Ein Jahr

Ein Jahr

Warum ich mich als Schmetterling fühle

Hadassa Munda


EUR 21,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 160
ISBN: 978-3-99146-512-6
Erscheinungsdatum: 14.03.2024
Anna kann nicht mehr – sie ist ausgebrannt, kann dem Druck in der Arbeit nicht mehr standhalten, weiß nicht mehr weiter. Diagnose: Burn-out. Wie soll es nun weitergehen? Ein harter Weg zurück zu sich selbst steht ihr bevor, doch Anna ist bereit zu kämpfen …
Die Vorgeschichte

8. Oktober. Es soll ein Tag werden, wie kein anderer.
Das Team samt Vorgesetzten hat den monatlich stattfindenden Jour fixe. Wie üblich werden verschiedenste Themen abgehandelt, die das gesamte Team betreffen. Doch dieses eine Mal ist etwas anders. Es sind Emotionen, Anna fällt auf, dass Diskussionen äußerst emotional geführt werden. Und dann geschieht das Unfassbare: Nach Beendigung der Besprechung steht Anna auf, nimmt ihre Unterlagen samt Handy vom Tisch und rückt den Sessel nach hinten, damit sie von ihrem Platz weggehen kann. Doch Anna kann sich zunächst nicht umdrehen, sie fühlt an ihrer rechten Pobacke Wärme. Als sie sich dann doch umdreht, sieht sie zwei Kollegen direkt ins Gesicht und dann dem Kollegen, der sein Geschlechtsteil an sie presst, dabei Laute von sich gibt und die Hände in der Höhe hat. Plötzlich ist Anna völlig perplex, sie erstarrt und läuft weg. Beim Verlassen des Raumes sieht sie noch ihrem Chef ins Gesicht. An seinen Gesichtsausdruck wird sie sich später noch sehr gut erinnern können. Er steht einfach da, sagt kein Wort und nimmt eine distanzierte Haltung ein. Das wars!
Was Anna erstaunt, ist, dass sie nach den Geschehnissen ganz normal weiter arbeiten kann, so, als ob nichts wäre. Sie nimmt einfach eine lange Stille im Büro wahr. Ihr Chef spricht sie tagelang nicht an und die Kollegen, die in dieser Situation dabei waren, auch nicht. Zu diesem Zeitpunkt realisiert Anna nicht bewusst, was eigentlich wirklich geschehen ist. Doch dann – nach einer Woche – telefoniert sie mit einem guten Freund, und während dieses Gespräches bricht sie plötzlich emotional aus sich heraus und bekommt einen starken Weinkrampf. Sie erinnert sich an dieses schreckliche Vorkommnis und schildert es ihm am Telefon. Dann ist Funkstille!
Die beiden beenden das Gespräch. Nun ist klar – Anna ist eine Woche lang im Schock. Das, was vor sieben Tagen geschehen ist, war ein körperlicher Übergriff, und das in Anwesenheit von Kollegen und dem Chef – ganz offiziell nach einer Teambesprechung. Als Anna das realisiert, fällt sie in sich zusammen und ist total fertig. Sie weiß nicht, wie es mit ihr weitergehen soll.


