Flinguin

Flinguin

Ein tierisch digitales Abenteuer

Andrea Morsink


EUR 18,90
EUR 15,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 248
ISBN: 978-3-99131-968-9
Erscheinungsdatum: 21.03.2023
Was passiert, wenn man mit tierischer DNA experimentiert? Wie kommt ein kleinwüchsiger Junge zum Zoo und findet dort seine Liebe? Wie legt man kriminellen Machenschaften das Handwerk? All das und noch viel mehr dank viel Wirbel und Wind um einen Flinguin.
„Befreit die Tiere!“, ruft Carlos entsetzt. „Meine Güte, wie stellen die sich das vor?“
Verächtlich knallt Ludo das Blatt auf den Frühstückstisch. Die fetten Buchstaben sehen aus, als ob das Blut heraustropft.
„So eine schlechte Propaganda kann der Zoo nicht brauchen! Unsere Tiere haben vorbildliche Gehege mit viel Auslauf. Alles ist perfecto!“
Carlos nimmt einen Schluck Kaffee und nickt. „Leider demonstrieren viele Mitläufer, weil eine Demo spannend ist. Solche machen sich keine Gedanken, dass einige Tierarten nur im Zoo vor dem Aussterben bewahrt werden.“
Sein Bruder seufzt tief und setzt sich zu ihm an den Frühstückstisch.
Gretchen, die Haushälterin, stellt einen Korb mit warmen, goldbraunen Butterhörnchen auf den Tisch. Entsetzt reißt sie die Augen auf. Weniger Einkünfte!? Hoffentlich führt das nicht zu weiteren Personalkürzungen.
Ludo streckt die langen Beine aus und lehnt sich zurück. Mit Appetit beißt er in ein weiteres Butterhörnchen. Carlos sieht ihn neidisch an. Der Junge kann Berge an Essen vertilgen, ohne dass man es ihm ansieht. Er ist und bleibt ein dünner Hering und ich gehe auseinander wie ein Pfannkuchen.
Mit vollem Mund murmelt Ludo: „Die Demo können wir nicht verhindern. Aber wir werden auch nicht tatenlos zusehen.“
Er schlägt auf den Tisch, dass das Geschirr nur so klirrt: „Sollen sie kommen, die sogenannten Tieraktivisten. Wie anmaßend von ihnen, zu glauben, sie hätten das Recht auf Zerstörung gepachtet. Wir werden den Besuchern klar machen, dass die Demonstranten im Unrecht sind.“
„Aber zuerst gibt es viel tun“, erwidert Carlos und leert den Inhalt seiner Tasse in einem Zug.
„Wir müssen alles sichern, damit kein Aktivist eindringen und Blödsinn anstellen kann. Übermorgen haben wir deshalb geschlossen.“

