Tanz um den Göttelborn

Tanz um den Göttelborn

Unterm Förderturm - Eine Kindheit und Jugend im Bergmannsdorf Göttelborn

Ursula Guthörl


EUR 18,90
EUR 15,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 270
ISBN: 978-3-99131-674-9
Erscheinungsdatum: 14.11.2022
Ursula Guthörl erzählt beeindruckend ihre Geschichte in einem kleinen Dorf im Saarland. Bildhaft beschreibt sie die karge, aber doch ereignisreiche Kindheit und Jugend. Ihre Biografie bietet einen bemerkenswerten Einblick in unsere Zeitgeschichte.
Vorwort

Auf den ersten Blick mag dieser Text wie eine Autobiografie aussehen. Ich nenne ihn eine Erzählung. Der Inhalt ist authentisch, aber nicht umfassend. Es ging mir darum, anhand von Beispielen der Wirklichkeit die fast versunkene Epoche zwischen 1935 und 1965 eines Kohlenbergwerksdorfes im Saarland auf mehreren Ebenen aus der persönlichen Erinnerung wieder auftauchen zu lassen. Ich hatte nicht den Ehrgeiz, möglichst objektiv zu berichten. Nur das, was ohne viel nachzudenken in mir hochstieg, fand – aus der Sicht des jeweiligen Alters – Aufnahme in meine Schilderungen. Recherchen habe ich keine gemacht. Während des Schreibens mischte sich ab und zu eine kleine Besorgnis ein, meine Offenheit könnte mir als Indiskretion angekreidet werden. Da mir jedoch Verständnis und Humor nachsichtig lächelnd über die Schulter schauten, bin ich zuversichtlich, dass eventuelle Leser und Leserinnen sie zu schätzen wissen und mich nicht als Klatschbase abtun, zumal ich auch mich selbst nicht geschont habe. Die meisten Namen habe ich allerdings geändert.
Die Personen, die in meiner Geschichte vorkommen, leben fast alle nicht mehr. Mehrere Namen entdeckte ich auf Grabsteinen, als ich kürzlich über den Friedhof meines Heimatdorfes schlenderte. Doch sicher gibt es noch eine Reihe von Menschen in Göttelborn und Umgebung, die die alten Zeiten vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg miterlebt haben und sich vielleicht freuen, meine Reminiszenzen zu lesen. In erster Linie habe ich beim Schreiben jedoch an die heutige Jugend gedacht. Sie weiß wahrscheinlich nur noch wenig darüber, wie lebenslustig die Bevölkerung von Göttelborn nach dem Zweiten Weltkrieg war. Sie hatte nach sechs Jahren Ausnahmezustand so viel nachzuholen.
1965 verließ ich Göttelborn, um in Luxemburg eine neue Arbeitsstelle anzutreten. Ich war sehr froh, den Absprung geschafft zu haben, weil ich mir nicht vorstellen konnte, lebenslang am Ort meiner Geburt zu verharren. Ich sehnte mich nach neuen Erfahrungen. 50 Jahre später interessieren mich Göttelborn und Umgebung nun wieder, und ich hoffe, dass sie eine positive Zukunft haben – auch ohne Kohlenbergwerk. Das ausgedehnte Grubengelände bietet bestimmt viele Möglichkeiten, um kreativen Aktivitäten Raum zu geben. Ich empfinde eine gewisse Zärtlichkeit für diese Landschaft. Das Kind in mir spürt seine Wurzeln wieder. Es wünscht sich, dass das Kohlekraftwerk ebenfalls in absehbarer Zeit durch ökologisch vernünftige Methoden der Energiegewinnung – wie zum Beispiel Nutzung der Sonnenenergie und dezentrale Kraftwärmekopplung – abgelöst wird, damit sich die Natur erholen und die Menschen wieder gesund umgeben kann.

Den Titel Tanz um den Göttelborn verdanke ich einem Artikel in der Saarbrücker Zeitung über einen irischen Mönch, der in einer Hütte auf der sogenannten Himmelswiese in der Nähe von Merchweiler wohnte und versuchte, die Heiden endgültig zum Christentum zu bekehren.

