Sonderfahrt für die Bürgermeister

Sonderfahrt für die Bürgermeister

Margit Schneemann


EUR 17,90
EUR 10,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 172
ISBN: 978-3-95840-967-5
Erscheinungsdatum: 04.03.2020

Leseprobe:

Vorwort
„Nächster Halt: Hauptbahnhof Süd! Übergang zur U1, U2, U4 – zu allen S-Bahn-Linien sowie zum Regional- und Fernverkehr! Next Stop: Hauptbahnhof Süd! Please change here for Central Station! – Ausstieg: links!“


Vom ersten Spatenstich bis zu dieser elektronischen Ansage – die sprachlich gemischt erstmals 2006 zu hören war und von NDR 90,3 Moderatorin Anke Harnack gesprochen wird – gingen genau hundert Jahre ins Land. Die Geschichte „Sonderfahrt für die Bürgermeister“ mischt historisch belegbare Ereignisse und Fakten mit einer fiktiven Personengruppe.

Gehen Sie mit Margit Schneemann auf eine Zeitreise an einen Meilenstein der Hamburger Stadtgeschichte. Mit dabei sind auch Figuren aus „Tränen auf Brokat“!


Die eingefügten Fotos sind sowohl
selbst aufgenommen als auch
von der HOCHBAHN zur Verfügung gestellt.






Personen

Bauherren
Arnold von Siemens und Anton Halske
(Konsortium Siemens & Halske und AEG)

Architekten
Ludwig Raabe & Otto Wöhlecke
Emil Schaudt
Joh. Gottlieb Rambatz & Wilhelm Jollasse
div. Arbeiter

Bürgermeister
Joh. Heinrich Burchard
Joh. Otto Stammann
Joh. Georg Mönckeberg

Senatoren
Balthasar Hopfe (Hanse)
Bruno L. Schäfer (Justiz)
Robert W. Heidmann (Verkehr)
Gottfried Holthusen (Finanzen)

Zu dieser Zeit ist Wilhelm II. Deutscher Kaiser und
König von Preußen, Reichskanzler sind
Fürst Bernhard von Bülow (1900–1909) und
Theobald v. Bethmann-Hollmang (1909–1917)

Stationen früher und heute
Wagnerstraße = Hamburger Straße
Lübecker Tor = Lübecker Straße
Barkhof = Mönckebergstraße
Rathausmarkt = Rathaus
Hafentor = Landungsbrücken
Millerntor = St. Pauli
Flurstraße = Saarlandstraße



26. Juli 1906,
ein Donnerstag in der Innenstadt

Plötzlich, ganz plötzlich und ohne im Moment an sein Problem gedacht zu haben, kam ihm die zündende Idee: ein simples Preisschild in einem Modesalon am Großen Burstah brachte ihn darauf …

Als ihm die Papiere auf dem Schreibtisch über den Kopf zu wachsen drohten, verließ Marius Bostelkamp fast fluchtartig seine kleine Wohnung in der Fuhlentwiete, damit der Sommerwind seine Gedanken ordnen, oder besser für eine Weile vertreiben sollte. Er musste die Vorlagen bis zum Montag bei seinem Auftraggeber abgeben, das waren nur noch vier Tage.
Sein Auftraggeber war das Konsortium der Bauverwaltung für die elektrischen Stadt- und Vorortsbahnen zu Hamburg, Siemens & Halske AG und Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft und Marius war ein wichtiges Rädchen in dem größten Projekt Hamburgs seit dem Neuaufbau der Stadt nach dem Großen Brand von 1842: es sollte die erste Ringbahn entstehen.
Züge sollten teilweise oberirdisch, teils durch Tunnel die Stadt durchqueren und den Menschen die Möglichkeit geben, überfüllten Omnibussen, Pferdebahnen und Staus zu entfliehen. Ungeachtet verstopfter Kreuzungen würde man von Barmbeck einmal im Kreis wieder nach Barmbeck fahren, die Hafenarbeiter ebenso wie Familien mit ihren Kindern.

