Zurück in der Diktatur

Zurück in der Diktatur

40 Jahre nach der Flucht aus einem Überwachungsstaat in einem neuen gelandet

Jan Loucka


EUR 14,90
EUR 8,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 46
ISBN: 978-3-99107-795-4
Erscheinungsdatum: 13.09.2021
1980 flüchtet Jan Loucka von der Tschechoslowakei nach Österreich, in die vermeintliche Freiheit. Vier Jahrzehnte später fragt er sich, ob er tatsächlich (noch) in einer Demokratie lebt. Oder sind nicht längst die Weichen für einen Überwachungsstaat gestellt?
Unsichtbar wird die Dummheit, wenn sie genügend
große Ausmaße angenommen hat.
Bertolt Brecht

Teil 1
Lebenslauf

1980
Firma, CZ
„Du hast Äußerungen von dir gegeben, die nicht im Einklang mit unserer sozialistischen Moral sind und nur den imperialistischen Machenschaften dienen. Deine Dienstreise nach Österreich zur Firma Heizkessel KG ist gestrichen. Deinen Dienstpass, deine Schilling-Diäten und die Reiseerlaubnis wirst du in Prag bei der Strojimport-Vertretung zurückgeben.“
Das war der Befehl des Direktors meiner Firma.
Ich war als Heizungstechniker angestellt, zuständig für den Einsatz mobiler Heizzentralen im nordböhmischen Land. Die Heizcontainer wurden damals in Österreich hergestellt und in die Tschechoslowakei geliefert.
Nachdem der Direktor und sein Vertreter Österreich hatten besuchen dürfen und mit großzügigen Geschenken heimgekommen waren, sollten jetzt die Techniker dort eine Schulung erhalten, da der Betrieb in Tschechien nicht reibungslos gelaufen war. Diese Schulung war nach diesem Gespräch hinfällig.
So machte ich mich auf den Weg nach Prag, um die Dokumente zurückzugeben. „Welcher Spitzel hat mich verpfiffen? Welche weiteren Folgen wird mein loses Maul für mich haben? Welche Repressalien werden auf mich warten bei meiner Rückkehr?“ Das waren meine Gedanken während der Fahrt nach Prag.
Dann aber wurde mir bewusst, dass ich im Besitz gültiger Reisedokumente war, und mein Entschluss wurde immer konkreter: „Ich will nicht mehr zurück. Ich will in einer Demokratie leben und die Freiheiten genießen, die mir bis jetzt verwehrt worden sind!“
Ich fuhr an Prag vorbei Richtung Grenzübergang Wullowitz. An der Grenze gab es keine Probleme, schließlich waren meine Dokumente in Ordnung. Mit dem Herz in der Hose überquerte ich die Grenze und war endlich in Freiheit.

2009
Firma, A
Ich saß wieder einmal einem Vorgesetzten gegenüber und bekam von ihm wieder einmal einen Befehl (Dienstauftrag). Ich sollte eine Ausbildung zur Reha-Fachkraft machen, trotz meiner 24-jährigen Erfahrung als Pädagoge in der Erwachsenenbildung. Diese Gehirnwäsche war für alle unter 58-jährigen Männer und alle 56-jährigen Frauen verpflichtend (das nennt man Gleichberechtigung). Sie bestand aus mehreren Vorträgen über berufliche Rehabilitation, die alle langgedienten Mitarbeiter schon vorher in diversen Seminaren mehrmals absolviert hatten. Zusätzlich gab es ein Zertifikat für Gendermainstreaming. Wer das bis zu diesem Tag nicht begriffen hatte, hätte es nach dieser Zwangsbeglückung auch nicht verstanden. Aber Vorschrift ist Vorschrift!
Wenn man jedoch das System mit all seinen Schwächen und die Dummheit einiger „Führungskräfte“, die nach „Peters Prinzip“ befördert worden sind, kennt, dann kann man sich dagegen dementsprechend wehren.
Pensioniert wurde ich „leider“ ohne diesen „heißbegehrten“ Titel, nur mit meinem – durch Studium erworbenen – akademischen.
Alle anderen Kollegen akzeptierten mit Murren, aber widerstandslos diese Bevormundung.
Was sollte man denn machen?
Bei einigen Diskussionen über die Entstehung des Nationalsozialismus oder anderer totalitärer Systeme äußerten dieselben Kollegen die Meinung, dagegen hätte man etwas tun müssen, man hätte Widerstand leisten sollen.