Es heißt:

„War doch der irische Mönch gerade deshalb in dies Tal gezogen, um die immer wieder vom Christentum zu ihren alten Göttern sich abwendenden Bewohner endgültig zu bekehren. Denn sie liebten es mehr, auf sturmumtosten Höhen an dem unter uralten Eichenbäumen sprudelnden heiligen Born, der Götterborn oder auch Göttelborn genannt wurde, ihr Sonnwendfest nach altem heidnischen Brauch, trotzdem sie dem Namen nach Christen waren.“

Diese Sage gefällt mir. Ich fühle mich ebenfalls zu verschiedenen Göttern hingezogen, obwohl ich als Christin getauft wurde. Als ich jung war, tanzten wir Göttelborner ebenfalls ausgelassen – allerdings im Konzertwald -, um das Sonnenwendfest (wir nannten es Frühlingsball) zu feiern. Vielleicht ahnten wir tief innen, dass Göttelborn ein besonderer Ort war und ist. Mein Vater erwähnte auch manchmal, dass es heilige Quellen in Göttelborn gab, ohne Genaueres darüber zu wissen. Den Zeitungs-Ausschnitt schickte mir ein ehemaliger Schulkamerad (Joachim Grohmann) aus Saarbrücken, obwohl er dabei nicht an einen Titel für mein Buch dachte. Wissend, dass Göttelborn mein Heimatdorf ist, wollte er mir lediglich eine Freude machen, wofür ich ihm nun dankbar bin.