Die Verkäuferin schob das Schild eben in einen dünnen Blechrahmen, der vor dem Kleidungsstück am Boden befestigt war. Fasziniert trat er näher und fixierte die schlanken Finger, die noch zwei weitere Preisschildchen an den vorgesehenen Platz beförderten. Im selben Augenblick hob die junge Frau den Kopf und lächelte den Passanten vor der großen Scheibe freundlich an. Dabei neigte sie den Kopf leicht zur Seite, als wollte sie fragen: ‚Nun … kann ich Ihnen weiterhelfen, Herr Bostelkamp?’
Marius Bostelkamp machte einen halben Schritt rückwärts, grinste dabei wie ertappt und lüftete kurz seinen Hut. Er wollte seinen Weg fortsetzen, änderte dann aber den Plan und betrat das Geschäft, aus dem ihm so liebreizend zugelächelt worden war.
Der Modesalon Viola Christiansen am Großen Burstah bot vorrangig Kleidung für die jüngere Generation zum Kauf an, zur Eröffnung im Jahr 1900 zunächst für die Damen, später auch für Herren. Das Haupthaus am Rödingsmarkt von 1846 war nach wie vor den gesetzteren Herrschaften vorbehalten.
„Guten Morgen, Fräulein Hegemann“, begrüßte Marius die Verkäuferin, die eben der Auslage entstieg, galant reichte er ihr die Hand zur Stütze, „wie geht es Ihnen heute?“
„Gut, vielen Dank, Herr Bostelkamp …“
„Ich darf Ihnen ein Kompliment zu Ihrem Kostüm machen, Fräulein Hegemann? Das stammt doch sicher wieder aus der Kollektion der charmanten Frau Fawler!?“, fragte Marius und war sich sicher, die Antwort zu kennen.
Viola Fawler, geborene Christiansen, war nicht nur die zweite Vorsitzende des Vereins zur Verbesserung der Frauenkleider in Hamburg, der 1897 gegründet worden war, sondern auch eine Künstlerin in der Welt der Stoffe. Alles, was in Hamburg Rang und Namen hatte, trug Christiansen-Modelle.
Eben kam Viola Fawler, die den Generalvertreter eines englischen Geschäftspartners ihres Vaters geheiratet hatte und mit diesem die beiden Häuser führte, aus dem Lager im Keller. Vor sich her trug sie ein Holzgestell, das ein wenig an eine Rankhilfe für Rosen erinnerte, nur kleiner. Darauf hingen, fein säuberlich nach Farben sortiert, Herrenkrawatten.
„Herr Ingenieur – was können wir für Sie tun?“
Violas Stimme klang etwas kurzatmig und bevor Marius antworten konnte, hörte er neben sich ein dumpfes Geräusch: Stefanie Hegemann hatte mit dem Fuß aufgestampft.
„Viola! Du bist schon wieder alleine in den Keller gegangen!“
Die Ertappte legte noch den Finger auf die Lippen, doch für Diskretion war es zu spät – Stefanie schimpfte weiter: „Wenn William erfährt, dass du dich nicht an Absprachen hältst, dann wird er dich nach Hause schicken und da kannst du dann die übrigen Monate Däumchen drehen!“
Marius versuchte, nicht allzu neugierig zu wirken, doch hatte er den Grund für Stefanies Ausbruch bereits entdeckt: Viola trug ihr drittes Kind unter dem Herzen, das altrosa Seidenkleid zeigte in der Taille eine deutliche Rundung.
Doch als Kavalier, der er war, stimmte er natürlich nicht in die Vorhaltungen der Verkäuferin ein, sondern machte einen großen Schritt und nahm der Dame des Hauses das Krawatten-gestell ab.
„Wo darf ich es hinstellen?“
Ein wenig hilflos stand Marius nun doch da und entlockte sowohl Stefanie als auch Viola wieder ein fröhliches Lachen. Stefanie streckte die Hände aus und meinte:
„Geben Sie es mir!“ Mit geübten Griffen befestigte sie die Krawatten an ihrem vorgesehenen Platz.
Möglichst unauffällig stütze Viola sich am Verkaufstresen ab.
Marius besann sich darauf, dass er bereits zweimal nach seinen Wünschen gefragt worden war. Das Gestell mit den Krawatten kam ihm nun gerade recht; denn mit dem eigentlichen Gedankengang würde er die Damen sofort wieder in Verwirrung
stürzen.
Er trat an die Accessoires heran, zog irgendeines hervor und hielt sie sich probeweise an seinen Hemdkragen. Da es bereits recht warm draußen war, brauchte man keine hoch abschließende Jacke mehr, das machte es ihm leicht.
Doch die gewählte Farbe rief sogleich Protest hervor:
„Aber, Herr Bostelkamp!“, rief Stefanie, „Sie sind doch kein alter Mann! Dieses dunkle Braun sollen sich unsere Bürgermeister um den Hals binden … nein …“, kurzerhand nahm sie die Krawatte an sich „… diese Farbe hier steht Ihnen auf jeden Fall besser!“, und reichte ihm ein reinseidenes Stück in frischem lindgrün, feine silbrige Fäden waren eingewebt worden.
Marius betrachtete sich einen Augenblick im Spiegel, das Tageslicht brachte den Silberschimmer perfekt zur Geltung. Dennoch zog er die Stirn in Falten.
„Wie – gefällt sie Ihnen nicht?“, fragte Viola erstaunt.
„Doch, doch“, beeilte Marius sich, die Geschäftsfrau vom Gegenteil zu überzeugen, „leider ist mein Hauptproblem ein anderes … ich muss zugeben, dass ich eigentlich nicht wirklich vorhatte, hier hereinzukommen … jedenfalls nicht, als ich das Haus verließ … Fräulein Hegemann erschien im richtigen Moment im Schaufenster!“
Jetzt kehrte das lustige Blitzen in seine Augen zurück, während Viola recht verwirrt war und Stefanie verlegen zu Boden blickte. Und nun konnte Marius sein Vorhaben anbringen:
„Lassen Sie es mich erklären, meine Damen – sicher haben Sie schon von dem großen Ringbahn-Projekt gehört, das Hamburg zu neuem Leben erwecken soll … auch ich bin an diesem Projekt beteiligt“, fuhr er fort, nicht ohne Stolz und er genoss die staunende Bewunderung der Damen, „Nun kann alles noch so wunderbar geplant sein, alle Berechnungen und Vermessungen wurden angestellt, Zeichnungen gefertigt, Grund und Boden erworben, doch manchmal steckt der Teufel im Detail…
Seit einigen Tagen arbeite ich an der Gestaltung der Ringbahn-Wagen. Diese sollen zum einen farblich unterschiedlich gehalten sein, zum anderen genügend Platz bieten. Es soll die Möglichkeit gegeben sein, auch mal Gepäck oder Kinderwagen“, er verbeugte sich knapp vor Viola, „mitzunehmen. Vor allem aber sollen die Fahrgäste wissen, in welche Richtung der Zug gerade fährt. Diese Anzeige muss schnell gewechselt werden – und nun weiß ich auch, wie: nämlich so, wie Sie, Fräulein Hegemann die Preisschildchen im Schaufenster einstecken. Nur dass unsere Rahmen und Schilder selbstverständlich wesentlich größer sein werden!“
Marius lachte und die Damen lachten mit.
Und Stefanie fühlte sich sehr geehrt, einem bekannten Mann wie Marius Bostelkamp durch einen einfachen Handgriff weitergeholfen zu haben. Mit aufgewühlter Stimme fragte sie: „Kann ich Ihnen die Krawatte einpacken?“
„Oh, ich bitte darum!“, antwortete Marius und zwinkerte ihr spitzbübisch zu.
In diesem Augenblick erscholl ein dumpfes Grollen und die Erde schien ein wenig zu beben. Mit panisch aufgerissenen Augen griff Viola an die Kante des Verkaufstresens, während Stefanie – wenn auch unbewusst – nach Marius’ Arm tastete und sich festhielt.
„Keine Angst, meine Damen, es geschieht nichts Böses: das sind die Arbeiter von Brunnenbau Ensing, am Adolphsplatz werden die ersten Erdproben genommen. Bitte, beruhigen Sie sich.“
Zur Linken reichte Marius seine Hand Viola entgegen, die mit weichen Knien auf ihn zu kam, zur Rechten hauchte er einen Kuss auf Stefanies zitternde Finger.
Als es in dem Moment erneut grummelte und bebte, war die Aufregung schon nicht mehr ganz so groß. Und Viola meinte:
„Ja, ich erinnere mich, mein Mann hat mir in den letzten Tagen davon erzählt, als es im Hamburger Echo stand. Entschuldigen Sie bitte, Herr Bostelkamp, Sie müssen uns ja für völlig hysterisch halten … aber seit vor drei Wochen die Michaelis-Kirche abgebrannt ist …“
„Ich bitte Sie, Frau Fawler … was bin ich Ihnen für die Krawatte schuldig?“
„Oh, einen Moment … 11 Mark, Herr Bostelkamp!“
Marius entrichtete den Betrag und nahm das kleine Papiertütchen mit der Krawatte entgegen. Einen Moment lang ging ihm dabei durch den Kopf, dass ein einfacher Arbeiter für dieses Geld seine Familie einen ganzen Monat mit Kleidung versorgen musste. Doch er war nicht derjenige, der diese Situation ändern konnte und beschloss, die Stimmung nicht wieder kippen zu lassen.
Mit gelüftetem Zylinder verabschiedete er sich von Viola Fawler und Stefanie Hegemann. Beim Hinausgehen allerdings stoppte er noch einmal, als sein Blick auf ein Plakat neben der Ladentür fiel:

„Am 01. September 1906 feiern wir unser
60-jähriges Firmenjubiläum!
Wir laden Sie herzlich ein, ab 10 Uhr
zu einem kleinen Imbiss herein zu schauen!
Es freuen sich William und Viola Fawler sowie
Richard Christiansen mit Frau!“

Marius dreht sich um und versprach: „Dieser Termin ist notiert, meine Damen! Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag!“



05. Oktober 1906,
an einem Freitag

Wo noch kein Bahnhof existierte, musste auch kein Großer Bahnhof arrangiert werden. Voll wurde es trotzdem an diesem Freitagmorgen am Kuhmühlenteich.
Hier sollte die Ringbahn später über eine Stahlbrücke mit 65 Metern Spannweite fahren. Der Streckenabschnitt begann mit der geplanten Haltestelle Uhlandstraße und sollte etwa in Höhe der St. Gertrud-Kirche in das nächste Viadukt münden.
Diese Viadukte hatten bereits vor dem ersten Spatenstich für große Aufregung gesorgt.
Als die ersten Zeichnungen im Hamburgischen Correspondenten erschienen, waren die imposanten Stahlkonstruktionen Stadtgespräch sowohl in den Hafenkneipen als auch in den Kontoren der Kaufleute oder den Kaffeekränzchen der feinen Gesellschaft.
Auf der einen Seite waren die modernen, aufgeschlossenen Menschen, die sich besonders auf die schnelleren Verbindungen freuten.
Dagegen wetterten diejenigen, die beispielsweise die sonntägliche Ruhe durch ratternde Züge gefährdet sahen. Außerdem führte man die Zerstörung der Natur ins Feld.
Noch vor dem offiziellen Baubeginn am 07. Oktober 1906 waren die entsprechenden Petitionen abgewiesen worden.
Es war also sieben Uhr in der Früh, als eine Feuerspritze, ein Trupp Holzfäller sowie ein Sprengmeister am Kuhmühlenteich eintrafen. Die mit Äxten ausgerüsteten Männer, hinter denen sich jeder Jahrmarktringer verstecken konnte, und der schwer beladene Karren, dessen Abdeckung mit dem Schriftzug „Kalle Krumm macht Bumm“ versehen war, erregten in den Straßen rund um die markierte Baustelle großes Interesse.
Besonders die Jungs schlichen hinter dem Wagen her und versuchten unter die Abdeckung zu schauen. Doch dies wusste Kalle, der eigentlich Karl-Johann Krumm hieß, zu verhindern: mit einer schnellen Armbewegung ließ er die Peitsche knallen! Fast glaubte man, die Klatsche berührte die Nasenspitze des neugierigen Jungvolkes.