*

Am Morgen der angekündigten Demo strahlt die Sonne und der blaue Himmel zeigt sich wolkenlos. Die ersten Demonstranten postieren sich vor dem Haupteingang. Mit Sack und Pack sind sie angerückt. Für ein Event dieser Art, ist es ratsam, gerüstet zu sein.
Sensationshungrig harren sie mit Thermosflaschen und dicken Brotpaketen der kommenden Ereignisse.
Einige der Aktivisten schwingen munter Transparente mit reißerischen Parolen. Die Stimmung unter den versammelten Menschen heizt sich auf.
Die Straße vor dem Zoo füllt sich zusehends, so dass kein Auto durchkommt.
Auch die örtliche Presse und das Fernsehen stehen parat. Die Polizei ist mit mehreren Einsatzwagen, zahlreichen Polizisten und sogar einer Motorradstaffel dabei. Einige der Wachleute patrouillieren schon im Zoo, um vorwitzige Demonstranten zu hindern, über die Mauer zu steigen.
Ein Raunen geht durch die Menge, als die Anführer der Pro Pet in Tierkostümen erscheinen. Sie halten Plakate und Spruchbänder hoch: „Befreiung der Zootiere“ und „Boykottiert die Zoos.“
Alle Mitarbeiter bleiben hinter der Mauer. Nur die Tierpflegerin Colette erscheint, wie üblich, nicht rechtzeitig.
Wieder einmal hat sie verschlafen und erscheint als Letzte des Teams. Völlig außer Atem steuert sie das Hauptportal an.
Aber das Tor ist verschlossen und gewährt keinem mehr Einlass. Betreten steht sie mit ihrem Coffee to go vor der Tür.
Die wogende Menschenmasse ist mittlerweile eine undurchdringbare Wand. Unmöglich, dagegen anzukommen oder sich durchzuzwängen.
Colette kramt in ihrer Tasche, um ihr Handy herauszufischen.
Plötzlich steht Ricky van Delft, der ungekrönte König der Tierrechtsaktivisten, vor ihr. „Tja, wen haben wir denn da? Nice, du arbeitest doch im Zoo“, zischt er bissig hinter seiner Maske.
„Wer hier arbeitet, unterstützt die Kasernierung der Tiere.“
Böse lachend tritt er voller Wucht gegen ihr Schienbein. Da er genagelte Kampfstiefel trägt, schießt sofort Blut aus einer Platzwunde. Die Tierpflegerin heult vor Schmerzen auf. Tränen schießen aus ihren Augen.
„Das passiert mit denen, die sich gegen uns stellen“, flüstert Ricky van Delft hämisch.
Von keiner Seite kommt Hilfe. Niemand interessiert sich für eine weinende Frau. Er holt noch einmal aus und gibt der zierlichen Französin einen heftigen Schubs. Dazu sagt er ungerührt: „Hau endlich ab!“
Schleunigst versucht sie, sich in Sicherheit zu bringen. Die wartenden Menschen gieren auf den Aktionsbeginn.
Als leicht verzerrt Rickys durchdringende Stimme durch das Mikro ertönt, klatschen die Demonstranten begeistert.
„Für das Tier ist der Tod besser, als eingesperrt dahin zu vegetieren“, ruft er energisch.
Die anderen fallen im Chor mit ihren Parolen ein: „Kein Tier soll hinter Gittern leben.“
Die durch die Marschmusik aufgepeitschte Menge johlt zu diesen Leitsprüchen. Es folgt ein Sprechchor: „Wir sind stark, wir sind stark! Gemeinsam gewinnen wir den Kampf zum Wohl der Tiere. Leute verbündet euch mit uns!“
Aus der tobenden Ansammlung von Menschen ertönen zahlreiche Zurufe. Aber darunter mischen sich auch Buhrufe.
Wie erwartet, versuchen Aktivisten, die Mauer zu erklimmen. Die Polizisten haben alle Hände voll zu tun, die tosende Menge in Schach zu halten. Sie befürchten, dass die Veranstaltung eskaliert.
Kaum einer bemerkt im allgemeinen Tohuwabohu das geöffnete hintere Portal. Unbemerkt schleichen sich zwei dunkel gekleidete, maskierte Gestalten hindurch.
