Der trockene Wassermann

Der trockene Wassermann

Erhard Spank


EUR 20,90

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 474
ISBN: 978-3-948379-78-0
Erscheinungsdatum: 27.04.2021
Was der trockene Wassermann mit einer Bande abenteuerlustiger Schulfreunde zu tun hat, ist selbst den Kindern nicht ganz klar. In einem kleinen Bauerndorf kommen Geheimnisse um Stasispitzel, Artefakte der Nachkriegszeit und ein mystisches Hexenbuch ans Licht.
1

Seitdem es in dem Ort Birkowitz eine LPG gibt, hat die Mittagsfrau, auf Sorbisch připoɫdnica, keine Opfer mehr gefunden. Der letzte Fall ihrer Erscheinung liegt schon über fünfzig Jahre zurück und nur die alten Dorfbewohner können sich an dieses Ereignis erinnern. Damals, in der Getreideernte, wollte ein Bauer bei sengender Mittagshitze schnell noch die Fuhre mit den Weizengarben in seine Scheune fahren. Bei seinem Leiterwagen, gezogen von zwei schwarz-bunten Ochsen, brach plötzlich die vordere linke Runge unter der schweren Getreidelast und das betreffende Wagenrad blockierte, sodass ein Manövrieren auch für die beiden kräftigen Zugtiere zu einer Qual wurde. Fluchend und schwitzend versuchte der Bauer, die beiden Ochsen mit seiner Peitsche zum Vorwärtsgang zu bewegen. Da ist sie wohl erschienen, die připoɫdnica, wie die alten Bauern zu berichten wussten, und der Bauer brach ohnmächtig zusammen. Der später hinzu geeilte Arzt konnte nur noch den Tod des Mannes feststellen. Die Mittagsfrau hatte ihm vor seinem Zusammenbruch die Aufgabe erteilt, eine Stunde lang alles über den Flachsanbau, seine Ernte und die Verarbeitung zu erzählen. Das konnte er aber nicht. Also hat ihn die Mittagsfrau mit ihrer langstieligen Sichel zur Strafe getötet und war nachher wieder auf mystische Weise verschwunden. So erzählten es die alten Bauern. Wäre seine Frau noch mit auf dem Feld gewesen, hätte sie die připoɫdnica wohl besiegen können, denn sie war, wie die meisten sorbischen Bauersfrauen, nicht nur mit dem Anbau und der Ernte der seinerzeit häufigsten Textilfaser vertraut gewesen, sondern konnte auch geschickt mit dem in fast allen Bauernhäusern vorhandenen Spinnrad umgehen. Sie wäre daher in der Lage gewesen, der Mittagsfrau sehr lange über den Flachsanbau und dessen Verarbeitung zu berichten.
Aber das ist lange her und war damals auch noch lange Gesprächsthema in den Bauernhäusern. Mittlerweile schreiben wir das Jahr 1962 und die Themen in der Dorfkneipe und an der Milchrampe, wo täglich die nun genossenschaftlichen Bauern ihre Milchkannen zur Abholung bereitstellten, hatten andere Inhalte. Wie es zu einem aktuellen Gesprächsthema kam, hat sich folgendermaßen zugetragen und muss einige Wochen rückblickend erzählt werden: Der LPG-Vorsitzende Walter Sarodnik unterbreitete in einer der vergangenen Vorstandssitzungen den Vorschlag, einen Betriebsausflug für alle Mitglieder der „LPG an der Friedenseiche“ zu organisieren. Er fragte Armin Bubner, seines Zeichens Buchhalter der LPG, wie die Bilanz des letzten Jahres aussähe. Armin Bubner blätterte in dem bereitgelegten Aktenordner die für ihn wichtigsten Kontoauszüge durch und sagte: „Im vergangenen Jahr hatten wir sehr gute Einnahmen und die Ausgaben für alles Notwendige hielten sich in den zu erwartenden Grenzen. Die Bilanz sieht mit einem reichlichen Überschuss äußerst positiv aus.“
„Das hört sich gut an“, erwiderte Wilhelm Petschik, der Brigadier.