Vorwort
„Nächster Halt: Hauptbahnhof Süd! Übergang zur U1, U2, U4 – zu allen S-Bahn-Linien sowie zum Regional- und Fernverkehr! Next Stop: Hauptbahnhof Süd! Please change here for Central Station! – Ausstieg: links!“


Vom ersten Spatenstich bis zu dieser elektronischen Ansage – die sprachlich gemischt erstmals 2006 zu hören war und von NDR 90,3 Moderatorin Anke Harnack gesprochen wird – gingen genau hundert Jahre ins Land. Die Geschichte „Sonderfahrt für die Bürgermeister“ mischt historisch belegbare Ereignisse und Fakten mit einer fiktiven Personengruppe.

Gehen Sie mit Margit Schneemann auf eine Zeitreise an einen Meilenstein der Hamburger Stadtgeschichte. Mit dabei sind auch Figuren aus „Tränen auf Brokat“!


Die eingefügten Fotos sind sowohl
selbst aufgenommen als auch
von der HOCHBAHN zur Verfügung gestellt.






Personen

Bauherren
Arnold von Siemens und Anton Halske
(Konsortium Siemens & Halske und AEG)

Architekten
Ludwig Raabe & Otto Wöhlecke
Emil Schaudt
Joh. Gottlieb Rambatz & Wilhelm Jollasse
div. Arbeiter

Bürgermeister
Joh. Heinrich Burchard
Joh. Otto Stammann
Joh. Georg Mönckeberg

Senatoren
Balthasar Hopfe (Hanse)
Bruno L. Schäfer (Justiz)
Robert W. Heidmann (Verkehr)
Gottfried Holthusen (Finanzen)

Zu dieser Zeit ist Wilhelm II. Deutscher Kaiser und
König von Preußen, Reichskanzler sind
Fürst Bernhard von Bülow (1900–1909) und
Theobald v. Bethmann-Hollmang (1909–1917)

Stationen früher und heute
Wagnerstraße = Hamburger Straße
Lübecker Tor = Lübecker Straße
Barkhof = Mönckebergstraße
Rathausmarkt = Rathaus
Hafentor = Landungsbrücken
Millerntor = St. Pauli
Flurstraße = Saarlandstraße



26. Juli 1906,
ein Donnerstag in der Innenstadt

Plötzlich, ganz plötzlich und ohne im Moment an sein Problem gedacht zu haben, kam ihm die zündende Idee: ein simples Preisschild in einem Modesalon am Großen Burstah brachte ihn darauf …

Als ihm die Papiere auf dem Schreibtisch über den Kopf zu wachsen drohten, verließ Marius Bostelkamp fast fluchtartig seine kleine Wohnung in der Fuhlentwiete, damit der Sommerwind seine Gedanken ordnen, oder besser für eine Weile vertreiben sollte. Er musste die Vorlagen bis zum Montag bei seinem Auftraggeber abgeben, das waren nur noch vier Tage.
Sein Auftraggeber war das Konsortium der Bauverwaltung für die elektrischen Stadt- und Vorortsbahnen zu Hamburg, Siemens & Halske AG und Allgemeine Elektrizitäts-Gesellschaft und Marius war ein wichtiges Rädchen in dem größten Projekt Hamburgs seit dem Neuaufbau der Stadt nach dem Großen Brand von 1842: es sollte die erste Ringbahn entstehen.
Züge sollten teilweise oberirdisch, teils durch Tunnel die Stadt durchqueren und den Menschen die Möglichkeit geben, überfüllten Omnibussen, Pferdebahnen und Staus zu entfliehen. Ungeachtet verstopfter Kreuzungen würde man von Barmbeck einmal im Kreis wieder nach Barmbeck fahren, die Hafenarbeiter ebenso wie Familien mit ihren Kindern.

