flüsterte er ihr ins Ohr. „He, was, wie? Oh, tut mir leid, Paschenka, muss eingenickt sein. Was steht da oben, welche Haltestelle?“ Die Großmutter hob ihren Kopf mit verrutschtem Kopftuch und blinzelte schlaftrunken um sich. „Erst Oberringen, Omi“, sagte Paul erleichtert. „Schlaf nicht mehr ein, es ist peinlich“, fügte er flüsternd hinzu. „Na gut, na gut, ich werde nicht mehr …“ Ihr Kopf neigte sich nach vorne und die müden Augen schlossen sich wieder. „Es ist hoffnungslos“, dachte Paul seufzend und wandte sich der Aussicht hinter seinem Fenster zu. Aber das welke, eintönige Panorama konnte seine innere Unruhe auch nicht stillen. Ein Teil der Fahrstrecke verlief parallel zur Eisenbahn. Die Gleise begannen zu vibrieren, ein metallisches Zischen zerriss die klare Herbststille und ein Güterzug sprang hinter dem dunkelgrünen Nadelwäldchen hervor. Er sah klein aus – sogar kleiner als der Zug aus Pauls alter Spielzeugkiste. Dank der beachtlichen Entfernung erschien er langsamer und eine Zeit lang hielten die beiden Fahrzeuge miteinander Schritt. Währenddessen beäugte Paul die hellgrauen Wagen des Zuges, die von selbsternannten Künstlern mit bunten Graffitibildern bemalt waren. Schließlich überholte der Zug und verschwand mit triumphierendem Donnern in der weiten Ferne. Der Bus verfolgte im Schneckentempo weiter seine langweilige Route. Nach dieser kleinen willkommenen Ablenkung erregte nichts mehr Pauls Aufmerksamkeit, bis die ersten großen Gebäude des Vorortes und die breiten Straßen mit ihrem regen Verkehr auftauchten. Paul schaute neugierig, wie die farbigen Ampellichter sich in den Pfützen spiegelten und die vielen buntgekleideten Menschen die Straßen überquerten oder auf den Bürgersteigen aneinander vorbeieilten. Sie trugen kleine hübsche Ledertaschen mit sich oder Köfferchen mit Rädern und nicht Körbe oder Säcke, wie es im Dorf üblich war. Manche von ihnen hatten Kinder bei sich, die sie an der Hand hielten. Das alles, die mehrstöckigen Häuser, die vielen Menschen auf den Bürgersteigen und Autos auf den Straßen, wirkte auf Paul, der sein bisheriges Leben auf dem Land verbracht hatte. Es war befremdend und faszinierend zugleich. Wegen des dichten Verkehrs wurde der Bus immer langsamer und das trieb Pauls Ungeduld in die Höhe. Die Großmutter wachte auf und rieb sich mit dem Handrücken die vom Schlaf angeschwollenen Augen. „Fast da, mein Kindchen, fast da. Was für ein Gewimmel, guck dir das an!“, sagte sie kopfschüttelnd zu Paul und deutete auf die vielen Menschen auf den Gehsteigen.

Das Déjà-vu kam wie aus dem Nichts, als ob ein Blitz ins Pauls Hirn einschlug. Er hatte nicht wirklich realisiert, was dieses Gefühl schon einmal da gewesen zu sein, ausgelöst hatte. Er starrte verkrampft in das frühabendliche Durcheinander auf den Straßen, um kein auch so kleines Detail zu verpassen: die Ecken der Häuser, hinter denen sich die schmalen Gassen schlängelten, die Metallzäune um die winzigen Gärten herum, die Hausdächer, die größtenteils flach waren, die meistens grauen Hausfassaden mit vielen Balkonen, auf denen unzählige Blumentöpfe hingen, aber nichts bestätigte diese merkwürdige Wahrnehmung. Und schon wieder: BAM! Wie eine kleine Explosion im Inneren seines Kopfes – eine alte hellrosa gestrichene Villa an der Kreuzung kam ihm verdächtig bekannt vor. Im Gegensatz zu anderen, eher langweiligen Stadthäusern hatte sie ein Giebeldach aus karminroten Ziegeln und eine kleine Windfahne in Form eines Hahnes. Das alles muss er schon mal gesehen haben! Paul starrte auf den verrosteten Hahn auf dem Dach und hörte plötzlich ein deutliches Klirren. Das Klirren war in seinem Kopf. „So muss die Windfahne klingen, wenn sie sich im Wind dreht“, dachte er verwirrt.