Anna, die eine empathische Frau um die vierzig ist, versucht trotzdem, ihren Alltag so normal wie möglich zu gestalten. Sie geht ihrer Arbeit nach und versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Mitte des darauffolgenden Jahres, also circa ein halbes Jahr später, fällt ihr auf, dass Arbeitskollegen sie verstärkt immer wieder blöd anreden und sie mehr und mehr isoliert wird. Das ist deswegen verwunderlich, weil Anna eigentlich bei allen beliebt ist und auch regen Kontakt zu Kollegen pflegt. Sie studiert bereits seit einem Jahr berufsbegleitend Wirtschaft. Die Motivation dazu liegt in ihrer privaten Situation – sie hat Ressourcen frei, weil sie sich dazu entschlossen hat, keine Kinder zu bekommen. Ihre Freizeit möchte sie daher in Bildung investieren. Ihr Ziel ist es, im Konzern zu bleiben, aber sich beruflich zu verändern und in einem anderen Bereich tätig zu werden. Besonders für den Bereich Human Resources interessiert sie sich. Diesen Schritt gesetzt zu haben, motiviert Anna und gibt ihre neue Kraft. Aber es ist auch eine mutige Entscheidung, wie sich noch herausstellen wird!
Denn in ihrem beruflichen Umfeld war es schon immer unüblich, neben dem Beruf zu studieren, ganz besonders als Frau. Der Unterricht findet immer zum Wochenende statt, ab Freitagmittag und samstags ganztägig. Es wurde als berufsbegleitendes Studium deklariert und Anna ging eigentlich davon aus, dass es mit der Arbeitszeit keine Überlappungen geben werde. Was nun eben nicht so ist. Ganz im Gegenteil – es wurde zu einem zweiten Vollzeitjob.
Durch diese Veränderung wird ein neues Zeitmanagement nötig – nicht nur das, der gesamte Alltag verändert sich und letztendlich wirft es Anna ganz schön aus der Bahn. Zwei anspruchsvolle Vollzeit-Jobs und noch das Büro bei einem Freund in seiner Firma zu managen – das ist dann doch sehr viel. Anna, die alles sehr gewissenhaft erledigen möchte und sicher auch zum Perfektionismus neigt, kann das alles nicht mehr unter einem Hut bringen. Keine Wochenenden mehr, das bedeutet keine Freizeit und auch keine Möglichkeit mehr zur Erholung.
Viele Stunden und Tage sind zur Bearbeitung von Projekten und Hausaufgaben außerhalb des normalen Studienbetriebes notwendig. Dies hat natürlich Auswirkung auf das Zeitmanagement im Büro, nämlich insofern als Annas Zeit, die sie im Büro verbringt, zu einer sehr kostbaren Ressource geworden ist. Anna plaudert nicht mehr so viel wie üblich mit Kollegen, kommt nicht mehr zum Mittagessen oder zum Kaffee. Neu strukturiert erledigt sie ihre Arbeit im Büro und ist dann gleich wieder fort.
Da beginnen die ersten ernsten Probleme.
Viele von Annas sogenannten „lieben“ Kollegen und Kolleginnen nehmen das nicht zur Kenntnis. Über fachliche Inhalte zu reden, kommt für sie nicht infrage und Anna will ihre kostbare Zeit nicht mehr für private Angelegenheiten und Gerüchteküchen zur Verfügung stellen. Von da an wird ihr Ablehnung entgegengebracht. Überrascht ist Anna vor allem davon, dass die Kolleginnen, mit denen sie sich auch privat angefreundet hat und die somit auch sehr viel voneinander wissen, diejenigen sind, die am wenigsten dafür Verständnis zeigen, dass sie nicht mehr so viel Zeit mit ihnen verbringt. Anna ist so enttäuscht.
Man kann sagen, dass Annas „liebe“ Kollegen tatsächlich einen Besitzanspruch an sie haben – es ist ihr zum jetzigen Zeitpunkt gar nicht bewusst. Sie haben von ihr erwartet, dass sie bei ihnen ihren Segen abholt, bevor sie sich verändert. Sie darf ohne das Einverständnis von den Kollegen nicht das machen, was sie will. Das sagen sie ihr ins Gesicht und das zeigen auch die weiteren Ausführungen.


