In drei Stunden bist du nicht mehr da
Autobiografische Erzählung
Hans-Jürgen Kaiser
EUR 16,90
EUR 13,99
Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 134
ISBN: 978-3-99107-493-9
Erscheinungsdatum: 18.10.2021
Was passiert mit einer großen Liebe, wenn das Schicksal unerwartet zuschlägt? Nach langen Jahren voller Glück, Harmonie und Verbundenheit verursacht eine Krankheit tiefgreifende Veränderungen im Leben des Paares - und führt zu einer radikalen Entscheidung.
Ich bin fest davon überzeugt,
dass das Leben keinen Sinn hat,
dass nichts einen Sinn hat
Claude Lévi Strauss
Es bleiben letztlich nur zwei Dinge,
das Nichts und die bella figura
Peter Sloterdijk
Für Dich, Mädi
Freitag, 26. September 2014
Langsam fahre ich die schmale Wohnstraße entlang. Wie immer kein Parkplatz. Ich stelle den Wagen in die zweite Reihe, direkt vor die Mühlenbäckerei. Für Anna ist sie die beste Biobäckerei in der Stadt. Eines Tages war sie da, schräg gegenüber von unserem Mietshaus, sechs Wochen bevor wir auszogen. Wir kaufen dort immer noch ein, der Laden liegt auf unseren Wegen.
Ich betrete den kleinen Verkaufsraum. Vor mir noch vier Kunden. Gleich bin ich dran, eine kleine Frau mit grauen Haaren und einem altmodischen Mantel steht noch vor mir. Sie will bei jedem Laib genau wissen, welche Zusatzstoffe darin enthalten sind. Ich denke mir: Die arme Frau, was würde sie wohl tun, wenn sie in Sibirien oder Haiti leben würde. Die kleine Frau ist jetzt am fünften Laib Brot angelangt, einem Ur-Korn-Brot. Dieses Mal fragt sie, aus welchem Land das Getreide ursprünglich stammt. Gleich hupt einer, denke ich und schaue aus dem Ladenfenster nach meinem Auto. Ich stehe vor der Theke. Die Verkäuferin kennt mich. Sie zieht ihre Augenbrauen hoch, zuckt mit den Schultern und lächelt mich an: „Ein Laib Roggen pur, wie immer?“ Es ist Annas Lieblingsbrot. „Ja bitte, und zwei Stück von dem Käsekuchen. Packe mir den Käsekuchen bitte extra ein.“
Für das Brot benutze ich eine Stofftasche. Die Käsestücke balanciere ich auf der rechten flachen Hand nach draußen und lege sie vorsichtig auf den Beifahrersitz, damit sie nicht zerdrückt werden. Ein Blick auf die Uhr. Ich werde pünktlich sein.
In der Küche bereite ich alles vor, lege die Kuchenstücke auf die Teller und rufe durch die Durchreiche ins Esszimmer: „Möchtest du einen Espresso oder aufgebrühten Kaffee?“ Unser Gespräch verläuft zäh, die Stimmung ist angespannt. Ich sage zu Anna: „Warum bist du so wortkarg? Dich bedrückt doch etwas.“ Sie legt die Kuchengabel zur Seite, sieht mich an und sagt: „Jan. Ich habe eine existenzielle Entscheidung getroffen. Sie wird alles verändern.“
25 Jahre früher
Kannst du dich noch daran erinnern, wie wir uns kenngelernt haben?
Eine Stunde bevor wir uns das erste Mal sehen werden, sitze ich an meinem Schreibtisch und blicke auf einen parkähnlich angelegten großen Innenhof. Bäume, Büsche, kleine Wege und zwei weißlackierte Holzbänke. Seltsamerweise denke ich an ein Eulenpärchen, das letzten Sommer in der Fichte direkt vor meinem Fenster saß und mich so penetrant angeglotzt hat, dass ich die Jalousien schloss.