Der Verkehr auf den Straßen war zu dieser Tageszeit so dicht, dass der Bus alle paar Meter stoppen musste. An einer Kurve, wo auf dem Bürgersteig ein alter knorriger Baum wuchs (was für eine Seltenheit für eine Großstadt!), überkam Paul das Gefühl, dass sich hinter der Kurve eine kleine Eisbude befinden müsste. Er wartete ungeduldig, bis der Bus in die Kurve abbog, aber da schaltete sich die Ampel auf Rot und er fluchte im Stillen. Pauls Herz hämmerte wie wild und er ballte seine schwitzenden Hände zu Fäusten. Er sah schon das Blau des Kiosks und das fröhliche Gesicht der Büdchenfrau im kleinen Fenster. Endlich bog der Bus in die Kurve ab und – NICHTS! Nur zwei Tauben, die am Rand einer großen Pfütze etwas Essbares vom Boden pickten. „Puh!“, atmete Paul erleichtert auf. Er konnte seine extreme Aufregung selbst nicht verstehen. „Alles nur Einbildung! Ich war noch nie da“, überzeugte er sich selbst. Und als ein paar Häuserblocks weiter kein breites, modernes Gebäude auftauchte, das er zu sehen erwartet hatte, bestätigte sich seine Überzeugung nur. Stattdessen sah er einen kleinen gemütlichen Park mit vielen jungen Bäumen und ein paar Sitzbänken.

„Wir sind da, Paschenka, wir sind da.“ Na endlich! Großmutter setzte sich aufrecht in ihrem Sitz und legte sich ihr Kopftuch ordentlich an. „Die Nächste ist unsere!“ Sie zog den Bündelknoten fester zu und stand auf. Paul hob seinen Schulrucksack vom Boden hoch und folgte ihr zur Bustür. Der Ort, wo sie ausgestiegen waren, war ein gemütliches Viertel – nicht gerade im Stadtzentrum, aber auch nicht am Stadtrand. Die Häuser standen nicht zu dicht beieinander und die Leute auf den Bürgersteigen waren auch nicht sonderlich zahlreich. Vor fast jedem Haus gab es einen kleinen Spielplatz mit einer Schaukel und Wippe oder einer Rutschbahn. Die spielenden Kinder lachten und unterhielten sich laut. Für Paul, der in einem kleinen Dörfchen aufgewachsen war, gab es hier fast zu viel Action.