Die Verkäuferin schob das Schild eben in einen dünnen Blechrahmen, der vor dem Kleidungsstück am Boden befestigt war. Fasziniert trat er näher und fixierte die schlanken Finger, die noch zwei weitere Preisschildchen an den vorgesehenen Platz beförderten. Im selben Augenblick hob die junge Frau den Kopf und lächelte den Passanten vor der großen Scheibe freundlich an. Dabei neigte sie den Kopf leicht zur Seite, als wollte sie fragen: ‚Nun … kann ich Ihnen weiterhelfen, Herr Bostelkamp?’
Marius Bostelkamp machte einen halben Schritt rückwärts, grinste dabei wie ertappt und lüftete kurz seinen Hut. Er wollte seinen Weg fortsetzen, änderte dann aber den Plan und betrat das Geschäft, aus dem ihm so liebreizend zugelächelt worden war.
Der Modesalon Viola Christiansen am Großen Burstah bot vorrangig Kleidung für die jüngere Generation zum Kauf an, zur Eröffnung im Jahr 1900 zunächst für die Damen, später auch für Herren. Das Haupthaus am Rödingsmarkt von 1846 war nach wie vor den gesetzteren Herrschaften vorbehalten.
„Guten Morgen, Fräulein Hegemann“, begrüßte Marius die Verkäuferin, die eben der Auslage entstieg, galant reichte er ihr die Hand zur Stütze, „wie geht es Ihnen heute?“
„Gut, vielen Dank, Herr Bostelkamp …“
„Ich darf Ihnen ein Kompliment zu Ihrem Kostüm machen, Fräulein Hegemann? Das stammt doch sicher wieder aus der Kollektion der charmanten Frau Fawler!?“, fragte Marius und war sich sicher, die Antwort zu kennen.
Viola Fawler, geborene Christiansen, war nicht nur die zweite Vorsitzende des Vereins zur Verbesserung der Frauenkleider in Hamburg, der 1897 gegründet worden war, sondern auch eine Künstlerin in der Welt der Stoffe. Alles, was in Hamburg Rang und Namen hatte, trug Christiansen-Modelle.
Eben kam Viola Fawler, die den Generalvertreter eines englischen Geschäftspartners ihres Vaters geheiratet hatte und mit diesem die beiden Häuser führte, aus dem Lager im Keller. Vor sich her trug sie ein Holzgestell, das ein wenig an eine Rankhilfe für Rosen erinnerte, nur kleiner. Darauf hingen, fein säuberlich nach Farben sortiert, Herrenkrawatten.
„Herr Ingenieur – was können wir für Sie tun?“
Violas Stimme klang etwas kurzatmig und bevor Marius antworten konnte, hörte er neben sich ein dumpfes Geräusch: Stefanie Hegemann hatte mit dem Fuß aufgestampft.
„Viola! Du bist schon wieder alleine in den Keller gegangen!“
Die Ertappte legte noch den Finger auf die Lippen, doch für Diskretion war es zu spät – Stefanie schimpfte weiter: „Wenn William erfährt, dass du dich nicht an Absprachen hältst, dann wird er dich nach Hause schicken und da kannst du dann die übrigen Monate Däumchen drehen!“
Marius versuchte, nicht allzu neugierig zu wirken, doch hatte er den Grund für Stefanies Ausbruch bereits entdeckt: Viola trug ihr drittes Kind unter dem Herzen, das altrosa Seidenkleid zeigte in der Taille eine deutliche Rundung.
Doch als Kavalier, der er war, stimmte er natürlich nicht in die Vorhaltungen der Verkäuferin ein, sondern machte einen großen Schritt und nahm der Dame des Hauses das Krawatten-gestell ab.
„Wo darf ich es hinstellen?“
Ein wenig hilflos stand Marius nun doch da und entlockte sowohl Stefanie als auch Viola wieder ein fröhliches Lachen. Stefanie streckte die Hände aus und meinte:
„Geben Sie es mir!“ Mit geübten Griffen befestigte sie die Krawatten an ihrem vorgesehenen Platz.
Möglichst unauffällig stütze Viola sich am Verkaufstresen ab.
Marius besann sich darauf, dass er bereits zweimal nach seinen Wünschen gefragt worden war. Das Gestell mit den Krawatten kam ihm nun gerade recht; denn mit dem eigentlichen Gedankengang würde er die Damen sofort wieder in Verwirrung
stürzen.
Er trat an die Accessoires heran, zog irgendeines hervor und hielt sie sich probeweise an seinen Hemdkragen. Da es bereits recht warm draußen war, brauchte man keine hoch abschließende Jacke mehr, das machte es ihm leicht.
Doch die gewählte Farbe rief sogleich Protest hervor:
„Aber, Herr Bostelkamp!“, rief Stefanie, „Sie sind doch kein alter Mann! Dieses dunkle Braun sollen sich unsere Bürgermeister um den Hals binden … nein …“, kurzerhand nahm sie die Krawatte an sich „… diese Farbe hier steht Ihnen auf jeden Fall besser!“, und reichte ihm ein reinseidenes Stück in frischem lindgrün, feine silbrige Fäden waren eingewebt worden.
Marius betrachtete sich einen Augenblick im Spiegel, das Tageslicht brachte den Silberschimmer perfekt zur Geltung. Dennoch zog er die Stirn in Falten.
„Wie – gefällt sie Ihnen nicht?“, fragte Viola erstaunt.
„Doch, doch“, beeilte Marius sich, die Geschäftsfrau vom Gegenteil zu überzeugen, „leider ist mein Hauptproblem ein anderes … ich muss zugeben, dass ich eigentlich nicht wirklich vorhatte, hier hereinzukommen … jedenfalls nicht, als ich das Haus verließ … Fräulein Hegemann erschien im richtigen Moment im Schaufenster!“
Jetzt kehrte das lustige Blitzen in seine Augen zurück, während Viola recht verwirrt war und Stefanie verlegen zu Boden blickte. Und nun konnte Marius sein Vorhaben anbringen:
„Lassen Sie es mich erklären, meine Damen – sicher haben Sie schon von dem großen Ringbahn-Projekt gehört, das Hamburg zu neuem Leben erwecken soll … auch ich bin an diesem Projekt beteiligt“, fuhr er fort, nicht ohne Stolz und er genoss die staunende Bewunderung der Damen, „Nun kann alles noch so wunderbar geplant sein, alle Berechnungen und Vermessungen wurden angestellt, Zeichnungen gefertigt, Grund und Boden erworben, doch manchmal steckt der Teufel im Detail…
Seit einigen Tagen arbeite ich an der Gestaltung der Ringbahn-Wagen. Diese sollen zum einen farblich unterschiedlich gehalten sein, zum anderen genügend Platz bieten. Es soll die Möglichkeit gegeben sein, auch mal Gepäck oder Kinderwagen“, er verbeugte sich knapp vor Viola, „mitzunehmen. Vor allem aber sollen die Fahrgäste wissen, in welche Richtung der Zug gerade fährt. Diese Anzeige muss schnell gewechselt werden – und nun weiß ich auch, wie: nämlich so, wie Sie, Fräulein Hegemann die Preisschildchen im Schaufenster einstecken. Nur dass unsere Rahmen und Schilder selbstverständlich wesentlich größer sein werden!“
Marius lachte und die Damen lachten mit.
Und Stefanie fühlte sich sehr geehrt, einem bekannten Mann wie Marius Bostelkamp durch einen einfachen Handgriff weitergeholfen zu haben. Mit aufgewühlter Stimme fragte sie: „Kann ich Ihnen die Krawatte einpacken?“
„Oh, ich bitte darum!“, antwortete Marius und zwinkerte ihr spitzbübisch zu.
In diesem Augenblick erscholl ein dumpfes Grollen und die Erde schien ein wenig zu beben. Mit panisch aufgerissenen Augen griff Viola an die Kante des Verkaufstresens, während Stefanie – wenn auch unbewusst – nach Marius’ Arm tastete und sich festhielt.
„Keine Angst, meine Damen, es geschieht nichts Böses: das sind die Arbeiter von Brunnenbau Ensing, am Adolphsplatz werden die ersten Erdproben genommen. Bitte, beruhigen Sie sich.“
Zur Linken reichte Marius seine Hand Viola entgegen, die mit weichen Knien auf ihn zu kam, zur Rechten hauchte er einen Kuss auf Stefanies zitternde Finger.
Als es in dem Moment erneut grummelte und bebte, war die Aufregung schon nicht mehr ganz so groß. Und Viola meinte:
„Ja, ich erinnere mich, mein Mann hat mir in den letzten Tagen davon erzählt, als es im Hamburger Echo stand. Entschuldigen Sie bitte, Herr Bostelkamp, Sie müssen uns ja für völlig hysterisch halten … aber seit vor drei Wochen die Michaelis-Kirche abgebrannt ist …“
„Ich bitte Sie, Frau Fawler … was bin ich Ihnen für die Krawatte schuldig?“
„Oh, einen Moment … 11 Mark, Herr Bostelkamp!“
Marius entrichtete den Betrag und nahm das kleine Papiertütchen mit der Krawatte entgegen. Einen Moment lang ging ihm dabei durch den Kopf, dass ein einfacher Arbeiter für dieses Geld seine Familie einen ganzen Monat mit Kleidung versorgen musste. Doch er war nicht derjenige, der diese Situation ändern konnte und beschloss, die Stimmung nicht wieder kippen zu lassen.
Mit gelüftetem Zylinder verabschiedete er sich von Viola Fawler und Stefanie Hegemann. Beim Hinausgehen allerdings stoppte er noch einmal, als sein Blick auf ein Plakat neben der Ladentür fiel:

