„Ich habe getötet!“

„Ich habe getötet!“

Mike Muche


EUR 18,90
EUR 11,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 196
ISBN: 978-3-85251-417-8
Erscheinungsdatum: 14.10.2008
Die Nacht zum 01.03.2004 veränderte das Leben des Polizisten Mike Muche schlagartig. Ein Familienstreit entwickelt sich zu einer lang andauernden, dramatischen Notwehrsituation. Ein Mann stirbt; kein Unbekannter für Mike Muche; ein Mann, mit dessen Eltern und Bruder er befreundet war. Ein harter Kampf mit all seinen tiefsten Ängsten und seiner Hilflosigkeit beginnt ...

30.01.2009Die Angst im Kopf

Süddeutsche Zeitung

Mike Muche war ein Macho, ein bärenstarker Polizist – dann erschoss er im Dienst einen Menschen. Als der Notruf am 1. März 2004 gegen 23 Uhr bei der Polizei in Schweinfurt einging, deutete alles auf einen Routineeinsatz hin. Eine Frau fühlt sich bedroht von ihrem Partner, sie bittet um Hilfe. Wenig später traf der Streifenpolizist Mike Muche gemeinsam mit einem Kollegen an der Haustür in einem bürgerlichen Stadtteil in Schweinfurt ein. Eine Frau öffnete, sie schien sehr gelassen. In der Erinnerung von Mike Muche, 51, dauerte es von da an höchstens noch zwei Minuten. Danach hatte der Polizist den Bruder jenes Freundes erschossen, mit dem er zwei Monate zuvor gemeinsam Silvester gefeiert hatte. Fünf Schuss feuerte Muche ab, drei davon trafen den Mann in den Bauch.Zwar kann man Muche auch heute noch bei der Polizei antreffen. Das Areal der Bereitschaftspolizei in Nürnberg betritt er freilich nur, um sich dort mit ehemaligen Kollegen, denen es ähnlich ergangen ist wie ihm, über sein Trauma auszutauschen. Muche ist ein Bär von einem Mann, Polizist aber ist er nicht mehr. Wie bei Skispringern sei das, hatten ihm die Psychologen kurz nach dem Einsatz erzählt: Hat man einen schweren Sturz hinter sich, dann muss man so schnell wie möglich wieder von der Schanze springen. Muche fuhr also wieder Streife, kontrollierte Autos, schlichtete bei Ehestreit. Bis er beinahe noch einen Menschen erschossen hätte – diesmal nicht aus Notwehr, sondern aus Angst vor der Wiederkehr eines Traumas. Zwei Minuten bis zum TodIm Grunde, sagt Muche, sind es genau drei sich selbst eingestandene Worte, die sein Leben verändert haben: „Ich habe getötet.“ Muche galt als Macho, nicht nur in der Polizeiinspektion. Hätte man ihm vorab die Situation geschildert, mit der er sich in der Wohnung des Mehrfamilienhauses konfrontiert sah – Muche ist sich sicher, er hätte geantwortet: „Wenn mich einer mit seiner Knarre bedroht, dann blas´ ich den halt weg.“ Seit vier Jahren gilt Muche nun als kranker Mann. Er kann kaum mehr schlafen, erzählt er. Und wenn er doch einschläft, dann wacht er irgendwann auf – und glaubt in die Mündung eines Revolvers zu blicken. Was Muche in der Schweinfurter Wohnung erlebt hat, nennen amerikanische Polizeipsychologen „suicide by cop“. Die Staatsanwaltschaft hat die Ermittlungen gegen Muche eingestellt. Sie geht davon aus, dass der Mann, den Muche erschossen hat, in jener Nacht unbedingt sterben wollte, dies allerdings nicht von eigener Hand. Es scheint so, als habe der Mann einen Streit mit seiner Partnerin nur deswegen angezettelt, damit die Polizei kommen muss – und ihn in einer vermeintlichen Notwehrsituation tötet.Gustav Regener (Name geändert) war der zweite Mann bei dem Einsatz. Er ist mindestens zwei Köpfe kleiner als Muche. Das aber war nicht der Grund, warum Muche und nicht Regener als erster die Wohnung des Paars betrat. Muche und Regener wechselten sich konsequent ab bei ihren Einsätzen – einer machte die Schreibarbeit, der andere ging voran. Regener betrat die Wohnung erst, als er seinen Kollegen rufen hörte: „Vorsicht, der hat `ne Knarre.