Die Wachleute sind zu beschäftigt, die Menge unter Kontrolle zu halten. Einige Protestler haben bereits mit einer brutalen Prügelei begonnen, so dass die Polizei im Begriff ist, Wasserwerfer einzusetzen. Von einer friedlichen Kundgebung ist die Bewegung weit entfernt.
Nach einem Chaos der Verwüstung ziehen sich die letzten Demonstranten zurück. Ein Polizeieinsatzwagen nach dem anderen fährt ab.
Im Anschluss an die Demo tauchen die Mitarbeiter der Abfallbeseitigung auf. Die Demonstranten haben ein Chaos aus Pappbechern, leeren Dosen, Zigarettenschachteln und diversem Müll hinterlassen.
Sowohl der Zoodirektor als auch seine Mitarbeiter sind erschöpft. Die allgemeine Anspannung lässt langsam nach, bis
ein jäher Aufschrei plötzlich die Ruhe durchbricht: „Leute, die Löwen und die Braunbären sind los! Irgendwer hat sie raus gelassen!“
Aufgeregt kommt Leo angerannt und ruft: „Wir müssen die Tiere finden. Wer weiß, was sonst passiert!“
Carlos Karamba ist wie gelähmt und denkt: Auch das noch. Ich dachte, diesen schrecklichen Tag kann nichts toppen. Um die Tiere rauszulassen, musste sich jemand auskennen. Kein Fremder kann unsere Sicherheitssysteme außer Kraft setzen. Das wiederum heißt, wir haben einen Maulwurf.
In Begleitung des letzten anwesenden Polizisten, inspiziert er die Lage. Und wirklich, keines der Gehege wurde aufgebrochen. Zuvor wurde das System ausgeschaltet. So konnten die Tiere in die Freiheit hinausspazieren.
Carlos donnert: „Niemand darf nach Hause gehen. Alle Anwesenden werden erst vernommen.“
Müde erklärt er dem Polizisten das komplizierte Schutzsystem: „Die Raubtiergehege sind wie ein Hochsicherheitstrakt konzipiert. Diese haben die höchste Stufe nach den EU-Zoorichtlinien. Es gibt diverse Mechanismen. Erst wenn alle aktiviert sind, öffnet sich die Schleuse. Es musste jemand sein, der sich sehr gut auskannte und Zugang zu den Sicherheitscodes hatte.“
Wenig später kommt die gesamte Polizeibrigade zurück. Den ganzen Abend durchforsten die Männer, auf leisen Sohlen und in Tarnanzügen, das Gelände. Ihre Gewehre mit Betäubungsmunition sind einsatzbereit. Normale Munition ist laut Befehl nur für den Ernstfall anzuwenden. Bei größter Gefahr.
Über die Medien wird die Bevölkerung von dem Ausbruch der wilden Tiere gewarnt. Ihnen wird geraten, bis zur Entwarnung zuhause zu bleiben.
Carlos Karamba steht noch immer unter Schock. Sein Gesicht ist unter der Bräune blass geworden. Das Geschehen übertrifft seine schlimmsten Vorstellungen.
Sabotage, denkt er. Wer ist zu solchen üblen entsetzlichen Taten fähig?
Zornig schreit er: „Quel hijo de puta! Gracia el bastardo!“ Bei Aufregung flucht er wieder auf Spanisch.
Nach der Vernehmung der Polizei müssen alle Mitarbeiter nach Hause gehen. Nur Carlos und Ludo sind bei der Tierjagd mit Gewehren und Betäubungsmunition mit von der Partie.
Auch Gustav wird trotz Protests nach Hause geschickt.
Gemeinsam verlassen er und Leo den Zoo. Der kleine Tierpfleger ist ungewohnt still. Auf einmal bleibt er mitten auf der Straße stehen.
Ein Gedanke ist ihm durch den Kopf geschossen. „Schon krass das Ganze. Ich denke, der fiese Charlie hängt mit drin.“
„Du meinst, der fiese Möpp?“
„Logo, der hat genügend kriminelle Energie.“
Gustav überlegt und schlägt vor: „Zum Schein könnte ich mich mit ihm anfreunden. Dann können wir ihn besser im Blick behalten.“