21
DIE FREIWILLIGE EVAKUIERUNG

Im Jahr 1943/44 wurde Vater überraschend vom Kriegsdienst befreit und kam von Russland zurück nachhause. Das war sein Glück. Die Wehrmacht zog ihn wohl nach einigen Monaten erneut ein, doch nicht mehr nach Russland. Er kämpfte jetzt an der Westfront gegen die Franzosen und zum Schluss in Deutschland gegen die Amerikaner.
In Göttelborn hatte sich die Nachhut der deutschen Armee einquartiert. Sie vertrieben sich die Zeit und Angst mit fröhlichen Gelagen. Auch in unserem Wohnzimmer wurde gefeiert. Wir Kinder, zusammen mit Klärchens Sohn Max, lagen nebenan in den Ehebetten und hörten das muntere Treiben. Mutti hatte ein Techtelmechtel mit dem Offizier der Einheit. Er war sehr sympathisch und hilfsbereit. Er kommandierte einen Lastwagen mit Fahrer ab, um Mutti, Werner und mich nach Eckweiler im Hunsrück zu Muttis Onkel Willi, in die vermeintliche Sicherheit, zu bringen. Ihre Mutter stammte von dort. Onkel Willi war unverheiratet und hatte Platz im Elternhaus, um uns aufzunehmen, bis der Krieg vorbei wäre. Andere Leute in Göttelborn waren neidisch, weil sie keinen Lastwagen zur Verfügung hatten. Mutti muss doch recht großen Eindruck auf die Männer gemacht haben, dass sie ihr so hilfreich entgegen kamen. Die Lage in Göttelborn wurde unsicherer, weil die grollenden Geschütze von der Front schon lauter zu hören waren. Angst hatte ich nicht. Irgendwie fand ich das ganze Geschehen eher abenteuerlich interessant mit meinen acht Jahren. Wir packten Wäsche, Kleidung, unsere Betten, Spielzeug und sonstiges abends in den Lastwagen. Auch ein Kaninchen kam mit. Lämmchen Liesel konnten wir leider nicht einpacken. Freundlicherweise nahm es Herr Maselter, dessen Garten von hinten an den unsrigen grenzte, in Aufbewahrung. Er hatte Mutti seine Hilfe angeboten. Die Gitarre von Mutti musste allerdings geopfert werden. Der Fahrer des Wagens wünschte sie sich als Entschädigung für seinen nicht ungefährlichen Einsatz. Das tat mir leid, weil ich Muttis Spiel mit gesenktem Kopf immer so gern zugesehen und gelauscht hatte, obwohl sie nur wenige Griffe beherrschte. Bei Dunkelheit ohne Licht fuhren wir los, damit uns die Tiefflieger nicht ausmachen konnten. Am Abend vorher kochten wir noch alle Eier, die Mutti in großen Gläsern eingelegt hatte, und wir aßen sie, bis uns übel wurde von zu viel Eiweiß. Lange war mir danach die Lust auf Eier vergangen. Die ganze Nacht fuhren wir kriechend ohne Licht über schlechte Landstraßen, bis wir mit den ersten Sonnenstrahlen im winzigen Bauerndorf Eckweiler (10 km von Sobernheim an der Nahe entfernt) bei Onkel Willi eintrafen. Der hatte uns schon irgendwie erwartet, obwohl die Post nicht mehr zugestellt wurde. Er schien sich zu freuen. Als junger Mann hatte er ein Bein in der Dreschmaschine verloren und sich so sehr wegen seiner Körperbehinderung geniert, dass er unverheiratet blieb. Etwas eigenbrötlerisch war er ja geworden, konnte jedoch sehr kinderlieb und herzlich sein. Er war die erste intellektuelle Instanz im Dorf und fungierte neben einer kleinen Landwirtschaft als Barbier und Friseur. Samstags stellte er einen Stuhl in die Mitte der Stube, und die Bauern kamen zum Rasieren und Haare-Schneiden. Nebenbei wurde politisiert. Manchmal verlor Onkel Willi die Geduld und warf alle aus dem Haus. Doch man kannte ihn und verzieh ihm. Er hatte sein Bett in einer Ecke des Wohnraumes aufgestellt. Mutti und wir Kinder schliefen nebenan in der Kammer. Werner und ich teilten uns ein Bett mit Strohsack. Der hatte eine Kuhle in der Mitte, so dass wir immer zusammen rutschten. Das machte uns aber nichts aus. Wenn die Bomber übers Dorf nach Kreuznach flogen, legten wir uns zusammen in Muttis Bett. Sie sagte: „Wenn uns eine Bombe trifft, sind wir alle gleichzeitig weg.“ Das tröstete uns. Das Klo war neben der Scheune auf der anderen Straßenseite. Nachts gingen wir aufs Töpfchen, das Mutti kurzerhand aus dem Fenster in einen abgeschlossenen Hinterhof kippte. Dort stand ein großer Baum, der auf diese Weise gut gedüngt wurde. Obwohl es ein Kastanienbaum war, fanden wir manchmal Walnüsse unter ihm auf dem Boden liegen. Was ich mir nie erklären konnte. Vielleicht kann man ja auf einen Kastanienbaum Triebe eines Nussbaumes aufpfropfen. Es würde mich interessieren, was ein Botaniker dazu sagen könnte. Wenn ich auf dem Klo mit Herz in der Tür saß, strich manchmal Onkel Willi daran entlang und sagte: „Scheiß ein bisschen, scheiß ein bisschen!“ Das störte mich nicht weiter. In Eckweiler ging es uns gut. Onkel Willi hatte eine Kuh, die Milch gab. Er melkte sie zärtlich und sagte dabei immer wieder: „Mein Elschen, mein Elschen.“ Als irgendwann keine Milch mehr aus ihrem Euter kam, brachte sie Onkel Willi zusammen mit mir schweren Herzens zu Fuß irgendwohin. Danach kaufte er eine neue Kuh mit funktionierendem Euter. Ich sehe ihn noch heute vor mir, wie er sich schwerfällig mit seinem Holzbein fortbewegte. Doch für uns gehörte das irgendwie zu ihm. Nachdem Mutti alle Milchgefäße gründlich gespült hatte, wurde Dickmilch und Quark darin angesetzt. Als Onkel Willi allein war, hatte er alles verdrecken lassen. Ein Schwein wurde geschlachtet, und in der Stube kochten wir Wellfleisch, das anschließend zu Blut- und Leberwürsten verarbeitet wurde. In der Räucherkammer eines anderen Bauern wurden sie zusammen mt den Schinken haltbar gemacht. Die Wohnstube war gleichzeitig auch unsere Küche. Kartoffeln, Rüben und Eier waren ebenfalls reichlich vorhanden. So litten wir keinen Hunger. Mutti bekam rote Wangen, und ihr Körper rundete sich. Es wurde Winter. Als Schnee fiel, verwandelte sich die abschüssige Straße in eine lange Schlittenbahn. Ich hatte wieder einen Verehrer. Wenn ich mit dem Bauch auf dem Schlitten lag, sprang er von hinten auf mich und flüsterte mir ins Ohr: „Ich liebe dich.“ Das gefiel mir. Ein anderer Junge im Dorf war allerdings gar nicht nett zu mir. Er war fremdenfeindlich und drohte sogar, mich zu verhauen. Als ich einmal bei meiner Freundin in der Scheune zu Besuch war, stand er vor dem Tor und wollte mich nicht raus lassen. Stundenlang wartete ich voller Angst, bis es ihm irgendwann wahrscheinlich zu langweilig wurde, und er verschwand. Später, als wir schon wieder in Göttelborn waren, kam mir zu Ohren, dass dieser böse Junge in der abgebrannten Kirche von Eckweiler durch ein Trümmerteil erschlagen wurde. Das fand ich sehr schlimm. Gleichzeitig dachte ich: Hat der liebe Gott ihn am Ende bestraft?