“ Kurz darauf kam der Mann mit der Knarre aus dem Wohnzimmer, blieb einen halben Meter vor Regener stehen und zückte die Waffe. Es fiel ein Schuss und Regener kippte nach hinten um. Als sich der Mann aus dem Wohnzimmer danach Muche zuwendete, feuerte Muche los. Die Kollegen teilten ihm später mit, dass der Mann, der nach drei Tagen seinen Verletzungen erlag, nur eine Schreckschusspistole in der Hand gehalten hatte. Drei Jahre später beschied ihm die zuständige Behörde, es bestehe deswegen kein Anspruch auf ein bestimmtes Ruhestandsgehalt – denn ein Kriterium, die „objektive Lebensgefahr“, sei bei dem Einsatz nicht erfüllt gewesen. Erst auf Intervention des damaligen Innenministers Günther Beckstein besann sich das Amt einer anderen Auslegung der Paragraphen. Der Bruder des FreundesMuche hat bei dem Einsatz den Bruder eines seiner besten Freunde erschossen. Aus purem Zufall hatte er ihn nie zuvor kennengelernt. Auch mit der Mutter der beiden Brüder pflegte der Polizist ein freundschaftliches Verhältnis. Aber erst drei Monate nach dem Vorfall hat es Muche übers Herz gebracht, sich mit dem Bruder des Getöteten zu treffen. Drei Stunden, erzählt Muche, habe man geredet und gemeinsam geweint. Zwar will die Familie des Getöteten nicht glauben, dass sich der Mann mit der Schreckschusspistole in dieser Nacht das Leben nehmen wollte. Aber Vorwürfe habe ihm sein ehemaliger Freund niemals gemacht. Im Frieden sei man auseinander gegangen. Auseinander? „Der Mann, den ich erschossen habe, war sein Bruder“, sagt Muche – eine Freundschaft könne man da nicht mehr leben.Gustav Regener, er ist wie Muche 51 Jahre alt, fährt weiter Streife. Er weiß seit der Nacht, was es heißt, für ein paar Augenblicke unter Todesangst zu leiden. Wenn Muche von Schweinfurt aus zur Selbsthilfegruppe der Polizisten nach Nürnberg fährt, dann begleitet ihn sein ehemaliger Kollege Regener dabei. Muche sagt, das vielleicht Schlimmste an seinem neuen Leben sei es, sich nur mit ganz wenigen Menschen wirklich darüber verständigen zu können, wie sich Todesangst anfühlt. Einen Menschen aber, der auch weiß, wie es sich anfühlt, den Bruder eines Freundes erschossen zu haben – so einen Menschen hat Muche bislang noch nicht getroffen.Zwei Wochen nach dem Einsatz ist Muche zum ersten Mal wieder Streife gefahren. Alles schien wie immer, erzählen seine Kollegen. Nur die Sprüche, mit denen der Große mit den blauen Augen sie wie immer unterhalten habe, seien noch härter gewesen. In Wahrheit hat er sich bei jedem Einsatz „vor Angst fast in die Hose gemacht“, sagt Muche. Monate hat es gedauert, bis er sich eingestehen konnte, dass er Hilfe braucht in einer Klinik. Dort haben ihm die Ärzte geraten, seine Geschichte aufzuschreiben, als Form der Therapie. Der novum Verlag hat die Geschichte jetzt unter dem Titel „Ich habe getötet“ als Buch veröffentlicht.

17.04.2009Buchtipp

Polizei

Der deutsche Polizist Mike Muche wird am 1. März 2004 zu einem Familienstreit gerufen. In Notwehr erschießt er einen jungen Mann, mit dessen Eltern und Bruder er noch Silvester gefeiert hat. Muche schildert in der Autobiografie sein Ausbrennen, die Therapie, bis hin zu Spitalsaufenthalten und Dauerkrankenstand.