1952–1958
Kindheit, CZ
Ich wurde am 28. Februar 1952 in einer nordböhmischen Stadt geboren. Meine Eltern hatten unterschiedliche Rhesusfaktoren was damals immer zu Problemen bei der Geburt führte. Ich bekam eine Transfusion und überlebte knapp.
Mein Vater hatte Jus an der Karls-Universität in Prag studiert und arbeitete nach dem 2. Weltkrieg in der Stadtverwaltung. Er verwaltete den Besitz der Deutschen, die hier gelebt hatten – unter ihnen Nazis, die ihre Häuser entweder hatten verlassen müssen oder deportiert worden waren. Er erzählte mir später, wie sich die späteren kommunistischen Führungskräfte bedient und in der Nacht alles gestohlen hatten, was wertvoll und nicht niet- und nagelfest war. Er wurde später auch für diese Diebstähle zur Verantwortung gezogen.
Nach dem kommunistischen Putsch 1948 wurde er als „bourgeoiser Schädling“ entlarvt und zur Umerziehung zu manueller Arbeit eingeteilt. Dreher, Lagerarbeiter, Betonierer und Schienenverleger bei der Eisenbahn, das war seine Berufslaufbahn in den 50er-Jahren.
Meine Mutter stammte aus einer Bauernfamilie in Südmähren (Großvater war während des Krieges Bürgermeister eines kleinen Dorfes und hat einigen Menschen das Leben gerettet. Später wurde er enteignet).
Mutter studierte auf Lehramt, war aber im Lehrberuf nicht tätig, sondern arbeitete beim Finanzamt. Sie war eigentlich die starke Person in unserer Familie, bodenständig, mit einer großen Portion Hausverstand.
Meine frühesten Erinnerungen an meine Kindheit beziehen sich auf unsere Einzimmerwohnung ohne Heizung, Wasser und WC auf dem Gang. Ich war sehr erfreut, als mein Vater von der Arbeit im Lager zurückkehrte und ein paar angefaulte Orangen mitbrachte. Sie waren damals eine Seltenheit.
Meine Vorschulzeit absolvierte ich im Kindergarten, geprägt von der stalinistischen Ideologie. Später erfuhr ich von meinen Eltern, dass meine Äußerungen, die ich aus dem Kindergarten heimgetragen hatte, sie oft auf die Palme brachten. Sie trauten sich aber nicht, etwas dagegen zu sagen, weil Kinder ja alles Mögliche ausplappern würden.
Im Kindergarten fühlte ich mich ein wenig benachteiligt, vielleicht war unsere Herkunft auch daran schuld, denn die Kindergartentanten waren natürlich ideologisch einwandfrei und ich war ein Kind von Feinden der Arbeiterklasse.

1980
In Freiheit, A
In Österreich angekommen mit einer Tasche und 5000 Schilling und kaum Deutschkenntnissen, war ich am Anfang ein wenig verloren. In einem totalitären System kümmert sich der Staat um alles. Er sagt dir, was du tun musst, wo du hingehen sollst und darfst und wie du dich zu verhalten hast.
Mit Hilfe eines Bekannten gelang es mir, bei der Bezirkshauptmannschaft Linz um politisches Asyl zu bitten.
Viele Leute fragten mich später, wie das am Anfang gewesen sei. Ganz allein ohne soziale Kontakte und Hilfe. Es war deprimierend, weil man nichts zu tun hatte und mit großer Unsicherheit nur wartete, ob der Asylantrag positiv beschieden würde. Es war keine angenehme Zeit.
Im Jänner 1981 bekam ich endlich den positiven Bescheid.
Mit diesem ging ich zum Arbeitsamt und erhielt fünf Firmenadressen, um mich dort vorzustellen.
Bei der ersten Firma – einem Industrieofenbau – wurde ich aufgenommen. Ich könne am folgenden Montag anfangen, mein Gehalt betrage 10000 Schilling brutto. Ich solle mir ein Gehaltskonto bei einer Bank einrichten.