Werner half Onkel Willi im Stall beim Ausmisten und Verladen des Mistes auf einen Wagen. Er war ein mutiger vierjähriger Knirps. Einmal stand er an der Viehtränke an der Straße, wo ein Pferd scheute und mit den Vorderbeinen in die Höhe ging. Werner blieb seelenruhig direkt davor stehen und betrachtete sich das Schauspiel wie ein Dompteur. Wir sahen es aus einigen Metern Entfernung und hielten die Luft vor Schreck an. Wernerchen hatte jedoch keine Angst. An Weglaufen dachte er nicht.
Ich musste morgens in die Schule gehen. Der Lehrer war sehr lieb zu mir, dem Flüchtlingskind, und nahm mich sogar auf den Schoß, während die Bauernkinder seltsame Strafsanktionen über sich ergehen lassen mussten, nämlich stehend die Arme waagerecht in die Höhe halten, und das ziemlich lang. Ich fand das entwürdigend. Irgendwann traf es mich dann auch. Die Arme fühlten sich bald schwer und lahm an. Wahrscheinlich wollte der Schulmeister nicht den Eindruck erwecken, ein Flüchtlingskind zu bevorzugen.
Wenn Onkel Willi gut gelaunt war, öffnete er seinen großen Schrank und zeigte uns seine Schätze, vor allem Geldscheine aus der Inflation (Billionen Reichsmark). Die waren natürlich wertlos jetzt. „Davon hätte ich mir ein Schloss mit sieben Türmchen bauen können,“ sagte er. Stattdessen wohnte er im alten, etwas heruntergekommenen Häuschen seiner Eltern. Der Vater war neben der kleinen Landwirtschaft Posthalter und Briefträger gewesen. Die Söhne und Töchter, ich glaube, es waren fünf, waren alle klug und gut aussehend. Außer Onkel Willi verließen sie das arme Dorf, um in Städten im Ruhrgebiet ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Meine Großmutter Wilhelmine war eine Schönheit, stolz und mutig. Mein Opa sagte später von ihr, als sie schon lange nicht mehr lebte, zu seinem zukünftigen Schwiegersohn Artur: „Sie wäre dem Teufel vor die Küchentür gegangen.“ Er selbst war scheinbar weniger mutig. Als ihn eines seiner fünf Kinder später einmal neckte, dass die älteste Tochter schon vor Ablauf von neun Monaten nach der Hochzeit auf die Welt gekommen war, antwortete er: „Daran war eure Mutter schuld.“ So ein scheinheiliger Feigling, dachte ich. Er war nämlich fanatisch fromm evangelisch und las vor dem Essen seiner Familie täglich lange Epistel aus der Bibel vor und hätte es begrüßt, wenn Mutti Diakonisse (evangelische Nonne) geworden wäre. Seinen Kindern hat er auf diese Weise die Lust an der Religion ausgetrieben. Trotzdem ging Mutti mit uns auch in Göttelborn zur improvisierten evangelischen Kirche in einem Schulsaal. Doch das war keine reine Freude, weil der Pfarrer Gebhard aus Wahlschied beim Predigen spuckte, und die in der ersten Reihe bekamen es ab. Außerdem schimpfte er wie ein Rohrspatz über die nicht erschienenen Schäfchen, wofür wir Anwesenden doch nichts konnten. Einmal besuchte Mutti zusammen mit andern Frauen der evangelischen Frauenhilfe und mit Pfarrer Gebhard nebst Gattin ein Heim für geistig und körperlich behinderte Menschen. Im Heim hatte man extra ein Essen vorbereitet, und die Bewohner standen freudig wartend am Tor. Als die Frau des Pfarrers die armen behinderten Menschen sah, rief sie: „Das ist ja eine Zumutung. Hier kann ich keine Minute bleiben!“ Der trottelige, feige Pfarrer folgte seiner Frau und forderte die anderen auf, wieder in den Bus zu steigen, um weiterzufahren. Auch Mutti gehorchte, weil sie sich irgendwie überrumpelt fühlte. Später zu Hause bereute sie es jedoch. Überhaupt habe ich an Kirchenmänner keine guten Erinnerungen und halte mich seit über 50 Jahren von ihnen fern. Das einzige, was mir im Gottesdienst gefiel, war das unperfekte Harmoniumspiel unseres Mitschülers Friedel Schmeer. Meine Liebe zu Jesus beeinträchtigte die Abkehr von der Kirche jedoch nicht. Obwohl Muttis und meine Erfahrungen mit Pfarrern schlecht waren, schienen sie in unserer allgemeinen Wertschätzung doch noch ziemlich hoch zu stehen. Als nämlich Tante Friedel, die Frau unseres Familien-Genies, Dr. h. c. Paul Guthörl, von dem Pfarrer-Sohn ihrer Freunde erzählte und meinte, das könnte doch ein Mann für Ursel sein, horchten wir auf. Sie versprach, uns zusammen mit der befreundeten Familie einzuladen, was aber nie geschah. Mutti schien zu denken: Dafür brauch ich Friedel nicht und schrieb selbst ein Angebot an den Herrn Pfarrer Osenberg. Am Sonntag darauf besuchten wir seinen Gottesdienst in Saarbrücken, um ihn in Augenschein zu nehmen. Viele Protestanten schwärmten von seinen intelligenten Predigten. Ich dachte, na ja, er redet ganz gut, aber als Mann gefällt er mir überhaupt nicht. Er kam mir etwas dicklich-schwammig vor. Besonders mutig und höflich schien er auch nicht gewesen zu sein, denn sonst hätte er Muttis Brief wenigstens – wenn auch abschlägig – höflich beantwortet. Später hörte ich ihn manchmal am Radio predigen und fand ihn ziemlich penetrant von sich selbst überzeugt.
Die Tochter von Paul und Friedel war meine Patentante, obwohl sie eigentlich meine Kusine war. Wie hieß sie denn noch? Ach ja, Gretel. Im Rückblick kann ich mich jedoch nicht erinnern, sie nach der Taufe mehr als ein oder zwei Mal wieder gesehen zu haben. Zum ersten Geburtstag schenkte sie mir ein geblümtes Mini-Sammeltässchen mit ein paar Pralinen drin. Bescheiden, wie ich war, freute ich mich und hütete es wie meinen Augapfel bis zum heutigen Tag. Nun hat es zweiundsiebzig Jahre auf dem Buckel und noch immer keinen Sprung.