24.03.2009Ich habe getötet

Südwest Presse, Schwäbische Post

Das beklemmende Bekenntnis eines Polizisten über das Leben mit einer übergroßen Schuld.Michael Muche musste in 30 Jahren als Polizist nie seine Waffe benutzen. Vor fünf Jahren bedrohte ihn ein Betrunkener mit einer Pistole. Der Beamte drückte ab – und kämpft seither um ein normales Leben.Er muss immer die Hände sehen. Muss sehen, dass sie nichts verbergen. Nur so kann er sicher sein, dass die Angst nicht zurückkommt. Die Angst vor dem Tod. Die Angst, wieder zu töten.Für Michael Muche ist diese Angst zu einer Bestie in seinem Kopf geworden. Er hat zwar gelernt, sie zu zähmen und sich mit ihr zu arrangieren. Vertreiben konnte er sie aber nicht. Die Bestie ist leicht reizbar. Deshalb muss Muche immer vorsichtig sein. Oft reicht eine Kleinigkeit, um sie aufzuscheuchen.Dann sieht er wieder die Mündung der Pistole. Groß wie ein Ofenrohr. Wie sie ihn in dieser dunklen, stickigen Dachgeschosswohnung zu verschlingen scheint. Er sieht Blut und Gewalt. Und er sieht Menschen ohne Hände.Muche, 51, ist ein Mann mit sanften, stahlblauen Augen, grauem Schnurrbart und schwarzer Kleidung. Er sitzt in einer Wohnung in der Nähe von Schweinfurt. Fliesen im Wohnzimmer, offene Küche. Dort erzählt er von seinem „Schicksal“, wie er die Nacht des 1. März 2004 nennt. Die Nacht, in der Mike Muche einen Menschen tötet. Die Nacht, die für den Polizeihauptwachtmeister alles ändert.„Es war ein kalter Montag Abend“, erinnert er sich. „Ich war mit meinem Lieblingspartner Gustav auf Streife.“ Gegen 23 Uhr meldet sich die Leitstelle über Funk: Hilferuf einer Frau. Häusliche Gewalt in der Friedhofstraße 21 in Schweinfurt. Hinterhaus. Dachgeschoss ohne Aufzug.Das Treppenhaus ist dunkel. Muche klopft an die Milchglasscheibe der Wohnungstür. Eine Blondine öffnet. Neben ihr steht ein Hund an der Leine. „Sie war nicht verletzt. Man sah keine Unordnung. Sie atmete auch nicht schwer“, schildert er die Szene. Er hat gedacht: „Hier sind wir schnell fertig. Die haben sich schon wieder beruhigt“.Die Frau sperrt den Hund ins Bad, dann treten die Beamten ein. Die Wohnung ist klein. Schummriges Licht. Irgendwie beklemmend. „Links war das Bad. Vor uns war ein Kaminabzug, etwa 80 mal 80 Zentimeter“, erzählt Muche. „Weiter hinten in dem Raum sahen wir einen massigen Mann am Boden sitzen. Im Schneidersitz. Er hatte einen Spitzbart, einen kahlen Schädel und kam mir groß vor wie ein Bär.“Der „Bär“ – so nennt Muche den Mann aus der Wohnung, wenn er über die Nacht spricht. Obwohl er den richtigen Namen des Mannes natürlich längst kennt. Der „Bär“ steht plötzlich auf und zieht eine Pistole unter seinem Bein hervor. Damit zielt er auf die beiden Polizisten. Die gehen hinter dem Kaminabzug in Deckung, zücken ihre Dienstwaffen vom Typ Heckler & Koch P7. „Knarre weg! Knarre weg!