„Wir müssen uns bloß noch überlegen, wohin der Ausflug gehen soll. Um die Wünsche unserer Mitglieder nicht ins Uferlose gehen zu lassen, sollten wir die Meinungen schon ein bisschen beeinflussen. Ich würde Dresden, Karl-Marx-Stadt und den Spreewald als Favoriten ins Gespräch bringen. Über die Flüsterpropaganda an der Milchrampe oder beim Zapfer in der Kneipe würde sich schnell ein gemeinsames Ziel ergeben.“
„Nicht schlecht, die Idee. Eine Mitgliederversammlung bräuchten wir auch nicht extra einzuberufen“, meinte Walter Sarodnik.
„Und Berlin würde ich auf keinen Fall ins Gespräch bringen, das ist für uns im wahrsten Sinne des Wortes eine Nummer zu groß“, äußerte sich Armin Bubner. „Ich glaube kaum, dass jemand von uns Interesse an Brechts Theater hätte oder sich vielleicht ein politisches Theaterstück ansehen möchte. Außerdem habe ich vor Jahren mit Berlin schlechte Erfahrungen gemacht, als mich ein Vopo nach einem Einkauf in Westberlin hochgezogen und meine Waren konfisziert hat.“
„Davon hast du uns ja noch gar nichts erzählt“, wandte Wilhelm Petschik ein.
„Das kann ich dann bei unserer Fahrt mal zum Besten geben. Aber gerne spreche ich nicht darüber. Oder hättest du Interesse, bei Ulbricht eine Audienz zu bekommen?“
„Ich hätte damit kein Problem“, wandte Walter Sarodnik mit einem schelmischen Lächeln ein, „schließlich heiße ich auch Walter und bin ein Vorsitzender, wenn auch nur der einer LPG und nicht des Staatsrates in der DDR.“
Dreistimmiges, gleichzeitig einsetzendes Männerlachen war die Antwort auf seine Äußerung.
„Damit sich so ein Ausflug auch lohnt, könnten wir vielleicht auch Nichtmitglieder der LPG zu der geplanten Fahrt einladen. Das würde die Kosten minimieren, falls jeder noch einen Eigenbeitrag zur Finanzierung leisten müsste“, ergänzte Armin.
„Das sehe ich auch so. Wenn das Reiseziel feststeht, müssen wir Reisekosten, Verpflegung, Eintrittsgelder und sonstige Ausgaben kalkulieren. Aus welchem Fond unserer Genossenschaftskasse nehmen wir denn das Geld?“, wollte Walter wissen.
„Könnten wir es nicht aus dem Akkumulationsfond nehmen? Nach Armins Finanzbericht haben wir dort mit Abstand die größte Summe liegen“, antwortete Wilhelm.
„Da könnten wir Probleme mit dem Finanzamt bekommen“, erwiderte Armin. „Es wäre sinnvoller, das Geld aus unserem Kultur- und Sozialfond zu nehmen. Dafür haben wir ihn ja schließlich auch eingerichtet. Und wenn das Geld dafür nicht ausreicht, müsste der vorher in Betracht gezogene Eigenanteil die Lücke schließen.“
„Das ist richtig. Ärger wegen unzweckmäßig verausgabter Finanzen können wir uns nicht leisten. Das würde uns in ein schlechtes Licht rücken“, beteuerte Walter.
Mit diesen Ergebnissen der Beratung konnten die drei Mitglieder des LPG-Vorstandes wieder zur Tagesordnung übergehen. Tags darauf wurden die Pläne über die Mund-zu-Mund-Propaganda im Dorf Birkowitz in Umlauf gebracht und es zeigten sich bald die ersten Reaktionen der Dorfbewohner. So konnte man eines Tages folgende Diskussion an der Milchrampe belauschen: „Also ich bin nicht dafür, dass wir in den Spreewald fahren. Einige von uns waren mit Sicherheit schon dort und wollen bestimmt mal was anderes sehen und hören“, war die Meinung einer LPG-Bäuerin.
„Ich würde gern mal nach Leipzig zur Messe fahren. Dort sind immer viele neue Maschinen aus allen Herrenländern ausgestellt. Vielleicht könnte unsere LPG dort die neuesten Traktoren in Augenschein nehmen und einen kaufen“, ereiferte sich Fritz Wjelk, einer der Traktoristen.