Dabei komme ich gerade aus dem Zimmer des Geschäftsführers. Gerüchte über eine Strukturveränderung der Geschäftsstelle gab es schon länger. Dennoch hat er mich überrumpelt. „Es gibt eine neue Abteilung für das Marketing. Wir haben Sie für die Leitung vorgesehen. Es wurde auch diskutiert, eine neue Stelle einzurichten, aber dafür fehlen uns die Mittel. Keine Sorge, Ihre bisherige Tätigkeit bleibt erhalten und wird integriert. Sie bekommen jede Unterstützung, die Sie brauchen, einschließlich Weiterbildung.“
Ich bin Pädagoge und habe keine Ahnung von Marketing. Verdammt. Es interessiert mich nicht. Eingestellt wurde ich als Bildungsreferent. Aber aus der Nummer komme ich nicht raus. Keine Chance. Das bedeutet mehr Arbeit, mehr Verantwortung, aber vielleicht auch mehr Gehalt. Ich schaue in den Park. Die Eichhörnchen springen aus luftiger Höhe von Baum zu Baum und landen sicher. So mache ich es auch. Ich springe einfach und hoffe, sicher zu landen. Jetzt gehe ich erst einmal in die Mittagspause. Zum Stehitaliener.
Plötzlich stehst du neben mir und lachst mich frech an: „Ich glaube, Sie essen gerade meine Nudeln“. Ich sehe dich an, dein schönes Gesicht, die markant gebogene, lange Nase, die kurzgeschnittenen, rötlich-blonden Haare. Wie ein Junge.
Von den Stehtischen, erhöht auf einer Empore, haben die Gäste einen freien Blick in die offene Küche zu Theresa, der kleinen, untersetzten italienischen Köchin. Die Nudeln dauern etwas länger. Sobald sie al dente sind, stellt sie den Teller auf die Theke und bedient den Klingelknopf. Vertieft in ein Gespräch mit deiner Arbeitskollegin hast du den Klingelton überhört, und ich war zu voreilig.
1
Der Sommer hatte noch lange nicht seinen Höhepunkt erreicht, und der Tag war unerwartet heiß. Deshalb zogen wir den Biergarten dem französischen Restaurant vor, in das ich dich zur Wiedergutmachung eingeladen hatte. Wir waren früh am Abend unterwegs, der Biergarten nur zu einem Drittel belegt. Direkt am Ufer des kleinen Sees mitten im Englischen Garten ergatterten wir einen Platz. Wir haben uns schnell geeinigt, und ich holte uns Steckerlfisch mit Kartoffelsalat und zwei Weizenbier. Für dich ein Alkoholfreies, weil du noch mit dem Auto fahren musstest.
Ich hörte dir gerne zu, deine warme, volle Stimme. Deine Gestik. Wenn du etwas betonen wolltest, hast du mit Mittel – und Zeigefinger der rechten Hand geschnipst und den Zeigefinger in die Luft gestreckt. Du hast mir erzählt, dass du schon einmal verheiratet warst. Die Ehe bestand aus Sport, Tennis, Rennradtouren, Bergsteigen. Zuviel Sportschau. Deine Interessen Kunst und Literatur? Keine Chance. Du sagtest: „Simone de Beauvoir hat mich gerettet“. Dabei verformte sich dein Mund zu einer kleinen Schnute, und ich bemerkte die Grübchen an deinen Wangen. Ich schätzte damals dein Alter auf Anfang 30. Gut geschätzt. Später erfuhr ich, dass du 34 Jahre alt warst, 8 Jahre jünger als ich.
Die Zeit verging. Du schautest auf die Uhr. „Schon 21 Uhr. Schade, aber ich muss aufbrechen. Noch 30 Kilometer Fahrt bis nach Rosenheim. Ich plane, nach München zu ziehen. Mein Auto habe ich vor dem Büro geparkt.“ Ich bot dir an, dich zurückzubegleiten. Unterwegs haben wir auf einer Parkbank Rast gemacht, um den Abend ruhig ausklingen zu lassen. Wir saßen schweigend nebeneinander, du bist nahe an mich herangerückt, hast deinen Arm um meine Schulter gelegt, mich an dich gezogen und auf den Mund geküsst.