“, brüllen die Beamten. Der „Bär“ rührt sich nicht. Und Mike Muche, der immer geglaubt hatte, alles unter Kontrolle halten zu können, der dachte, dass ihn 30 Jahre Polizeierfahrung für alles wappnen würden, was das Leben bereithält – dieser Mann verspürt plötzlich irritierend fremde Gefühle. „Ich war panisch, völlig hilflos, wie gelähmt“, erinnert er sich. Dabei blicken seine blauen Augen tief in die Tasse mit dem pechschwarzen Kaffee, die vor ihm auf dem Tisch steht.Dann schaut Muche wieder auf und versucht zu beschreiben, was er nicht beschreiben kann: „Es war die pure Todesangst. Der Körper vibrierte, alles zitterte, meine Finger waren steif. Das kann man nicht in Worte fassen. Darauf kann man sich auch nicht vorbereiten.“Muche will nur noch raus. Weg von diesem furchtbaren Ort, der ihm seine Hilflosigkeit so brutal vor Augen führt. Er will gerade die Treppe runter laufen. Da fällt ihm ein: „Scheiße! Gustav ist noch drin.“ Muche rennt wieder in die Wohnung. Da fällt ein Schuss. Muche sieht Gustav hart auf den Boden fallen. Sein Kollege bewegt sich nicht mehr. „Scheiße! Scheiße!“ Der „Bär“ steht jetzt direkt vor ihm. Die Mündung gafft ihn an. Muche drückt ab. Fünfmal. Der massige Mann sackt in sich zusammen, fällt mit dem Rücken auf den Fußboden. Der „Bär“ stirbt drei Tage später an seinen Verletzungen. Gustav ist unverletzt. Er hat den Schuss in der Wohnung abgegeben – und fiel anschließend in eine Art Schockstarre.Noch am Tatort erfährt Muche von Kripo-Kollegen: Die Waffe des Toten ist nur eine Attrappe. Eine Schreckschusspistole vom Typen Umarex. Fragen rasen durch sein Gehirn: War die Todesangst umsonst? Hat er eine Wehrlosen erschossen? Die Staatsanwaltschaft Würzburg ermittelt gegen Muche wegen fahrlässiger Tötung. Das Verfahren wird am 14. Juli 2004 eingestellt. Die Behörde kommt zu dem Schluss, dass der Täter sterben wollte. „Suicide by Cop“ nennt das die US-Polizei, „provozierter Selbstmord durch einen Beamten“. Er hat seine Freundin gezwungen, die Polizei zu rufen, um sich dann erschießen zu lassen. Ein tragischer Unfall also.Muche ist offiziell für unschuldig befunden worden. Doch er vergibt sich nicht. Kann diese Nacht nicht vergessen. Er hat Anklage gegen sich selbst erhoben. Der Vorwurf lautet: „Ich habe getötet“.Ein Vorwurf, der erdrückend wird, als er erfährt: Der Tote ist der Sohn guter Bekannter aus Schweinfurt. Er hat einer Mutter den Sohn genommen. Diese Schuld, glaubt der Polizist, kann er nie wieder gutmachen. Die Kollegen raten ihm, gleich wieder auf Streife zu gehen. Zwei Wochen später ist er wieder auf der Straße. Doch es geht nicht mehr. „Da war nur noch Angst. Ich erkannte mich nicht wieder.“Auch viele Kollegen haben damit große Probleme. „Die haben gesagt: Das gibt’s doch nicht, dass der Mike das nicht schafft.