*

Die Dunkelheit ist eingebrochen und hüllt den Zoo wie in einen dunklen Mantel ein. Ab und zu unterbricht der klagende Ruf eines Käuzchens die Stille der Nacht.
Die Polizisten liegen auf der Lauer und haben ihre Gewehre an sich gepresst.
Gegebenenfalls wären sie sofort einsatzbereit. Aber keines der Tiere lässt sich sehen. Als hätten sie sich in Luft aufgelöst.
Ab und zu raschelt Laub. Ein leichter Windzug streift durch die Zweige der Bäume. Hin und wieder knackt es im Unterholz. Vielleicht ein Vogel oder eine futtersuchende Maus.
Die Polizisten versuchen, jedes Geräusch zu unterdrücken, während sie auf ihren Einsatz warten.
Die beiden Karambabrüder haben sich hinter undurchsichtigen Büschen versteckt. Endlich tappt ein großer Bär durchs Gestrüpp. Unter seinen Pfoten knacken herunter gefallene Zweige.
Ludo zückt sein Gewehr und mit einem leisen Geräusch landet der Schuss im Pelz des kräftigen Braunbären. Aber er trottet unbeirrt weiter. Bis die Betäubung wirkt, vergehen erfahrungsgemäß einige Minuten.
Jetzt erspäht Carlos den zweiten, legt an und zielt. Der perfekte Schuss erwischt das Tier. Daraufhin schüttelt es nur und läuft weiter.
Nach ein paar Minuten finden die Brüder die betäubten Bären mitten im Narzissenbeet liegen. Mehrere Zoomitarbeiter sind nötig, um die schweren Tiere mit elektrischen Hebetragen zu verladen.
Auch die Polizisten erzielten Jagderfolg. Bevor die Nacht vorbei ist, sind alle Tiere bis auf eine Löwin außer Gefecht und zurück in ihren Gehegen.
Jedoch ist die flüchtige Löwin Shakira wie vom Erdboden verschwunden. Obwohl die Polizisten jeden Winkel durchforstet haben, bleibt sie unauffindbar.
Vielleicht entwischte sie schon am Abend durch das offene Seitentor. Am Morgen soll die Suche im Umkreis ausgedehnt werden.