2
An einem Sonntag im Juli hast du mich das erste Mal besucht. Wir hatten uns für 11 Uhr verabredet. Ich ließ die Haustüre offen und erwartete dich vor dem letzten Treppenabsatz. Schneller als erwartet kamst du mir entgegen, nahmst sportlich-behände die letzten Stufen. Rotes Kostüm mit taillierter Jacke, lässig hing die kleine schwarze Handtasche über deiner Schulter. Die türkisgrünen Ohrstecker bemerkte ich erst bei dem flüchtigen Willkommenskuss auf deine Wange. „Tolles Kostüm. Steht dir gut. Herzlich willkommen.“ „Puh, fünf Stockwerke ohne Aufzug. Kleine sportliche Aktion.“
Damals ahnten wir noch nicht, dass wir einmal in der Wohnung zusammenleben würden und der fehlende Aufzug ein Problem werden sollte.
„Komm herein. Darf ich dir etwas zum Trinken anbieten, Wasser, Espresso?“ „Gerne, ein Glas Wasser. Ich setze mich erst einmal.“
„Du hast eine schöne Altbauwohnung, darf ich mich ein bisschen umschauen? Ich bin immer neugierig zu sehen, wie Leute wohnen.“ Du standst vor meinem Bücherregal. „Interessant, hier finde ich die ganzen Existenzialisten, Beauvoir, Beckett, Camus, Sartre. Und so schön ordentlich nach Autoren geordnet. Hast du die vielen Bücher im Regal alle gelesen? Was ich vermisse, ist, Fontanes Effi Briest, mein eigentliches Lieblingsbuch.“
„Anna, wir müssen langsam los. Für 13 Uhr habe ich zwei Plätze reserviert in einem italienischen Restaurant. Es liegt gleich ums Eck und wir können bei dem schönen Wetter im Freien sitzen.“
Ursprünglich hatten wir vor, in eine Ausstellung zu gehen, aber das Wetter war zu schön. Nach dem Lunch fuhren wir mit der Straßenbahn zum Nymphenburger Schloss und gingen händchenhaltend spazieren. Wir waren nicht die Einzigen, auch andere, viele ältere Paare, absolvierten ihren Sonntagsspaziergang im Schlosspark. Eine Biedermeier-Szenerie. Sie erinnerte mich an den Künstler FK Wächter und seinen Cartoon „Ältere Herrschaften im Park“, denen Jugendliche auf den Mantelrücken Zettel mit der Aufschrift „Wir haben gefickt“ geklebt haben. Einen Augenblick dachte ich daran, dir meine Eingebung mitzuteilen. Aber ich kannte dich noch nicht gut genug.
Für den Abend hatte ich ein paar Häppchen hergerichtet, und ich fragte dich, ob ich dir noch ein Glas Wein nachschenken dürfe. „Lieber nicht, ich muss ja noch heimfahren.“ „Eigentlich ist es umständlich, heute noch zurückzufahren und morgen wieder nach München. Wenn du hier übernachtest, kannst du noch ein Gläschen Wein trinken, und ich lese dir später eine Gute-Nacht-Geschichte vor. Falls du etwas brauchst, Schlafanzug, Zahnbürste, Nachtcreme, Pads zum Abschminken: Habe ich alles da.“
Vor einigen Jahren hatte ich den Film American Gigolo gesehen, mit Richard Gere in der Hauptrolle. Der hatte so ein Package dutzendweise in seiner Penthouse-Wohnung, für seine Kundinnen, alles in Zellophan verpackt, aufbewahrt in Glasschubladen. Das fand ich ziemlich cool, und aus einer Laune heraus habe ich mir ein paar Tage danach ein Exemplar eines solchen Sets zugelegt, nur nicht in Zellophan verpackt, und den Damen-Schlafanzug in der Größe 38. Das entsprach dem Standard meiner Frauen und passte auch für die Größe 36.