Er folgte seiner Großmutter, die, mit ihrem schweren Bündel huckepack, langsam aber zielstrebig auf eines der Häuser zusteuerte. „Das ist unser Liebstes, Paschenka, das ist unser Heim!“, keuchte sie fröhlich. Es war kein großes Mehrfamilienhaus, sondern ein ordentliches Vierfamilienhäuschen mit zwei Eingängen an beiden Haushälften. Die Großmutter watschelte zu rechtem Eingang, stieg fünf niedrige Stufen hoch und öffnete die schwere Eingangstür. Die warme Treppenhausluft schlug Paul entgegen, vollgefüllt mit fremden Gerüchen. Das matte Lampenlicht fiel auf die grauen Wände, die früher einmal weiß gefärbt waren, und auf den überraschend sauberen Fliesenboden. Ein einziges kleines Fenster, das sich über dem nächsten Treppenansatz befand, war ein beliebtes Ziel für die Jugendlichen, die es aus Langeweile immer wieder mit Steinen beworfen haben mussten, bis einer der Hausbesitzer es mit einem Holzbrett luft- und lichtdicht zugenagelt hatte. Ein paar Stufen führten zu einer Wohnungstür links, neben der sich zwei Personen unterhielten: eine magere alte Frau in einem für sie überproportional großen Jogginganzug, der von ihrem dürren Körper herabhing, und ein sympathisches junges Mädchen mit dunklem Haar, das es zu einem Pferdeschwanz hochgebunden trug. Neben dieser alten Vogelscheuche sah das Mädchen besonders jung und frisch aus. „Ah danke, danke, meine Liebe!“, sagte die alte Frau mit einer lauten, tiefen Stimme. „Was würde ich nur ohne dich machen!“ „Nichts zu danken!“, erwiderte das Mädchen. „Und nehmen Sie Ihr Rezept wieder, bevor ich es vergesse.“ Das Mädchen übergab der alten Frau neben einem Plastiktütchen einen Papierzettel. „Die Medikamente reichen für ein paar Monate. Wenn Sie noch was brauchen, rufen Sie mich ruhig an – ich bin noch eine Woche daheim.“ „Danke, mein Engel!“ Die alte Frau lächelte und die tiefen Falten in ihrem Gesicht wurden dadurch zahlreicher. Als die beiden Frauen die Neuankömmlinge bemerkten, drehten sie wie auf Kommando die Köpfe in ihre Richtung. Die Alte musterte Paul ein paar Sekunden lang, dann erschütterte ihr lauter Schrei das stille Treppenhaus: „Das ist ja Kay! Du bist es wirklich, Junge!“ Sie machte drei schnelle Schritte in seine Richtung und blieb direkt vor ihm stehen. Dann beugte sie sich nach vorne, sodass ihr Gesicht sich direkt vor seinem befand. Paul, erschrocken und verwirrt über das merkwürdige Benehmen der alten Frau, wich unwillkürlich zurück. Er hätte sich am liebsten hinter dem breiten Rücken seiner Großmutter versteckt, wollte aber nicht als Feigling dastehen. Er schaute ängstlich ins Gesicht der alten Frau, wunderte sich über die vielen violetten Falten und sagte nichts.

„Was bist du groß geworden!“, fuhr sie fort, als sie sich an ihm satt gesehen hatte. Sobald Paul den Atem der Frau roch, rümpfte er angewidert die Nase – aus ihrem Mund stank es unerträglich nach Zigaretten. Dazu mischte sich ein ätzender Parfümgeruch, der die ganze Sache zusätzlich verschlimmerte. Traktorabgase mitten ins Gesicht zu bekommen, wäre ihm viel lieber gewesen. Die Frau legte ihre faltige Hand auf seine Schulter und verzog ihre schmalen, farblosen Lippen zu einem freundlichen Lächeln. „Aber deine Augen sind dieselben wie früher. Ganz die Mutter! Ach, weißt du noch, als du damals …“ „Ich grüße dich, Charlott!“, unterbrach Großmutter sie trocken, „Es freut mich sehr, dich wieder zu sehen.“ Die alte Frau ließ Pauls Schulter los und richtete sich wieder gerade auf. Paul atmete erleichtert auf. „Olga! Ich glaube, ich spinne! Meine Güte, wie lange ist es her! Sieben Jahre, acht? Alt, alt bist du geworden, meine Liebe! Na ja, ich werde auch nicht jünger.“ Sie blinzelte kokett und brachte das ganze Treppenhaus mit ihrem tiefen Lachen erneut zum Erbeben. „Dein Mieter ist seit zwei Monaten weg“, fuhr sie fort, als sie fertig war. „Gott sei Dank! Ein komischer Kerl – hat nie ein Wörtchen gesprochen! Immer husch-husch – schnell an mir vorbei und die Türe zu. Wie eine Kakerlake! Der war mir echt unsympathisch, wenn du mich fragst.“Sie verzog ihre violette Miene. Dann musterte sie Paul und seine Großmutter mit ihrem scharfen, neugierigen Blick. „Und ihr beide zieht also bei uns ein? Was bin ich froh!“ Sie summte vor Freude irgendeine fröhliche Melodie. Um ihre Begeisterung besser zum Ausdruck zu bringen, streckte sie ihre Arme in die Höhe und schüttelte mit ihrem Kopf, sodass ihre kurzen, ebenfalls violetten Locken vor Pauls Nase wie wild hin und her flatterten. Alle ihre Bewegungen wirkten abrupt und zackig, wie die eines Wiesels. „Und, mein lieber Kay, wie alt bist du jetzt?“, wandte sie sich wieder Paul zu. „Sein Name ist Paul“, antwortete Großmutter für ihn und ihre Stimme klang dabei nicht besonders freundlich. Die stürmische Begrüßung ihrer alten Bekannten ging ihr sichtlich auf die Nerven. „Er ist dreizehneinhalb.“ Charlott klappte die Kinnlade runter und die dichten Augenbrauen kletterten ihr vor lauter Überraschung hoch auf die Stirn. „Paul?“, fragte sie ungläubig. „Ich erinnere mich nur an einen süßen Fratz namens Kay. Mein Gedächtnis hat mich bis jetzt noch nie im Stich gelassen!“ „Entschuldige uns bitte, Charlott! Wir müssen jetzt weiter.“ Großmutter schüttelte demonstrativ mit ihrem schweren Bündel vor Charlotts Nase. „Oh, wie blöd von mir!“, entschuldigte sich Charlott. „Ihr seid ja müde nach der langen Reise! Sahra, meine Liebe“, wandte sie sich dem jungen Mädchen zu, das während der ganzen Unterhaltung schweigend dagestanden hatte und verlegen von einem Fuß auf den anderen trat. „Hilfst du Olga mit ihrem Gepäck?“ Das Mädchen machte einen unsicheren Schritt in Großmutters Richtung, aber sie stoppte es mit einer höflichen Geste. „Nein, danke, mein Kind! Es ist gar nicht so schwer wie es aussieht! Ich schaffe das schon“, sagte sie freundlich, aber bestimmt und begann, mit Paul auf den Fersen, die Stufen zu der nächsten Etage hochzusteigen. „Ah, ich bin so froh, so froh!“, sang Charlott mit ihrer krächzigen Stimme hinter ihnen her. „Sie übertreibt maßlos“, dachte Paul verärgert. „Senile Alte!“ „Willkommen, willkommen!“, ertönte ihre Stimme von unten. „Danke, danke, Charlott, wir sehen uns sicher später noch“, warf ihr Großmutter, die bereits vor ihrer Haustür stand und in ihrer Tasche nach dem Hausschlüssel kramte, über die Schulter zu. Unten setzte Charlott ihre Unterhaltung mit dem Mädchen fort. Großmutter kramte und kramte vergeblich in ihrer alten Ledertasche und murmelte sich dabei etwas entnervt unter die Nase. Paul betrachtete währenddessen die alte, zerkratzte Holztür. Er fuhr mit den Fingern über die Kratzer und das Gefühl der tief in seinem Unterbewusstsein verborgenen Erinnerung kam wieder in ihm hoch.