Im Rahmen eines Verkaufstrainings stehen Anna und eine kleine Gruppe von Kollegen bei einem Stehtisch und unterhalten sich über die Präsentation, die im Zuge einer Gruppenarbeit erarbeitet worden ist. Ganz plötzlich und unerwartet geht ein Kollege, den Anna schon lange und gut kennt, an ihr vorbei und greift sie verbal mit der Aussage, dass sie endlich mal was arbeiten soll, an. Die ganze Gruppe kommt auf Anna zu und starrt sie an. In diesem Moment ist Anna so überrascht, dass ihr nichts einfällt und sie daher nichts dazu sagt. Ihr gibt es einen Stich, sie fühlt sich gekränkt. In Wirklichkeit ist sie ihrer Zeit voraus und schafft nun die gleiche Arbeit in einem kürzeren Zeitrahmen. Doch das checken die Kollegen noch nicht. Am nächsten Tag folgt Teil zwei des Trainings. Die Initiative zur folgenden Situation gibt eine Kollegin mit Namen Elisabeth, die schon sehr lange im Unternehmen ist und zu Anna kein gutes Verhältnis hat. Sie spricht die Kursleiterin auf deren Scheidung an. Diese Aussage empfindet Anna als völlig unpassend, denn es geht um das Privatleben der Trainerin, das hat doch nichts in einer Schulung verloren. Als Elisabeth, die kurz vor der Pension steht und neben Anna sitzt, diese Betroffenheit bemerkt, beginnt sie, Anna nachzuäffen. Dann mischen andere weibliche Kolleginnen mit. Eine attackiert Anna, weil sie ein Studium begonnen hat, die nächste beklagt sich darüber, dass die EDV nie funktioniert, und noch eine andere behauptet, dass die EDV schon funktioniert – darüber hat sich Anna einige Tage vorher beschwert. Als Anna dazu einen Kommentar abgibt, wenden sich alle von ihr ab, und wenn sie nichts sagt, starren sie alle an. Anschließend kommt zur Sprache, dass Anna mit einem älteren Mann zusammen ist. Was hat das in der Arbeit und in dieser Schulung zu suchen? Es ist Annas Privatangelegenheit. Sobald sie etwas dazu sagen möchte, fällt man ihr ins Wort, sodass sie nicht weitersprechen kann.
Nach Beendigung dieser zweitägigen Schulung fühlt sich Anna sehr müde, ausgelaugt und unter Druck gesetzt. Warum haben die das gemacht? Interessant ist der Aspekt, dass es Parallelen zur Kursleiterin gibt. Die Trainerin ist in etwa gleich alt wie Anna, hat studiert, einen älteren Mann geheiratet und ist beruflich erfolgreich unterwegs.


Dabei bleibt es nicht. Einige Tage später folgt das nächste Seminar. Eine Kollegin, die noch nicht lange im Unternehmen ist, setzt sich sehr gezielt neben Anna. Die ganze Zeit über versucht sie, Anna in ihre privaten Angelegenheiten hineinzuziehen, und spricht sie ständig auf ihr Privatleben an. Anna fühlt sich äußerst unwohl, reagiert nicht darauf und lässt sich auf keine Diskussion ein. Es kostet sie sehr viel Kraft, sich abzugrenzen.


Seit vielen Jahren ist Anna in einer Gemeinschaft, die aus einigen Kollegen und Kolleginnen besteht, die schon lange im Unternehmen sind, und in der einige Male im Jahr privat gemeinsame Aktivitäten organisiert werden. Unter anderem steht ein Abend im Bauerntheater an.
Die Vorstellung selbst ist sehr unterhaltsam und Anna freut sich über diesen gemeinsamen Abend. Doch die Freude ist nur von kurzer Dauer. Immer wieder wird sie provoziert. Da fallen Bemerkungen wie: „Heutzutage weiß man ja gar nicht mehr, was man tun darf, und was nicht. Die Frauen sind gefährlich.“ Fritz, der das sagt, betont auch, wie gut er materiell dasteht. Abgesehen davon, dass er wirklich vermögend ist, verletzt diese Aussage Anna sehr. Dieses Statement bezieht sich auf die Tatsache, dass Anna ihren Vorgesetzten darüber informiert hat, dass sie nach dem körperlichen Übergriff beim Anwalt war und ein entsprechendes Schreiben hinterlegt hat. Gleich haben sich noch zwei weitere männliche Kollegen Fritz angeschlossen und zu dritt behaupten sie, dass die Frauen schuld sind und die Männer reizen. Noch kurz vor Beginn der Vorführung kommt die Ehefrau von Fritz, der die Reise organisiert hat, auf Anna zu und spricht sie abwertend auf ihr Studium an. Bevor Anna noch irgendetwas darauf sagen kann, ist sie auch schon wieder weg. Im Endeffekt ist es kein gelungener Abend, denn Anna fühlt sich total unverstanden, und was sie am meisten trifft: Es sind auch die Frauen, die da mitmachen.