Anna schaute mich naiv-lächelnd an. „Brauche ich nicht, ich habe meinen kleinen Reisekoffer dabei. Im Auto.“ Wir schauten uns an und prusteten los. „Oh Mann, nicht was du denkst. Den habe ich immer dabei, wegen der unverhofften Dienstreisen.“
Ich fühle deinen Rhythmus; wenn ich die Augen öffne, sehe ich deine kleinen, festen Brüste, die sich auf und ab bewegen. Du beugst dich zu mir, schmiegst deine Wange an meine und flüsterst mir ins Ohr: „Ich bin bei dir.“
3
Der Vorschlag kam von Selma, der griechischen Frau eines Arbeitskollegen. Sie hatte uns zusammen mit anderen Freunden zum Abendessen eingeladen. Selma schwärmte von Sifnos, einer kleinen Insel in der südlichen Ägäis. Ihre Eltern besaßen dort ein Ferienhaus, in dem sie als Kind ihre Schulferien verbrachte.
„Wenn ihr einen schönen Liebesurlaub verbringen wollt, kann ich euch die Insel sehr empfehlen. Ein Kleinod, drei Stunden mit der Fähre von Athen entfernt. Touristisch nicht überlaufen, mit wunderschönen Stränden. Unser Ferienhaus lag im Ortsteil Artemonas. Dort besuchten wir immer ein Restaurant mit vorzüglicher lokaler Küche. Vor allem frischen Fisch. Den Namen des Restaurants habe ich vergessen, aber es liegt am Ende der Hauptstraße, die durch diesen Ortsteil führt, etwas tiefer gelegen. Steintreppen führen von der Straße hinunter zu der großen Terrasse. Leicht zu finden, falls es noch existiert.“
Ein halbes Jahr später landeten wir mit der Fähre von Athen in Sifnos und spazierten direkt ins Tourist-Office. Wir hörten Artemonas und freuten uns. Ein junger Grieche, der lässig hinter der Theke stand und leidlich gutes Englisch sprach: „I can offer you the windmill in Artemonas. A lovely place, three miles from here. You can take a taxi“.
Zur Windmühle, auf einer Anhöhe, führte eine schmale, gepflasterte Treppe. Die Vermieter, ein mittelaltes Pärchen, erwarteten uns mit frischer Bettwäsche samt Handtüchern. Sie waren sichtlich erfreut, uns als Gäste zu beherbergen und gaben uns zu verstehen, dass sie die Windmühle vor kurzem erworben hatten und wir ihre ersten Gäste waren.
Alles neu renoviert. Unten eine große Essküche, daneben ein noch größerer Wohnraum. Von dort führte eine hölzerne Wendeltreppe in eine Schlafkoje mit angeschlossenem Bad und Duschkabine.
In der Nacht wachte ich auf, hörte den Wind um die Mühle tanzen und spürte dich ruhig atmen. Ich drehte mich auf die andere Seite und schlief wieder ein. Am Morgen schlich ich mich zur Dusche, kam zurück und setzte mich auf den Bettrand. Durch die Jalousien fielen Lichtstreifen auf dein Gesicht, Du öffnetest die Augen und ich dachte: An diesem Morgen bist Du besonders schön. „Anna, wir machen uns fertig und frühstücken in einem Café am Marktplatz. Dort finden wir auch einen Motorradverleih.“
Wir saßen im Freien, und das hübsche, dunkelhaarige Mädchen brachte uns schwarzen Kaffee, Obst, griechischen Joghurt, Toast, Butter, Käse und Marmelade. Der Motorradverleih hatte vor allem Mopeds im Angebot, aber auch zwei Geländemaschinen und drei Motorroller. Ich liebäugelte mit einer Geländemaschine. Anna bevorzugte den Motorroller. Wegen der Farbe. Rot. „Sie passt zu unseren Flitterwochen, mein Liebling.“
Wir packten unsere Badesachen und fuhren die schwarz glänzende Serpentinenstraße hinunter zum Strand. Als wir ankamen, kurz vor Mittag, hatte die Hitze ihren Höhepunkt erreicht, und der Schatten des einzigen Baumes war schon lange von einem anderen Pärchen okkupiert. Es scherte uns nicht. Wir rannten gleich in die Brandung und schwammen um die Wette hinaus ins Meer. Bevor wir umdrehten, haben wir auf der Stelle Wasser getreten, uns umschlungen, geküsst, sind untergetaucht, prustend wieder hochgeschossen und zurückgeschwommen.