“ Das Unverständnis hat Muche sehr geschmerzt. Für einen Polizisten gehört es sich nicht, Angst zu haben, Männer wie Mike Muche dürfen keine Schwäche zeigen – das ist ihre Botschaft.Muche kann in keinen Streifenwagen mehr steigen, keine Waffe mehr tragen. Er hat Panikattacken. Und er muss die Hände sehen. Immer die Hände. Einem Afghanen wird das beinahe zum Verhängnis. „Es war wieder ein Familienstreit“, erzählt Muche. „Der Mann hatte die Hände in den Taschen. Ich zog meine Pistole, brüllte ihn an. Er verstand nicht. Hätte er eine falsche Bewegung gemacht – ich hätte ihn erschossen. Einen Unschuldigen.“Da ist Muche klar: Es geht nicht mehr. Er braucht professionelle Hilfe. Monate hat er für dieses Eingeständnis gebraucht. Es war nicht einfach, mit den Reaktionen der Kollegen umzugehen, sagt er. „Manchmal hätte ich mir eine Narbe, eine für alle sichtbare Verletzung gewünscht. Ein Durchschuss an der Schulter. Da hätten alle Verständnis gezeigt.“ Seine Narbe aber sitzt so tief in seiner Seele, dass nur sehr wenige Menschen sie sehen können. Menschen wie Professor Wolfgang Sperling. Der Gutachter der Universitätsklinik Erlangen diagnostiziert eine posttraumatische Belastungsstörung. „Das ist eine Verletzung der Seele“, erklärt Muches Psychologe Christian Knorr. „Die schlimmste Verletzung, die eine Seele erleiden kann, ist die Bedrohung des Lebens. Ein so massives Trauma ist kaum zu verarbeiten. Es überfordert die Psyche.“ Jede starke Erinnerung an solche Ereignisse reißt seelische Wunden wieder auf. Nach drei Therapieaufenthalten in Kliniken ist Muche inzwischen frühpensioniert. Das Land Bayern hat ihn für dienstunfähig erklärt. Jetzt lebt er sein zweites Leben, wie er sagt. Sein erstes ging für ihn in jener Nacht im Dachgeschoss zu Ende. Bis dahin war Michael Muche ein Macho. Oder in seinen eigenen Worten „ein Chaot, ein Drecksvater, ein Scheiß-Ehemann“. Aber das sei vorbei. „Jetzt koche ich sogar“, sagt er. Und das erste Mal lächelt er.„Die Kollegen würden laut lachen“, sagt er. „Und ich selbst hätte sicher am lautesten gelacht. Kochen? Dafür gibt’s doch Frauen, wäre damals meine Antwort gewesen.“ Er versucht jetzt, seinem Leben Struktur zu geben. Mit schönen Sachen wie Sport, Sauna oder einfach einem Vormittag im Café.„Wenn ich das nicht schaffe, falle ich wieder in ein Loch“, sagt er. Das Loch ist die Depression. Der totale Rückzug. Die selbstverhängte Einzelhaft. „Das will ich nicht mehr.“ Er habe genug davon, sich zu verteidigen und zu rechtfertigen. Und er hat genug davon, sich zu verteidigen und zu rechtfertigen. Und er hat genug davon, immer auf die Hände zu sehen. Das ständige Prozessieren gegen sich selbst hat er satt. Vielleicht, weil er inzwischen weiß, dass die Anklage in sich zusammengebrochen ist.