Ganz unerwartet wird eines Tages ein neuer Kollege in Annas Büro gesetzt. Das wurde mit ihr gar nicht abgesprochen, obwohl das üblich ist – der Chef hat sie einfach darüber informiert, dass es eben so ist. Der Mann ist gebürtig aus dem Kosovo. An und für sich hat Anna damit kein Problem. Sie ist es gewohnt, auch mit Menschen, die einen Migrationshintergrund haben, Geschäfte zu machen. Für sie ist es nicht wesentlich, woher jemand kommt – was zählt, ist der Charakter eines Menschen und hoffentlich eine gute Einstellung zu Frauen. Denn Anna sitzt allein mit ihm in einem Raum, und das ist schon was ganz anderes. Schließlich haben die beiden sich nicht viel zu sagen und es bleibt ein distanziertes Arbeitsverhältnis. Außerdem wird Anna das Gefühl nicht los, dass er über sie vorinformiert ist. Ihr Gefühl täuscht sie nicht, wie sich später noch herausstellen wird.
Kurz vor Einzug dieses neuen Kollegen zieht Hannes aus Annas Büro aus und bezieht ein Zimmer, in dem nur Männer sitzen. Diese Umsiedelung geschieht nicht ganz freiwillig, sondern dieser sind viele Diskussionen vorausgegangen. Viele Jahre sitzt Anna mit Hannes in einem Raum und erst nach langer Zeit – als Anna in ihrem privaten Umfeld Änderungen vornimmt und daher auch die Bürozeiten anpasst – bemerkt sie eine massive Verhaltensänderung an ihm. In Wirklichkeit hat Anna in den Augen von Hannes eine Funktion inne, die sie so nicht mehr mittragen kann. Er ist alleinstehend, etwas sonderlich, Akademiker und seit vielen Jahren mental nicht gesund. Soweit kann Anna ganz gut damit umgehen, nur wenn seine depressiven Schübe kommen – das war immer im Frühjahr und kurz vor Weihnachten – kommt sie an ihre Grenzen und weiß nicht so recht, wie sein Verhalten einzuschätzen ist. Schließlich ist Anna keine Therapeutin. Die ganze Situation ist eine zusätzliche Belastung. Oft kommen Gedanken hoch, in denen sich Anna ausmalt, was alles passieren könnte. Zum Beispiel bekommt Hannes plötzlich einen roten Kopf, beginnt zu zittern und knallt den Hörer auf den Telefonapparat. Keiner weiß, warum er das macht. Zumindest Anna nicht. Als sie ihn zurechtweist, als er zum wiederholten Male die Grenze überschreitet, beruhigt er sich und läuft aus dem Büro. Anna informiert auch ihren Chef darüber. An seiner Reaktion ist zu erkennen, dass er ihre Schilderungen nicht wirklich ernst nimmt.
Nach einiger Zeit wird klar, dass Hannes Anna als seine Frau betrachtet. Obwohl von ihrer Seite nie eine Veranlassung dazu gegeben wurde. Deshalb ist auch klar, warum er immer äußerst höflich zu Anna ist und auch nie ein schlechtes Wort fällt. Seit Anna jedoch studiert und weniger Zeit im Büro verbringt, ist auch Hannes instabiler und ihr gegenüber weniger höflich, er ist beleidigt. Anna ist für ihn nicht mehr verfügbar und er weiß auch nicht mehr so genau Bescheid, wann sie im Büro ist und wann nicht. Das alles zeigt, dass Anna eine bestimmte Rolle innehat, eine Rolle, die sie nicht mehr ausfüllen kann und will. Sie setzt ihre Prioritäten neu. Zum ersten Mal in ihrer Berufslaufbahn setzt sie sich mit sich selbst auseinander und ihr wird bewusst, dass sie sich in einer Situation befindet, die ihr gar nicht entspricht. Es ist eine für sie belastende Arbeitssituation, weil es sehr viel Kraft braucht, von einem destruktiven Menschen umgeben zu sein. Aus diesem Grund veranlasst Anna ihren Chef, Hannes in ein anderes Büro zu versetzen.