dass das Leben keinen Sinn hat,
dass nichts einen Sinn hat
Claude Lévi Strauss
Es bleiben letztlich nur zwei Dinge,
das Nichts und die bella figura
Peter Sloterdijk
Für Dich, Mädi
Freitag, 26. September 2014
Langsam fahre ich die schmale Wohnstraße entlang. Wie immer kein Parkplatz. Ich stelle den Wagen in die zweite Reihe, direkt vor die Mühlenbäckerei. Für Anna ist sie die beste Biobäckerei in der Stadt. Eines Tages war sie da, schräg gegenüber von unserem Mietshaus, sechs Wochen bevor wir auszogen. Wir kaufen dort immer noch ein, der Laden liegt auf unseren Wegen.
Ich betrete den kleinen Verkaufsraum. Vor mir noch vier Kunden. Gleich bin ich dran, eine kleine Frau mit grauen Haaren und einem altmodischen Mantel steht noch vor mir. Sie will bei jedem Laib genau wissen, welche Zusatzstoffe darin enthalten sind. Ich denke mir: Die arme Frau, was würde sie wohl tun, wenn sie in Sibirien oder Haiti leben würde. Die kleine Frau ist jetzt am fünften Laib Brot angelangt, einem Ur-Korn-Brot. Dieses Mal fragt sie, aus welchem Land das Getreide ursprünglich stammt. Gleich hupt einer, denke ich und schaue aus dem Ladenfenster nach meinem Auto. Ich stehe vor der Theke. Die Verkäuferin kennt mich. Sie zieht ihre Augenbrauen hoch, zuckt mit den Schultern und lächelt mich an: „Ein Laib Roggen pur, wie immer?“ Es ist Annas Lieblingsbrot. „Ja bitte, und zwei Stück von dem Käsekuchen. Packe mir den Käsekuchen bitte extra ein.“
Für das Brot benutze ich eine Stofftasche. Die Käsestücke balanciere ich auf der rechten flachen Hand nach draußen und lege sie vorsichtig auf den Beifahrersitz, damit sie nicht zerdrückt werden. Ein Blick auf die Uhr. Ich werde pünktlich sein.
In der Küche bereite ich alles vor, lege die Kuchenstücke auf die Teller und rufe durch die Durchreiche ins Esszimmer: „Möchtest du einen Espresso oder aufgebrühten Kaffee?“ Unser Gespräch verläuft zäh, die Stimmung ist angespannt. Ich sage zu Anna: „Warum bist du so wortkarg? Dich bedrückt doch etwas.“ Sie legt die Kuchengabel zur Seite, sieht mich an und sagt: „Jan. Ich habe eine existenzielle Entscheidung getroffen. Sie wird alles verändern.“
25 Jahre früher
Kannst du dich noch daran erinnern, wie wir uns kenngelernt haben?
Eine Stunde bevor wir uns das erste Mal sehen werden, sitze ich an meinem Schreibtisch und blicke auf einen parkähnlich angelegten großen Innenhof. Bäume, Büsche, kleine Wege und zwei weißlackierte Holzbänke. Seltsamerweise denke ich an ein Eulenpärchen, das letzten Sommer in der Fichte direkt vor meinem Fenster saß und mich so penetrant angeglotzt hat, dass ich die Jalousien schloss.