Der Flinguin


Colette humpelt zur Frühschicht. Um diese Zeit sind kaum Besucher anwesend. Auf ihrem schmerzenden Schienbein hat sich ein dunkler Bluterguss gebildet. Er tut höllisch weh.
Panisch schaut sie sich ständig um, als könnte Ricky van Delft plötzlich aus dem Nichts auftauchen.
Ein lauer Wind streicht durch die Bäume. Die Sonne taucht das Gehege der Flamingos in ein warmes Licht.
Ohne besondere Vorkommnisse erreicht sie aufatmend das eingezäunte Revier der graziösen, rosaroten Tiere. Entzückt stellt sie fest, dass die ersten Küken in der Nacht geschlüpft sind. Überall liegen zerbrochene Schalen. Mit einem leisen Picken macht sich Lucys Nachwuchs aus dem Ei bemerkbar.
Colette beobachtet interessiert, wie die Umhüllung langsam aufplatzt. Mit seinem spitzen Schnabel erkämpft das Tier sich den Weg ins Leben. So etwas hat sie noch nie zuvor gesehen. Als das Ei in der Mitte in zwei Hälften aufbricht, schlüpft das Küken seitlich unter seiner Mutter hervor.
Die Französin glaubt ihren Augen nicht trauen zu können. Ihr Blick wandert zwischen den anderen geschlüpften Flamingos und Lucys Küken hin und her.
Der Unterschied ist frappierend, und noch etwas anderes erstaunlich. Das Weibchen drängt ihren Nachwuchs aus dem Nest und wendet sich von ihm ab. Mit geradezu verächtlichem Blick dreht sie den langen Hals zur Seite. Offensichtlich ignoriert sie den Nachwuchs. Normalerweise beschützt ein Elternteil sein Küken, bis es nach zwei Wochen das Nest verlässt.
Die Tierpflegerin ist verwundert. Das Kleine sieht seinen Artgenossen nicht ähnlich. Die anderen Küken, die aus den Nestern schauen, sehen anders aus.
Seine kurzen, kräftigen Beine enden in grauen Schwimmfüßen. Der breite, lange Hals mit dem runden Kopf hat einen schmalen, spitzen, nicht sehr langen Schnabel.
Seltsamerweise wenden sich sowohl Vater als auch Mutter von ihm ab. Es erhält auch nicht die übliche, im Kropf der Eltern gebildete Nährlösung.
Colette lässt die Schubkarre zurück und rennt zum Büro von Carlos Karamba. Dort sitzt sein Bruder am Schreibtisch.
Über sein Gesicht geht ein selbstzufriedenes Grinsen. „Wunderbar. Es ist geschlüpft. Mein Experiment hat funktioniert.“
„Was?“ Verdutzt sieht ihn die Tierpflegerin an und fragt sich: Tickt der Typ richtig? Mit normalen Maßstäben ist der nicht zu messen!
Der forschende Tierarzt legt einen Finger auf den Mund: „Psst. Alles hat seine Richtigkeit“, erklärt er verschwörerisch. Sein Gesicht leuchtet vor Freude.
„Du darfst mit keinem darüber reden. In der ersten Zeit kümmere ich mich um das Kleine.“
Nach einer kurzen Pause klatscht er begeistert in die Hände. „Der erste Flinguin ist geschlüpft.“
Er klatscht immer und immer wieder in die Hände. Dabei sieht er wie ein Kind aus, dessen Lieblingswunsch sich erfüllt hat.
„Das ist eine Attraktion für die Besucher. Sie werden in Scharen erscheinen“, frohlockt er.
„Jeder möchte das besondere Tier sehen. Einen Hybriden aus der DNA eines Flamingos und eines Pinguins hat es noch nie gegeben.“
„Boah, das ist unglaublich.“
Aber Colette fehlen für solche Versuche jedes Verständnis. Von seiner Begeisterung lässt sie sich nicht mitreißen.
Ludo springt auf. „Komm mit! Wir müssen das Küken einfangen. Wenn es keine Nährlösung bekommt, geht es ein. Wenn die Mutter ihren Nachwuchs ablehnt, müssen wir ran“, erklärt er nachdrücklich.
Mit riesigen Schritten macht er sich zum Gehege der Flamingos auf. Die Französin kann ihm kaum folgen. Dort ist die Situation unverändert. Lucy würdigt ihren Nachwuchs keines Blickes, genauso wenig ihr Partner.
Entzückt betrachtet der forschende Tierarzt das kleine, zitternde Küken. „Ist es nicht ein wunderschönes Geschöpf?“
Colette betrachtet es von allen Seiten und denkt: Die Grazie eines Flamingos hat es nicht. Die Proportionen sind eigenartig. Es ist potthässlich.
Laut sagt sie: „Das Tier ähnelt einem verunstalteten Pinguin.“
Aber Ludo lässt sich durch nichts von seiner Begeisterung abbringen. Fasziniert betrachtet er das Küken von allen Seiten. Hoffentlich vereinen sich in ihm von beiden Tieren die besten Eigenschaften. Sein Hals ist im Gegensatz zu einem Pinguin deutlich länger. Und sein plumper Körperbau hat nichts vom Flamingo. Was geschieht erst, wenn ich ihm den digitalen Chip eingesetzt habe?
Freudige Erregung pulsiert durch jede Faser seines Körpers.
Der kleine Hybrid lässt sich leicht einfangen und schmiegt sich Wärme suchend an die Brust seines Schöpfers. Sein hässlicher Kopf schaut aus dessen Jacke hervor.
Colette betrachtet ihren zweiten Chef von der Seite. Den sanften Gesichtsausdruck hat sie an ihm noch nie gesehen.
Der „eiskalte Mistkerl“ zeigt sich von einer ungewohnten Seite.
„In den nächsten Tagen halten wir dazu eine Pressekonferenz. Allerdings erst, wenn wir wissen, ob das Küken die kritischen Tage überstanden hat“, fügt Ludo hinzu.
Stolz wirft er sich in die Brust: „Ich bin gespannt, was die Medien über einen Flinguin sagen werden! Aber du hältst vorerst die Klappe!“
Colette nickt und verspricht zu schweigen.
In seiner Praxis setzt der forschende Tierarzt das Küken auf den Behandlungstisch. Sorgfältig unterzieht er es einer gründlichen Prüfung. Auf den ersten Blick scheint es gesund
zu seine.
Die erste Fütterung gestaltet sich jedoch schwieriger als erwartet. Nach anfänglichen Problemen begreift es die Prozedur. Das Futter kommt aus der Flasche mit der schmalen, langen Röhre.
Als die Nährlösung mit Vitaminen und Mineralien endlich in seinem Schlund landet, atmet Ludo auf.
Mit einem Wink gibt er Colette ein Zeichen, zu verschwinden.
Kaum ist sie gegangen, zieht er die Spritze mit dem Narkosemittel auf.
In seiner Ungeduld will er nicht länger mit dem Eingriff warten. Obwohl ein Risiko besteht, das Küken könnte nach der Betäubung sein Futter erbrechen.
Während er aufgeregt den ersten Schnitt durchführt, denkt er: Wie lange habe ich auf diesen Moment gewartet!
Den Mikrochip auszutüfteln, hat endlos gedauert. Jetzt wird es endlich wahr. Diese Kreatur wird mit Intelligenz alle anderen übertreffen.
Vor Aufregung klopft sein Herz einen schnelleren Takt.
Und der Chip mit der Sprachfähigkeit wird diesem bald folgen. Und das wird erst der Anfang sein. Dieser Bereich wird sich zu einem riesigen Markt entwickeln.
In seiner Begeisterung stellt er sich den perfekten Kunstmenschen vor. Sein absoluter Zukunftstraum.
Und ich, Ludo, Diego Karamba werde maßgeblich daran beteiligt sein.
Er stellt sich schon die lobenden Schlagzeilen in den Zeitungen vor: Luis Diego Karamba erhält die Paracelsus – Medaille, die höchste Auszeichnung der Ärztekammer. Und mein Nobelpreis wird ihr folgen.
Aber vorerst stellt ihn der komplizierte Eingriff in den winzigen Kopf vor eine große Herausforderung.