Die ganze Bürosituation bessert sich jedoch nicht. Anna fühlt sich sehr unwohl, kann sich nicht auf ihre Arbeit konzentrieren, weil der Kosovare sehr viel in seiner Muttersprache telefoniert, also mit Sicherheit privat . Anna überlegt, was sie tun soll. Nach einiger Zeit überwindet sie sich und spricht ihren Verkaufsmanager darauf an. Dieser ist ungefähr im selben Alter wie Anna, fachlich sehr kompetent und auch empathisch. Normalerweise. Seine jetzige Antwort: „Hab’n wir dir den nächsten Depp’n reingesetzt.“ Anna ist völlig vor den Kopf gestoßen und fragt ihn, wie er auf so eine ungeheuerliche Aussage kommt. Er wendet sich von ihr ab und gibt keine Antwort. Die Entscheidung, dass Hannes in ein anderes Büro übersiedelt, wurde letztendlich über den Chef abgewickelt. Nun bekommt Anna das deutlich zu spüren. Auch dadurch, dass Hannes vor ihr herumhüpft, wenn er sie im Gang trifft – eine normale Kommunikation ist offensichtlich nicht mehr möglich. Die vielen Jahre, die Anna mit ihm im Büro verbracht hat, werden nicht wertgeschätzt, sondern das Gegenteil ist der Fall. Es wird ihr heftige Ablehnung entgegengebracht.


Die Zeit vergeht und circa einen Monat später findet ein Bürofest statt. Anlass ist der Abschied einer jungen Kollegin, die sich für ein Jahr eine Auszeit nimmt, da sie die Welt bereisen möchte. Alle sind eingeladen, auch Anna. Sie findet es toll, die Möglichkeit zu nutzen, sich in jungen Jahren die Welt anzuschauen. Man entwickelt seine Persönlichkeit weiter und wird gebildeter. Doch es soll alles andere als ein gemütlicher Nachmittag werden.
Völlig aus dem Rahmen gerissen sagt ein Kollege zu Anna, dass sie weit und breit keinen Partner hat. Dafür sei sie viel zu kompliziert. Der nächste meint, dass die Frauen sowieso so viel Geld haben – Anna hat ein neues Auto mit neuem Kennzeichen– und mit wem sie schläft. Danach erzählt eine Kollegin– alleinerziehende Mutter und immer und überall bei allen Festen, die in der Firma organisiert werden, dabei –, dass ihre Tochter Klavier spielt und sie nun einen neuen Laptop braucht. Für einen PC hat sie keinen Platz. Gleich darauf beschwert sie sich, dass Anna für ihr Studium alles im Büro ausdruckt. Vermutlich will sie auf ihre prekäre finanzielle Situation hinweisen, und dass Frauen auf die Männer angewiesen sind – zumindest ist es offensichtlich bei ihr so. Denn sie ist schon oft in männlicher Begleitung von den Festen verschwunden. Wie auch immer das gemeint ist, es ist nicht Annas Welt.
Plötzlich kommen zwei weitere Kollegen dazu. Einer von ihnen streichelt leicht Annas Oberarm. Sie dreht sich weg und er sagt zu ihr, dass er mit seiner Frau immer noch zusammen ist, obwohl sie ihn betrogen hat. Sie würden halt schauen, dass es irgendwie funktioniert. Nebenbei macht er Anspielungen auf Annas Studium – nichts Konkretes, einfach abschätzende Bemerkungen. Dann gehen die beiden weg, kommen zurück, gehen wieder weg und kommen wieder zurück.
Was ist bloß los? Anna kann das alles gar nicht auf einmal verarbeiten. Sie fühlt sich ohnmächtig und spürt, dass sie nicht handlungsfähig ist. Sie schafft es einfach nicht, sich zu verteidigen. Diese ganzen gezielten Angriffe. Sie wird kontrolliert und offensichtlich sprechen sich alle ab – und das in Anwesenheit des Personalvertreters. Nach diesem Schock verlässt Anna die Veranstaltung. Zu Hause angekommen ist sie sehr müde, bekommt starke Kopfschmerzen und ist zu nichts anderem mehr fähig.
Am nächsten Morgen spricht Anna den Personalvertreter direkt auf die gestrigen Vorkommnisse an und beschwert sich massiv darüber. Es sei diskriminierend und verletzend, wie sie von den KollegInnen behandelt werde. Was das eigentlich alles solle. Es sei nur um Privates gegangen und habe nichts mit der Arbeit zu tun. Anna erhält keine Antwort darauf. Das einzige Statement darauf: „Was hast du? Es ist eh alles in Ordnung!“