Dabei komme ich gerade aus dem Zimmer des Geschäftsführers. Gerüchte über eine Strukturveränderung der Geschäftsstelle gab es schon länger. Dennoch hat er mich überrumpelt. „Es gibt eine neue Abteilung für das Marketing. Wir haben Sie für die Leitung vorgesehen. Es wurde auch diskutiert, eine neue Stelle einzurichten, aber dafür fehlen uns die Mittel. Keine Sorge, Ihre bisherige Tätigkeit bleibt erhalten und wird integriert. Sie bekommen jede Unterstützung, die Sie brauchen, einschließlich Weiterbildung.“
Ich bin Pädagoge und habe keine Ahnung von Marketing. Verdammt. Es interessiert mich nicht. Eingestellt wurde ich als Bildungsreferent. Aber aus der Nummer komme ich nicht raus. Keine Chance. Das bedeutet mehr Arbeit, mehr Verantwortung, aber vielleicht auch mehr Gehalt. Ich schaue in den Park. Die Eichhörnchen springen aus luftiger Höhe von Baum zu Baum und landen sicher. So mache ich es auch. Ich springe einfach und hoffe, sicher zu landen. Jetzt gehe ich erst einmal in die Mittagspause. Zum Stehitaliener.
Plötzlich stehst du neben mir und lachst mich frech an: „Ich glaube, Sie essen gerade meine Nudeln“. Ich sehe dich an, dein schönes Gesicht, die markant gebogene, lange Nase, die kurzgeschnittenen, rötlich-blonden Haare. Wie ein Junge.
Von den Stehtischen, erhöht auf einer Empore, haben die Gäste einen freien Blick in die offene Küche zu Theresa, der kleinen, untersetzten italienischen Köchin. Die Nudeln dauern etwas länger. Sobald sie al dente sind, stellt sie den Teller auf die Theke und bedient den Klingelknopf. Vertieft in ein Gespräch mit deiner Arbeitskollegin hast du den Klingelton überhört, und ich war zu voreilig.
1
Der Sommer hatte noch lange nicht seinen Höhepunkt erreicht, und der Tag war unerwartet heiß. Deshalb zogen wir den Biergarten dem französischen Restaurant vor, in das ich dich zur Wiedergutmachung eingeladen hatte. Wir waren früh am Abend unterwegs, der Biergarten nur zu einem Drittel belegt. Direkt am Ufer des kleinen Sees mitten im Englischen Garten ergatterten wir einen Platz. Wir haben uns schnell geeinigt, und ich holte uns Steckerlfisch mit Kartoffelsalat und zwei Weizenbier. Für dich ein Alkoholfreies, weil du noch mit dem Auto fahren musstest.
Ich hörte dir gerne zu, deine warme, volle Stimme. Deine Gestik. Wenn du etwas betonen wolltest, hast du mit Mittel – und Zeigefinger der rechten Hand geschnipst und den Zeigefinger in die Luft gestreckt. Du hast mir erzählt, dass du schon einmal verheiratet warst. Die Ehe bestand aus Sport, Tennis, Rennradtouren, Bergsteigen. Zuviel Sportschau. Deine Interessen Kunst und Literatur? Keine Chance. Du sagtest: „Simone de Beauvoir hat mich gerettet“. Dabei verformte sich dein Mund zu einer kleinen Schnute, und ich bemerkte die Grübchen an deinen Wangen. Ich schätzte damals dein Alter auf Anfang 30. Gut geschätzt. Später erfuhr ich, dass du 34 Jahre alt warst, 8 Jahre jünger als ich.
Die Zeit verging. Du schautest auf die Uhr. „Schon 21 Uhr. Schade, aber ich muss aufbrechen. Noch 30 Kilometer Fahrt bis nach Rosenheim. Ich plane, nach München zu ziehen. Mein Auto habe ich vor dem Büro geparkt.“ Ich bot dir an, dich zurückzubegleiten. Unterwegs haben wir auf einer Parkbank Rast gemacht, um den Abend ruhig ausklingen zu lassen. Wir saßen schweigend nebeneinander, du bist nahe an mich herangerückt, hast deinen Arm um meine Schulter gelegt, mich an dich gezogen und auf den Mund geküsst.