„Ach, ihr Männer begeistert euch nur für die neue Technik. Dort einen Traktor oder gar einen Mähdrescher zu bestellen, können wir uns doch gar nicht leisten. Woher sollen wir denn für solche Neuentwicklungen das Geld nehmen?“, konterte eine Bäuerin. Es hatte sich inzwischen eine kleine Menschentraube von zwölf Personen gebildet, wobei es sich nicht nur um LPG-Mitglieder handelte. Die Industriearbeiter, die auf dem Weg zur Bushaltestelle waren, blieben, zunächst eher aus Neugier, bei der Ansammlung stehen, um zu erfahren, worüber die Leute denn debattierten. Nachdem auch der Letzte erfahren hatte, worum es ging, wurden immer mehr Meinungen geäußert. Da mischte sich auch Meta Šoɫta-Scholz, die Lehrerin und Schwiegertochter von Max Šoɫta-Scholz, die gerade auf dem Weg zur Schule war, in das Gespräch ein und sagte: „Obwohl ich eigentlich eine echte und bekennende Sorbin bin, schätze ich alle deutschen Dichter und Schriftsteller mehr als jeden ausländischen. In unserem Land sind weltbekannte Männer wie Goethe und Schiller geboren worden, die nicht zuletzt in Weimar ihre Spuren hinterlassen haben. Auch ein Thomas Mann muss mit der Stadt Weimar in Verbindung gebracht werden. Diese relativ kleine Stadt müsste daher für uns eine Reise wert sein. Etwas mehr Bildung würde nicht nur mir guttun. Wenn ich etwas zu sagen hätte, dann würde ich Weimar allen Städten in der DDR vorziehen.“
Alle Anwesenden verstanden die Meinung der Meta Šoɫta-Scholz, die zu Hause mit ihrer Familie ausschließlich sorbisch sprach, eher als Selbstkritik als eine möglicherweise versteckte Kritik am relativ geringen Bildungsstand einiger Genossenschaftsbauern, die in ihrer Jugend in der Schule wohl hauptsächlich mit faschistischen Parolen vollgedröhnt wurden, statt mit humanistischer Literatur bekannt gemacht worden zu sein. Offenbar hatten die Worte der Meta Šoɫta-Scholz Wirkung gezeigt. Es setzte ein allgemeines Gemurmel unter den anwesenden Bäuerinnen und Bauern ein, das als uneingeschränkte Zustimmung zu interpretieren war. In der Aussicht, mit etwas mehr Bildung in die Nähe der Intelligenz zu rücken, war den LPG-Mitgliedern nicht unangenehm. Um nicht als bildungsunwillig dazustehen, stimmte nach und nach jeder Anwesenden der Aussage Metas zu und es kristallisierte sich in dieser Menschentraube der Vorschlag heraus, dass nur Weimar als Ausflugsort infrage käme. So verfestigte sich auch diese Meinung relativ schnell in den folgenden Tagen bei allen LPG-Bauern und Nichtmitgliedern. Als Armin Bubner und Walter Sarodnik sich eines Tages morgens an der Milchrampe begegneten, sagte Walter: „Da hätten wir uns gar keinen Kopf machen müssen, was das Ausflugsziel betrifft. Dass unsere geplante Reise eine so große Eigendynamik entwickelt, hätte ich nicht gedacht. Meine Frau hat mich überzeugt, dass unsere Vorschläge für Dresden, Karl-Marx-Stadt und Spreewald nicht infrage kommen.“
„Mir ist es auch so gegangen“, sagte Armin. „Meine Tochter meinte noch, da sollten wir uns mal den Ettersberg und was die Nazis daraus gemacht haben, etwas genauer ansehen. In den vergangenen Jahren wurde ja viel über das dortige Konzentrationslager der Nazis berichtet. Aber ehrlich, Walter, während meiner Zeit als Soldat der Kriegsmarine haben ich und meine Kameraden von solchen Konzentrationslagern nichts gewusst, schon gar nicht, was dort mit Juden und Gegnern des Naziregimes gemacht wurde.“
„Ach, weißt du, Armin, viele haben es gewusst oder wollten es nicht gewusst haben. Wenn man etwas dagegen gesagt hätte, wäre man selbst dort gelandet. Was mich aber immer noch berührt, ist die Tatsache, dass auch eine Kirche und an erster Stelle ein Papst dazu geschwiegen, wenn nicht sogar das Ganze unterstützt haben. Ein Alojs Andricki, ein Dietrich Bonhoeffer und viele andere mutige Widerstandskämpfer waren zu wenig, um der braunen Pest Paroli zu bieten. Ich habe damals schon mehr gewusst als manch anderer, aber etwas zu sagen, habe ich mich nicht getraut. Wie sagt deine Schwiegermutter auch heute noch: Sonst wird man abgeholt. Man sollte auch nicht hinterfragen, was mit einigen Konzentrationslagern nach 1945 geschehen ist und in welcher Weise sie abermals genutzt worden sind.“
„So ist das eben. Sich gegen ein Herrschaftssystem aufzulehnen, lohnt sich nicht. Wenn man existieren will, muss man jeden Scheiß mitmachen und sogar befürworten. Aber wir machen unser eigenes Ding, so gut es geht.“
Inzwischen war noch Fritz Wjelk zu den beiden hinzugekommen, der sich neugierig in das Gespräch der beiden einklinkte. Als er mitbekommen hatte, worum es ging, wollte er natürlich bei der Organisation mithelfen und sagte: „Ich werde morgen mal mit Wilhelm reden, der soll sich um den Sonderbus kümmern, mit dem wir dann nach Weimar fahren werden.“
„Wenn noch diejenigen Nichtmitglieder an der Fahrt teilnehmen wollen, die Interesse bekundet haben, werden wir über zwanzig Personen sein. Ich werde mal in Weimar anrufen, welches Hotel wir buchen könnten. Wir müssen bloß noch einen günstigen Termin für unsere Fahrt festlegen“, ergänzte Walter.