33
TRENNUNG DER KONFESSIONEN

Kurze Zeit nach dem Krieg wurden die katholischen und evangelischen Kinder in der Schule getrennt. Wahrscheinlich wollte das die katholische Kirche so, nachdem die Nazis abgeschafft waren. Am ersten Tag der Separierung kam unsere neue evangelische Lehrerin, Fräulein Wagner, zu spät. Die katholische Direktorin, Fräulein Hoffmann, sperrte uns Evangelen kurzerhand alle zusammen in ein winziges Zimmerchen. Die großen, frechen Jungen stiegen über die Möbel, tobten und machten einen Riesenradau. Ich saß still da und fürchtete mich ein bisschen. Da riss Fräulein Hoffmann die Tür auf, griff sich das erstbeste Kind, das leider ich war, und ohrfeigte es. Ich war wegen dieser Ungerechtigkeit empört und lief nachhause, um es meiner Mutter weinend zu berichten. Sie ging umgehend mit mir zur Schule zurück, öffnete das Klassenzimmer der Direktorin und brüllte sie an: „Lassen Sie sich pensionieren, wenn Sie nicht mit Kindern umgehen können!“ Alle andern Lehrer lauschten und feixten vor Vergnügen. Fräulein Hoffmann war nämlich nur Direktorin geworden, weil sie nicht in der Partei gewesen war und nicht, weil sie so tüchtig war. Auch ich hatte ihre Unfähigkeit als Lehrerin im Unterricht mitbekommen. Man lernte buchstäblich nichts, stattdessen mussten die Mädchen die Löcher in den Strümpfen von Fräulein Hoffmann stopfen. Deshalb war ich fest entschlossen, die Aufnahmeprüfung zur Mittelschule zu bestehen.

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