1958–1967
Grundschule, CZ
Ich wurde eingeschult und sozialistisch gebildet. Als lebendiges Kind, heute würde man sagen hyperaktiv, hatte ich oft Probleme mit den Lehrkräften. Die Eintragungen in die Mitteilungshefte waren meistens immer dieselben: „Er stört, er kann nicht ruhig sitzen, er tratscht, er passt nicht auf!“ Meine Mutter verzweifelte oft und erlaubte den Lehrern, mir eine „Watsche zu schmieren“ und bat darum, sie nicht ständig mit Mitteilungen zu bombardieren.
Eine der Ursachen für meine Störaktionen war „die unerträgliche Leichtigkeit des Lernens“. Ich hatte und habe bis heute eine schnelle Auffassungsgabe, und mir waren die ständigen Wiederholungen für die, die schwer von Begriff waren, einfach langweilig. Ich fühlte mich nicht ausgelastet. Besonders in der Mathematik konnte ich nicht verstehen, dass das jemand immer noch nicht kapiert hatte. Der Haupttenor bei den Elternabenden war: „Er ist gut, aber wenn er wollte, könnte er viel besser werden.“ Ich aber dachte mir, solange ich mit Minimaleinsatz nur Einser und ab und zu einen Zweier im Singen oder Malen bekomme, bräuchte ich nicht mehr tun. Es gab wichtigere Sachen, wie Sport und Spiele.
Ich glaube, es war in der 3. Klasse, als wir ein Theaterstück aufführten. „Das böse Atom“ hat es geheißen. Ich wusste nicht, warum ich die Hauptrolle bekommen hatte. Ich trug einen schwarzen Mantel mit einem großen aufgenähten A. Alle anderen Kinder fesselten mich zum Schluss und ich durfte zu friedlichen Zwecken ein Rad drehen. Das böse Atom war besiegt. Ein ideologisches Meisterstück!
Mein Vater „durfte“ Anfang der 60er-Jahre die Eisenbahn verlassen und wurde zum persönlichen Sekretär eines Direktors der größten chemischen Firma in der Stadt. Der Direktor war ein Arbeiter, ein Kommunist, der der tschechischen Sprache nicht richtig mächtig war und er brauchte jemanden, der seine Korrespondenz und seine Reden auf Vordermann brachte. Mein Vater war in dieser Hinsicht einsame Spitze. Meine Aufsätze brachten ihn oft zur Verzweiflung. „Staubtrocken“, war sein Kommentar zu meinen literarischen Ergüssen. Meine Stärken waren halt Mathematik, Logik und Technik.
Die Pflichtschule im Arbeiter- und Bauernstaat dauerte neun Jahre und bestand aus fünf Jahren „Volksschule“ (mit nur einer Lehrerin in meinem Fall) und einer „Hauptschule“ (je Fach ein Lehrer oder eine Lehrerin). Ich inhalierte alle ideologischen Vorgaben und präsentierte sie auch ganz stolz daheim.
Ein Slogan aus damaliger Zeit war: „Wir werden dem Wind und Regen befehlen!“
Auch heute will man einem Virus Befehle erteilen und ihm die Grenzen zeigen!
Damals verstand ich nicht, warum mein Vater nach meinen Äußerungen oft mit rotem Schädel das Zimmer fluchtartig verließ.
Endlich bekamen wir in der 6. Klasse auch Männer als Lehrer. Unser Turnlehrer imponierte mir besonders. Nun konnte ich mein Temperament bei Sportveranstaltungen ausleben, und die Schule lief einfach nebenbei mit Minimalanstrengung. Solange ich nur Einser und Zweier heimbrachte, waren meine Eltern zufrieden.
Nachträglich betrachtet, wurde schon in der 9. Klasse (1967) eine andere Stimmung in der Gesellschaft spürbar. Es gab Informationen, die nicht im Einklang mit der offiziellen Linie der kommunistischen Partei waren und mein „ideologischer Panzer“ bekam die ersten Risse. Die Diskussionen wurden immer offener, das Jahr 1968 stand in den Startlöchern.