2
An einem Sonntag im Juli hast du mich das erste Mal besucht. Wir hatten uns für 11 Uhr verabredet. Ich ließ die Haustüre offen und erwartete dich vor dem letzten Treppenabsatz. Schneller als erwartet kamst du mir entgegen, nahmst sportlich-behände die letzten Stufen. Rotes Kostüm mit taillierter Jacke, lässig hing die kleine schwarze Handtasche über deiner Schulter. Die türkisgrünen Ohrstecker bemerkte ich erst bei dem flüchtigen Willkommenskuss auf deine Wange. „Tolles Kostüm. Steht dir gut. Herzlich willkommen.“ „Puh, fünf Stockwerke ohne Aufzug. Kleine sportliche Aktion.“
Damals ahnten wir noch nicht, dass wir einmal in der Wohnung zusammenleben würden und der fehlende Aufzug ein Problem werden sollte.
„Komm herein. Darf ich dir etwas zum Trinken anbieten, Wasser, Espresso?“ „Gerne, ein Glas Wasser. Ich setze mich erst einmal.“
„Du hast eine schöne Altbauwohnung, darf ich mich ein bisschen umschauen? Ich bin immer neugierig zu sehen, wie Leute wohnen.“ Du standst vor meinem Bücherregal. „Interessant, hier finde ich die ganzen Existenzialisten, Beauvoir, Beckett, Camus, Sartre. Und so schön ordentlich nach Autoren geordnet. Hast du die vielen Bücher im Regal alle gelesen? Was ich vermisse, ist, Fontanes Effi Briest, mein eigentliches Lieblingsbuch.“
„Anna, wir müssen langsam los. Für 13 Uhr habe ich zwei Plätze reserviert in einem italienischen Restaurant. Es liegt gleich ums Eck und wir können bei dem schönen Wetter im Freien sitzen.“
Ursprünglich hatten wir vor, in eine Ausstellung zu gehen, aber das Wetter war zu schön. Nach dem Lunch fuhren wir mit der Straßenbahn zum Nymphenburger Schloss und gingen händchenhaltend spazieren. Wir waren nicht die Einzigen, auch andere, viele ältere Paare, absolvierten ihren Sonntagsspaziergang im Schlosspark. Eine Biedermeier-Szenerie. Sie erinnerte mich an den Künstler FK Wächter und seinen Cartoon „Ältere Herrschaften im Park“, denen Jugendliche auf den Mantelrücken Zettel mit der Aufschrift „Wir haben gefickt“ geklebt haben. Einen Augenblick dachte ich daran, dir meine Eingebung mitzuteilen. Aber ich kannte dich noch nicht gut genug.
Für den Abend hatte ich ein paar Häppchen hergerichtet, und ich fragte dich, ob ich dir noch ein Glas Wein nachschenken dürfe. „Lieber nicht, ich muss ja noch heimfahren.“ „Eigentlich ist es umständlich, heute noch zurückzufahren und morgen wieder nach München. Wenn du hier übernachtest, kannst du noch ein Gläschen Wein trinken, und ich lese dir später eine Gute-Nacht-Geschichte vor. Falls du etwas brauchst, Schlafanzug, Zahnbürste, Nachtcreme, Pads zum Abschminken: Habe ich alles da.“
Vor einigen Jahren hatte ich den Film American Gigolo gesehen, mit Richard Gere in der Hauptrolle. Der hatte so ein Package dutzendweise in seiner Penthouse-Wohnung, für seine Kundinnen, alles in Zellophan verpackt, aufbewahrt in Glasschubladen. Das fand ich ziemlich cool, und aus einer Laune heraus habe ich mir ein paar Tage danach ein Exemplar eines solchen Sets zugelegt, nur nicht in Zellophan verpackt, und den Damen-Schlafanzug in der Größe 38. Das entsprach dem Standard meiner Frauen und passte auch für die Größe 36.