Der Sommer zieht vorüber und es wird August. Wieder ist Anna zu einer Schulung eingeladen. Während dieser wird sie auf ihre Familiensituation angesprochen.Man fragt sie, ob sie über den Sommer bei ihren Eltern gewesen sei und ob die Geschwister noch zu Hause leben würden, und zwar derart laut, dass es alle im Raum hören können. Nach der Schulung mittags im Lift trifft Anna eine Kollegin, die normalerweise überhaupt nicht mit ihr über private Dinge spricht, und sie teilt Anna mit, dass sie nun nach Hause fährt, weil ihr Sohn das Haus umbaut. Er hat sein Studium mit dem Titel Diplomingenieur abgeschlossen. Ja, okay, es ist schön, wenn man sich unter Kollegen austauscht. Natürlich wird im Büro auch über Privates gesprochen – beim Mittagstisch, im Kaffeehaus oder bei den Festen. Das ist durchaus üblich. Was Anna an diesem Tag skeptisch werden lässt, ist, dass sie während einer Schulung so privat angesprochen wird. Es ist völlig aus dem Rahmen und vor allem sind es Menschen, die mit Anna nichts zu tun haben.
Es folgen weitere Verhaltensweisen in der Gruppe im Büro, die Anna in ihrer Arbeit stören. Zum Beispiel, wenn sie mit Kunden im Servicebereich sitzt, fokussieren sie die anwesenden Kollegen und setzen sich während des Gespräches hinter sie. Schaut sie auf, grinsen sie ihr nur zynisch ins Gesicht und drehen sich von ihr weg. Thematisiert Anna das, folgt immer die gleiche Antwort: „Was hast du denn? Es ist nichts.“
Dieses Spiel geht weiter und es soll noch heftiger kommen. Mittlerweile ist es Mitte September und der monatliche Jour fixe des Teams findet statt.
Heute setzt sich Michael, der den körperlichen Übergriff vor mittlerweile knapp einem Jahr verübt hat, direkt neben Anna. Sie fühlt sich äußerst unwohl. Und dann folgt die unglaubliche Aussage des Vorgesetzten, nämlich, dass es ihm egal sei, wie sie zu ihrem Geschäft kämen, Hauptsache es werde abgeschlossen. Das notiert sich Anna und alle Blicke richten sich auf sie. Ihre Betroffenheit kann Anna nicht verbergen. Daraufhin spricht der Chef kein Wort mehr und begibt sich in die Opferrolle. Das Ganze ist doch zur Chefsache geworden und soll auch so geregelt werden. Am Ende dieses Meetings wird damit gedroht, dass, wenn die Zahlen nicht passen, die betroffenen Mitarbeiter gekündigt werden. Am Wochenende erfährt Anna aus der Zeitung, dass neue Führungskräfte gesucht werden. Damit ist klar, dass eigentlich der Chef selbst weg ist. Anna hat kein Wort davon intern erfahren.

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