1981–1985
Erster Arbeitsplatz in Österreich, A
Mein erster Arbeitstag in der neuen Firma war aufregend. Ich bekam in einem Konstruktionsbüro ein eigenes Zeichenbrett, dazu Schreibtisch und Sessel. Mir wurde bewusst, dass mich alle wie etwas Exotisches beobachteten. Es waren auch andere Ausländer dort beschäftigt (ein Niederländer und ein Engländer), aber ich war der erste Ostblockbürger und noch dazu ein Flüchtling. Etwas später fing ein weiterer tschechischer Flüchtling aus Pilsen in der Werkstätte an.
Mittlerweile war ich von einem tschechischen Gericht in Abwesenheit zu drei Jahren unbedingter Haft verurteilt worden. Als schwerwiegend in der Begründung galt die Tatsache, dass ich durch meine Flucht den tschechischen Staat geschädigt hatte. Ich galt angeblich als Experte, von denen es nur wenige gab. Der andere Kollege aus Pilsen bekam ein Jahr. Er war „nur“ ein Dreher.
In der Firma fühlte ich mich wohl, meine schon erwähnte „unerträgliche Leichtigkeit des Lernens“ ermöglichte mir, schnell Fuß zu fassen, und mein Deutsch wurde immer besser. Nicht nur deshalb, weil meine Freundin (später meine Frau), die ich im Volleyballverein kennengelernt hatte, mich geduldig korrigierte.
Mein erster Vorgesetzter in Österreich – von uns der „Weiße Hai“ genannt, denn er trug bei der Arbeit immer einen weißen Mantel –, war der einzige Chef in meiner Laufbahn, der sowohl die fachliche als auch die menschliche Kompetenz zu 100 Prozent besaß.
Er bleibt bis heute für mich in Erinnerung als Mensch erster Güte.
1983 heiratete ich meine Freundin und ersuchte um die österreichische Staatsbürgerschaft. In Oktober 1984 war es so weit, und ich bekam einen österreichischen Pass. Mein akademischer Titel wurde an der TU Wien anerkannt. Das kostete „nur“ 6000 Schilling an Stempelmarken.
Die Arbeit in der Firma wurde bis auf ein paar Ausnahmen monoton, da es sich meistens nur um kleine Korrekturen standardisierter Anlagen handelte. Es wurde für mich immer langweiliger, und ich suchte nach einer neuen Herausforderung. Meine Frau wurde schwanger, und das Geld war ein wenig knapp.

1967–1970
Gymnasium, CZ
Nach dem Abschluss der Grundschule bewarb ich mich um Aufnahme im Oberstufengymnasium. Die Aufnahmeprüfung bestand ich ohne Probleme, und ich wurde dem naturwissenschaftlichen Zweig mit Fremdsprache Französisch Klasse 1.B zugeteilt. Eigentlich wollten fast alle in meiner Klasse eine andere Sprache lernen, aber es wurde halt so entschieden. Die Klasse 1.A (naturwissenschaftlich + Fremdsprache Deutsch) und die 1.C (humanistisch + Englisch) waren geplant. Unsere Klasse wurde einfach zusammengewürfelt aus Restbeständen, die nicht zu den anderen beiden Kombinationen passten. Lustigerweise bekamen wir später von den Lehrkräften das Lob, dass unsere Klasse die beste seit Jahren gewesen war.
Und dann kam das Frühjahr 1968.
Für mich war es ein Bruch mit allem, was vorher gewesen war. Alles, was ich in der Vergangenheit ideologisch eingetrichtert bekommen hatte, stellte sich als eine große Lüge heraus. Es war etwa so, als ob man einem christlichen Menschen seinen Gott klaut. Mein heutiges Misstrauen gegenüber der Politik und den Medien entstand sicher aus dieser Erfahrung und den folgenden nach dem 21. August 1968.
Meine Eltern trauten sich wieder, mit mir offen über gewisse Themen zu reden, und in der Schule wehte ein frischer Wind. Die Leute auf der Straße lächelten und waren freundlich, die Arbeit und die Schule machten Spaß.
Man sah Filme und Reportagen, die früher verboten gewesen waren, und die Geschichte mit neuen Fakten und Informationen wurde zum aufregendsten Lesestoff. Die Freiheit schien grenzenlos zu sein.
Doch dann kam der 21. August 1968. Die Armeen des Warschauer Pakts marschierten in die Tschechoslowakei ein, um diesen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ zu beenden.

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