„Der Vater von Fritz hat wohl die Märzennebel genau beobachtet und ist sich sicher, dass die Regentage verbunden mit der Schafskälte in der zweiten Juniwoche sein müssten, wie er mir neulich erzählte. Du kennst ja selbst die Hundert-Tage-Bauernregel.“
„Ja, schon. Aber nicht immer hat es gestimmt, dass sich hundert Tage nach den Märzennebeln eine Kaltwetterperiode mit Regen einstellt. Manchmal stimmen solche Bauernregeln auch nicht. Ich erinnere nur an das Unwetter von vor vier Jahren. Aber vertrauen wir mal auf die alte Bauernregel. Ein paar Regentage im Juni könnten uns für die Fahrt ganz gelegen kommen. Einen Arbeitskräfteersatz für einen Tag in unseren Kuhställen wird wohl jeder von uns finden.“
„Das denke ich auch. Wenn wir nur eine Nacht in Weimar bleiben, dann ist unser Vieh auch mit der Hälfte der sonst üblichen Arbeit durch Aushilfskräfte immer noch gut versorgt.“
Das Erscheinungsbild der drei Genossenschaftsbauern, wie sie so dastanden, erinnerte ein wenig an den berühmten Kupferstich von Albrecht Dürer unter dem Titel „Drei Bauern im Gespräch“. Nur dass die Kleidung der LPG-Bauern ihrer Zeit entsprach und dass die verbotenen Waffen wohl eher in ihren Köpfen zu suchen gewesen wären. Nach diesem Gespräch begaben sich die Männer wieder in ihre Höfe, um die dortigen Arbeiten zu erledigen. Alles andere lief dann wie geplant. Wilhelm Petschik konnte ein Busunternehmen ausfindig machen, das einen großen Reisebus samt Fahrer für die geplante Reise zur Verfügung stellen wollte. Walter Sarodnik telefonierte mit einem Hotel in Weimar und machte eine Übernachtung für zweiundzwanzig Personen vom elften zum zwölften Juni aus. Damit konnten der Tag und die genaue Abfahrtszeit von allen Beteiligten nach Aushang im Schaukasten der Feuerwehr zur Kenntnis genommen und persönliche Belange genau geplant werden. Alle gemeldeten Personen waren auch bereit, noch zusätzlich zehn Mark zur Finanzierung der Reise beizutragen, wenn auch drei Bäuerinnen etwas gemurrt hatten. Bei Familie Bubner und bei weiteren zwei Bauern hatte sich die Latschen-Lene dazu bereit erklärt, sich für den betreffenden Tag um die Kühe zu kümmern. In anderen Bauerfamilien fanden sich auch schnell die nötigen Aushilfskräfte aus der Familie oder ihrem Bekanntenkreis. Dann kam der Tag, da die Reise beginnen sollte. Alle waren gespannt, was nun so eine Fahrt mit sich bringen würde. Etliche Bäuerinnen und Bauern waren in ihrem bisherigen Leben nicht weiter gereist als bis zur Bezirkshauptstadt. Die ehemaligen Wehrmachtssoldaten hingegen hatten schon, wenn auch unfreiwillig, weitentfernte Städte und Länder unter sinnlosen Befehlen während des Krieges besuchen müssen. Im Prinzip aber waren Einwohner kleinerer und entlegener Dörfer eher etwas weltfremd und kannten Lebensgewohnheiten aus großen