Anna schaute mich naiv-lächelnd an. „Brauche ich nicht, ich habe meinen kleinen Reisekoffer dabei. Im Auto.“ Wir schauten uns an und prusteten los. „Oh Mann, nicht was du denkst. Den habe ich immer dabei, wegen der unverhofften Dienstreisen.“
Ich fühle deinen Rhythmus; wenn ich die Augen öffne, sehe ich deine kleinen, festen Brüste, die sich auf und ab bewegen. Du beugst dich zu mir, schmiegst deine Wange an meine und flüsterst mir ins Ohr: „Ich bin bei dir.“
3
Der Vorschlag kam von Selma, der griechischen Frau eines Arbeitskollegen. Sie hatte uns zusammen mit anderen Freunden zum Abendessen eingeladen. Selma schwärmte von Sifnos, einer kleinen Insel in der südlichen Ägäis. Ihre Eltern besaßen dort ein Ferienhaus, in dem sie als Kind ihre Schulferien verbrachte.
„Wenn ihr einen schönen Liebesurlaub verbringen wollt, kann ich euch die Insel sehr empfehlen. Ein Kleinod, drei Stunden mit der Fähre von Athen entfernt. Touristisch nicht überlaufen, mit wunderschönen Stränden. Unser Ferienhaus lag im Ortsteil Artemonas. Dort besuchten wir immer ein Restaurant mit vorzüglicher lokaler Küche. Vor allem frischen Fisch. Den Namen des Restaurants habe ich vergessen, aber es liegt am Ende der Hauptstraße, die durch diesen Ortsteil führt, etwas tiefer gelegen. Steintreppen führen von der Straße hinunter zu der großen Terrasse. Leicht zu finden, falls es noch existiert.“
Ein halbes Jahr später landeten wir mit der Fähre von Athen in Sifnos und spazierten direkt ins Tourist-Office. Wir hörten Artemonas und freuten uns. Ein junger Grieche, der lässig hinter der Theke stand und leidlich gutes Englisch sprach: „I can offer you the windmill in Artemonas. A lovely place, three miles from here. You can take a taxi“.
Zur Windmühle, auf einer Anhöhe, führte eine schmale, gepflasterte Treppe. Die Vermieter, ein mittelaltes Pärchen, erwarteten uns mit frischer Bettwäsche samt Handtüchern. Sie waren sichtlich erfreut, uns als Gäste zu beherbergen und gaben uns zu verstehen, dass sie die Windmühle vor kurzem erworben hatten und wir ihre ersten Gäste waren.
Alles neu renoviert. Unten eine große Essküche, daneben ein noch größerer Wohnraum. Von dort führte eine hölzerne Wendeltreppe in eine Schlafkoje mit angeschlossenem Bad und Duschkabine.
In der Nacht wachte ich auf, hörte den Wind um die Mühle tanzen und spürte dich ruhig atmen. Ich drehte mich auf die andere Seite und schlief wieder ein. Am Morgen schlich ich mich zur Dusche, kam zurück und setzte mich auf den Bettrand. Durch die Jalousien fielen Lichtstreifen auf dein Gesicht, Du öffnetest die Augen und ich dachte: An diesem Morgen bist Du besonders schön. „Anna, wir machen uns fertig und frühstücken in einem Café am Marktplatz. Dort finden wir auch einen Motorradverleih.“
Wir saßen im Freien, und das hübsche, dunkelhaarige Mädchen brachte uns schwarzen Kaffee, Obst, griechischen Joghurt, Toast, Butter, Käse und Marmelade. Der Motorradverleih hatte vor allem Mopeds im Angebot, aber auch zwei Geländemaschinen und drei Motorroller. Ich liebäugelte mit einer Geländemaschine. Anna bevorzugte den Motorroller. Wegen der Farbe. Rot. „Sie passt zu unseren Flitterwochen, mein Liebling.“
Wir packten unsere Badesachen und fuhren die schwarz glänzende Serpentinenstraße hinunter zum Strand. Als wir ankamen, kurz vor Mittag, hatte die Hitze ihren Höhepunkt erreicht, und der Schatten des einzigen Baumes war schon lange von einem anderen Pärchen okkupiert. Es scherte uns nicht. Wir rannten gleich in die Brandung und schwammen um die Wette hinaus ins Meer. Bevor wir umdrehten, haben wir auf der Stelle Wasser getreten, uns umschlungen, geküsst, sind untergetaucht, prustend wieder hochgeschossen und zurückgeschwommen.