*

Der Ansager des Kümmeltaler Landfunks moderiert mit kühler Stimme die 9.00 Uhr Nachrichten.
Gustav beginnt seinen freien Tag mit einem kräftigen Frühstück. Dazu hört er die News. Am meisten interessiert ihn, ob die flüchtige Löwin eingefangen worden ist.
Mensch, laber nicht so viel. Komm zur Sache. Aber erst zum Schluss kommt der Sprecher darauf zu sprechen.
„Die flüchtige Löwin wurde im Buchenwäldchen gesichtet. Drei Aktivisten der Pro Pet beteiligen sich an der Suche, um ein Zeichen zu setzen.“
Gustav hält inne und hört auf zu kauen. Er bekommt Gänsehaut, als er sich an ihre Parolen erinnert: Ein totes Raubtier ist besser dran als ein eingesperrtes. Sie werden nicht zögern, kurzen Prozess zu machen. Das bedeutet Shakiras Tod.
„Die Mitglieder der Pro Pet sind zu ihrer Sicherheit bewaffnet unterwegs“, fügt der Radiosprecher mit seiner monotonen Stimme hinzu.
„Pah, zu ihrer Sicherheit bewaffnet, dass ich nicht lache“, brummt Gustav. Mit einem Satz springt er auf, packt seine Sweatjacke und stürmt aus dem Haus.
Eilig wirft er den Motor des E-Bikes an. Jede Sekunde zählt. Sein Herz schlägt hammerhart in der Brust, als er atemlos das Wäldchen erreicht.
An einem Baum schließt er das Rad an, um sich die letzten Meter zu Fuß heranzuschleichen.
Vorsichtig, ohne ein Geräusch zu verursachen, huscht er tiefer in das Wäldchen. Durch ein dichtes Gebüsch entdeckt er drei bewaffnete Männer. Einer davon ist Ricky, der zweite Charlie und den dritten kennt er nicht.
Der fiese Möpp ist natürlich auch dabei. Der ist für jede Schandtat gut, denkt er grimmig.
Lautlos huscht er hinter ihnen her. Plötzlich bleibt der Aktivisten-Anführer abrupt stehen und dreht den Kopf nach rechts. Jetzt sieht auch Gustav, was der andere sieht.
Hinter einer Blautanne schaut der sandfarbene Löwenkopf hervor. Die über 200 Kilo Muskelmasse sind geduckt. Der Löwenschwanz mit der dunkleren Quaste peitscht aufgeregt hin und her. Das Tier wittert etwas.
Die jungen Männer sehen sich fragend an. Mit einem Nicken gibt ihnen ihr Anführer ein Zeichen und legt das Gewehr an.
Dann geht alles sekundenschnell. Das Geräusch des Ladens, der Schuss, der sich löst, und das Brüllen der getroffenen Löwin. Angeschossen schleppt sie sich ein paar Meter weiter und sackt zusammen.
Der Löwenbändiger schreit angstvoll auf und rennt in die Richtung des verletzten Raubtiers. Die Tieraktivisten erschrecken. Verdutzt bleiben sie stehen.
Dadurch bekommt er einen Vorsprung und ist als Erster bei der verletzten Großkatze. Aus einer großen Brustwunde läuft Blut. Wenn nicht schnell Hilfe kommt, würde der große Blutverlust zu ihrem Tod führen.

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