Städten mitunter nur vom Hörensagen und waren daher mit einigen Dingen des Lebens nicht so vertraut. Das fing an beim Einsteigen in den für damalige Verhältnisse sehr modernen Reisebus. Der Linienbus mit Anhänger war den Reisenden natürlich vom Nahverkehr bekannt, aber mit so einem vornehmen Bus hatten die wenigsten bisher Bekanntschaft gemacht. Die bequemen Sitze erlebten die nun zu Touristen gewordenen Genossenschaftsbäuerinnen und -bauern wie eine persönliche Aufwertung des eigenen Ichs. Dementsprechend änderte sich das eher zurückhaltende und scheue Publikum nun, wurde recht locker und es kam zu mannigfaltigen Gesprächen, die nach Gehör eines deftigen Witzes in einer lauten Lachsalve endeten. Welche konkreten Ziele während der Reise vorgesehen waren, verrieten die Organisatoren natürlich nicht. Der Busfahrer nahm wie erwartet die günstigste Reiseroute auf der Autobahn, so wie man die einer Autobahn ähnelnde einspurige Straße damals nannte, über den Abzweig Lübbenau in Richtung Dresden. Danach ging es weiter in Richtung Karl-Marx-Stadt. Um der Stimmung im Bus noch einen Impuls zu geben, wurde der für solche Zwecke benutzte Katalysator in Form von Weinbrand aus der Wilthener Brennerei mittels einer großen Flasche im Bus herumgereicht. Augen-und Ohrenzeugen wollen bemerkt haben, dass die Wirkung des zur Stimmung beitragenden Getränks eher ins Gegenteil umzuschlagen drohte. Bei einigen Frauen machte sich eine nicht zu übersehende Müdigkeit bemerkbar. Bei etlichen Männern, die neben dem Weinbrand noch die eine oder andere Flasche Bier aus dem im Bus deponierten Kasten konsumiert hatten, machte sich eine volle Blase bemerkbar. Dem Wunsch, an der nächstbesten Stelle anzuhalten, kam der Busfahrer natürlich nach. Die Parkplätze auf den Autobahnen hatten vielfach noch keine Toiletten, sodass die Menschen in dem unmittelbar angrenzenden Wald ihre Notdurft verrichten konnten. Erleichtert ging es dann weiter an Karl-Marx-Stadt, Gera und Jena vorbei, bis man in Weimar angekommen war. Als der Bus durch die Stadt fuhr, sagte Edith Sarodnik, die Frau des LPG-Vorsitzenden, laut, sodass es alle hören konnten: „Seht euch mal das an! In dieser Stadt hat Goethe gewirkt und die Leute wissen nicht mal, wie man Elefant schreibt. Dort auf der rechten Seite an dem großen Haus ist der Beweis!“
Alle Businsassen richteten ihre Köpfe auf die beschriebene Straßenseite und sahen die großen Buchstaben und das Wort Elefant mit „ph“ geschrieben.
„Das wird ein Eigenname des Besitzers sein. Bei Namen gibt es schließlich keine Rechtschreibfehler“, wollte es Fritz Wjelk nun genau gewusst haben.
„Ach, das ist doch nur der Name des Hotels, steht doch dran“, konterte die Frau vom Wilhelm Petschik.
„Aber man sieht doch deutlich einen Elefanten an der Tür oben“, wandte Edith Sarodnik ein.