„Wieso glaubt die Alte, dass sie mich kennt?“, fragte Paul, sobald sich die Tür hinter ihnen schloss. „Eh, weißt du, sie ist schon so alt, die Charlott“, antwortete Großmutter, die mit dem Gesicht zu einem fleckigen, staubigen Spiegel an der Wand stand und ihren Mantel auszog. „Sie müsste eigentlich längst bei ihrer Nichte wohnen! Die hat Charlott vor sechs Jahren zu sich geholt, um sie zu pflegen. Lange hat sie es, dem Schein nach, mit ihr nicht aushalten können.“ Die Großmutter beugte sich nach vorne, um ihre Schnürsenkel loszubinden, und Paul wunderte sich über die Breite ihres unteren Rückens. „Und das Altersheim kommt für Madam natürlich nicht in Frage!“ „Warum überrascht es mich nicht?“, dachte Paul bei sich. „Und wenn man so alt ist, dann wird man … du weißt schon.“, sie klopfte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn, „ein bisschen wunderlich.“ Nach diesen Worten wandte sie sich ihrem Bündel zu und das Thema war für sie gegessen. Aber nicht für Paul! Bei genauem Nachdenken kam ihm Charlott doch nicht so dement vor. Paul dachte an ihre aufgeweckte Art und den scharfen Blick ihrer Augen. Und wie aufrichtig ihre Überraschung gewesen war, als sie seinen echten Namen erfuhr! Dazu kam es, dass er seine Großmutter in- und auswendig kannte und es sofort spürte, wenn sie ihm etwas verheimlichen wollte. Es war auch diesmal so, aber es hatte keinen Zweck nachzuhaken. Wenn Großmutter etwas für sich behalten wollte, dann blieb es dabei – dazu war sie ja störrisch genug.

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