„Am 01. September 1906 feiern wir unser
60-jähriges Firmenjubiläum!
Wir laden Sie herzlich ein, ab 10 Uhr
zu einem kleinen Imbiss herein zu schauen!
Es freuen sich William und Viola Fawler sowie
Richard Christiansen mit Frau!“

Marius dreht sich um und versprach: „Dieser Termin ist notiert, meine Damen! Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag!“



05. Oktober 1906,
an einem Freitag

Wo noch kein Bahnhof existierte, musste auch kein Großer Bahnhof arrangiert werden. Voll wurde es trotzdem an diesem Freitagmorgen am Kuhmühlenteich.
Hier sollte die Ringbahn später über eine Stahlbrücke mit 65 Metern Spannweite fahren. Der Streckenabschnitt begann mit der geplanten Haltestelle Uhlandstraße und sollte etwa in Höhe der St. Gertrud-Kirche in das nächste Viadukt münden.
Diese Viadukte hatten bereits vor dem ersten Spatenstich für große Aufregung gesorgt.
Als die ersten Zeichnungen im Hamburgischen Correspondenten erschienen, waren die imposanten Stahlkonstruktionen Stadtgespräch sowohl in den Hafenkneipen als auch in den Kontoren der Kaufleute oder den Kaffeekränzchen der feinen Gesellschaft.
Auf der einen Seite waren die modernen, aufgeschlossenen Menschen, die sich besonders auf die schnelleren Verbindungen freuten.
Dagegen wetterten diejenigen, die beispielsweise die sonntägliche Ruhe durch ratternde Züge gefährdet sahen. Außerdem führte man die Zerstörung der Natur ins Feld.
Noch vor dem offiziellen Baubeginn am 07. Oktober 1906 waren die entsprechenden Petitionen abgewiesen worden.
Es war also sieben Uhr in der Früh, als eine Feuerspritze, ein Trupp Holzfäller sowie ein Sprengmeister am Kuhmühlenteich eintrafen. Die mit Äxten ausgerüsteten Männer, hinter denen sich jeder Jahrmarktringer verstecken konnte, und der schwer beladene Karren, dessen Abdeckung mit dem Schriftzug „Kalle Krumm macht Bumm“ versehen war, erregten in den Straßen rund um die markierte Baustelle großes Interesse.
Besonders die Jungs schlichen hinter dem Wagen her und versuchten unter die Abdeckung zu schauen. Doch dies wusste Kalle, der eigentlich Karl-Johann Krumm hieß, zu verhindern: mit einer schnellen Armbewegung ließ er die Peitsche knallen! Fast glaubte man, die Klatsche berührte die Nasenspitze des neugierigen Jungvolkes.

Das könnte ihnen auch gefallen :

Sonderfahrt für die Bürgermeister

Nadja Schilling

Ein Tag zum Kotzen ...

Buchbewertung:
*Pflichtfelder