„Na und, das Haus ist vielleicht schon etliche hundert Jahre alt und damals schrieb man eben Elefant so“, verteidigte Wilhelm Petschik seine Frau. Da der Bus schon zwei Straßen weiter gefahren war, konnte man das Elephant-Hotel nicht mehr sehen, sodass die Diskussion darüber abbrach. Nach einer kurzen Fahrt hielt der Bus plötzlich an und es stieg eine allen unbekannte Frau hinzu, welche die Reisegesellschaft freundlich begrüßte und sich als Reiseführerin mit dem Namen Ursula vorstellte. Neugierig und erwartungsvoll wurde sie von den Birkowitzer Einwohnern beäugt, in der Gewissheit, nun alle auftretenden Fragen beantworten zu können. „Wir machen zuerst eine kleine Stadtrundfahrt, vorbei an den bekanntesten Sehenswürdigkeiten, bevor wir in einem Restaurant zu Mittag essen werden.“ Dann fuhr der Bus an den Sehenswürdigkeiten der Stadt vorbei, die hier nicht näher beschrieben werden müssen, da sie dem Leser ohnehin bekannt sein müssten. Kurz vor dem Mittagessen stiegen die Busreisenden aus und begaben sich in den Stadtpark, wo die Stadtführerin die Bedeutung des Gartenhauses Goethes mit all seinen Geschichten pries. Danach gab es das angekündigte Mittagessen in einer kleinen, gemütlichen Gaststätte. Als nach dem Essen wieder alle im Bus saßen, sagte die Stadtführerin: „Neben allen Schönheiten hat Weimar aber auch eine dunkle Seite der deutschen Geschichte aufzuweisen, die wir heute kennenlernen werden. Den einst von Goethe gerühmtem Ettersberg haben die Nazis entweiht und dort eines der schlimmsten Menschenvernichtungslager errichtet, was wir gleich besichtigen werden.“
In der Ahnung, was die Reisenden nun erwarten würde, trat ein betroffenes Schweigen ein. Vor den Toren des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald angekommen, stiegen alle aus dem Bus, um der Führung und den Erklärungen der Stadtführerin zu folgen. Mit Befremden und Betroffenheit von dem Gesehenen und Gehörten vernahm man zuweilen auch ein Schluchzen oder einen Ausruf der Empörung, der Abscheu und des Ekels über die Missetaten und Verbrechen deutscher Männer und Frauen, die in der schlimmsten Epoche der Menschheit dort tätig waren.
Als nachher wieder alle im Bus saßen und die Eindrücke des Gesehenen von allen verarbeitet worden waren, gab es auch wieder Gespräche zwischen den Reisenden. Nach kurzer Fahrt kam der Bus am späten Nachmittag wieder in Weimar an und hielt ausgerechnet am Hotel Elephant, worüber die Birkowitzer zunächst erstaunt waren.
„In diesem Hotel werden Sie heute übernachten. Meine Arbeit ist bis hierher getan und ich wünsche Ihnen noch unterhaltsame Stunden. Genießen Sie den heutigen Abend vielleicht im Hotelrestaurant oder in der schönen Bar. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und auf Wiedersehen.“
Nach einem kurzen und kräftigen Applaus war die Reiseleiterin auch schon verschwunden.
Ein jeder der Reisegruppe nahm dann sein Gepäck, das der Busfahrer aus dem Gepäckraum herausreichte, und man begab sich in das Hotel. Hier zeigte sich das Organisationstalent des Walter Sarodnik, der im Vorfeld natürlich die Anzahl der gemeldeten Ehepaare und Einzelpersonen der Hotelleitung mitgeteilt hatte. Nur das Ausfüllen der persönlichen Anmeldeformulare dauerte ziemlich lange, da die Personalien, wie damals üblich, durch Vorlage des Personalausweises erst abgeglichen werden musste. Danach konnten vom Empfangspersonal die Zimmerschlüssel verteilt werden und jeder nahm das ihm zugewiesene Zimmer in Besitz.
Ein großer Teil der Reisegruppe, es waren vor allem die LPG-Mitglieder, einigten sich, nach dem Abendbrot die angepriesene Bar zu besuchen. Wie besprochen, traf man sich um zwanzig Uhr vor der Bar, um die zuvor bestellten Plätze einzunehmen. Zu diesem Zweck hatten sich natürlich alle in Gala gewippt, wie man zu sagen pflegte. Als es zum Einlass ging, den ein gestrenger Herr in schwarzem Anzug und Fliege wie Zerberus den Hades bewachte, richtete dieser seinen strengen Blick auf alle Personen, die Einlass begehrten. An Fritz Wjelk gewandt sagte er: „So wie Sie gekleidet sind, kommen Sie nicht in unsere Bar.“ Mehr erschrocken als erstaunt fragte Fritz etwas verunsichert: „Weshalb darf ich denn nicht rein?“
„Wenn Sie unsere Bestimmung gelesen haben, dann sieht die Anzugsordnung für Herren ein Oberhemd mit Krawatte und einen geschlossenen Anzug vor. Das vermisse ich bei Ihnen.“
„Was soll ich denn nun machen?“, wandte sich Fritz an seine Kollegen. „Meinen alten Anzug, den ich auf der Fahrt anhatte, kann ich mir ja anziehen, aber an einer Krawatte hapert es in meinem Reisegepäck.

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