30.08.2009Vom Leben nach dem Tod

Die Presse

Es ist finster, als die beiden Polizisten in den frühen Morgenstunden beim Supermarkt ankommen. Der Alarm war losgegangen, irgendjemand ist da drin. Wer ist es? Ist er bewaffnet? Die Polizisten betreten den Supermarkt. Wenig später ist ein 14-jähriger Jugendlicher tot.Was genau am 5. August in der Kremser Merkur-Filiale passiert ist, wird gerade untersucht, erst am Mittwoch wurde dreieinhalb Stunden lang der Hergang der Ereignisse rekonstruiert. Fest steht, dass sich wohl nicht nur für die Familie des toten Jugendlichen die Welt verändert hat. Was fühlt ein Polizist, der in Ausübung seines Berufs einen Menschen tötet? In Österreich ist darüber nicht viel zu erfahren. Es ist ein Thema, über das man nicht gerne spricht; betroffene Beamte stehen nach Auskunft des Innenministeriums nicht für ein Gespräch zur Verfügung.TabubrecherEiner, der das Tabuthema gebrochen hat, ist der 51-jährige Bayer Mike Muche. Es war der 1. März 2004, es hatte geschneit in Schweinfurt. Muche, erfahren, 30 Dienstjahre, versah mit einem Kollegen Streifendienst und wurde zu einem Familienstreit gerufen. Sie betraten eine Wohnung in einem Dachgeschoß, das Licht war diffus. In der Wohnung saß ein Mann im Schneidersitz am Boden, die Hände unter sich. Sekunden später sieht sich Muche einer Schusswaffe gegenüber, auf ihn gerichtet. Er schreit, bevor er in Deckung geht. „Vorsicht, der hat ne Knarre!“Im Büro hatten sie so eine Situation immer wieder durchgespielt. „Wenn mich einer mit einer Schusswaffe bedroht, baller ich ihn notfalls weg.“ Doch er kann seinen Finger am Abzug nicht bewegen. Er zittert, sein Puls rast, die Angst wird immer größer. Er flieht aus der Wohnung, kehrt aber wieder um. Als er zurückkommt, bedroht der Mann seinen Kollegen. Dann fällt ein Schuss, der Kollege fällt nach hinten, bleibt reglos liegen. Der Mann mit der Pistole wendet sich Muche zu. Er sieht nur noch die Mündung, größer, immer größer. „Irgendwann hatte ich keinen Handlungsspielraum mehr, da hab ich geschossen.“Einmal, zweimal. Es ist nicht wie im Krimi, erst nach dem dritten Schuss wankt der Mann. Insgesamt gibt Muche fünf Schüsse ab, der Mann stirbt nach einigen Tagen im Krankenhaus. Sein Kollege blieb unverletzt: Er hatte den ersten Schuss abgegeben, sich dabei nach hinten geworfen und war in einen Schockzustand gefallen.Wie sich herausstellt, war der Mann der Bruder eines Freundes. Und hatte offenbar Selbstmord begehen wollen, die Waffe war nicht echt. „Suicide by cop“ heißt die Methode. Damit ist auch für Muche sein bisheriges Leben zu Ende. Erst versucht er noch, weiter Dienst zu machen, doch die Angst ist immer da. Die Ereignisse drehen sich in einer Endlosschleife in seinem Kopf, schlafen kann er nicht mehr. Früher war er eine „harte Sau“, doch jetzt befällt ihn Panik, er hat Flashbacks, immer muss er von allen die Hände sehen, einmal hätte er beinahe einen Unschuldigen erschossen. Er weiß, er trägt keine Schuld, und fällt doch in ein Loch.„Der schwerste Schritt war, mir einzugestehen, dass ich Hilfe brauche“, sagt er. Dreimal war er seither in einer psychosomatischen Klinik, er ist dienstunfähig und im Vorruhestand und kämpft tagtäglich um sein inneres Gleichgewicht. „Ich versuche, mein Leben so in den Griff zu kriegen, dass ich zufrieden sein kann. Glück gibt es für mich nicht mehr.“ Den Eltern des Toten hat er einen Brief geschrieben, sie wollen keinen Kontakt, die Mutter wirft ihm noch heute hasserfüllte Blicke zu.(...)Er hat in der Therapie begonnen, seine Geschichte aufzuschreiben. Daraus ist ein Buch entstanden, vor allem Polizisten interessieren sich dafür. „Weil in der Polizei niemand über dieses Thema offen spricht.“ Er ist in einer Selbsthilfegruppe, auch andere Polizisten geht das Erlebte nicht mehr aus dem Kopf. Wie es jenen Beamten im Kremser Supermarkt gegangen sein mag, kann er sich nur vorstellen: „Jedenfalls anders als den Gutachtern hinterher.“

08.02.2009Ein Leben mit der Schuld

ZDF - Mona Lisa

Nur ein winziger Moment kann es sein, der das ganze Leben verändert. Plötzlich ist nichts mehr, wie es war. Wie ist es für einen Polizisten, im Dienst den Bruder eines Freundes zu erschießen. Wie wandelt sich das Leben einer Mutter, wenn sich das eigene Kind das Leben nimmt? Fragen wie diesen ist ML Mona Lisa nachgegangen.Eigentlich war Mike Muche ein starker Typ, einer, der nichts an sich ran ließ. Bis zum 1. März 2004. An diesem Abend wurde er mit einem Kollegen zu einem Einsatz gerufen. Familienstreit. Routinesache. Doch in der Wohnung wurden sie von einem Mann mit einer Waffe bedroht.In extremer Todesangst„Der Mann saß wortlos am Boden. Nur mit seinem gestreckten Arm, ohne was zu sagen, hält er diese Waffe entgegen und dann schreist du als Polizist, Knarre weg, Knarre weg und hoffst insgeheim, der wird gleich aufhören, der wird doch sein Ding weglegen“, erzählt Muche.Er tat es nicht. Es fiel ein Schuss – und Mikes Kollege ging zu Boden. Der Mann zielte jetzt auf Muche. Er erinnert sich: „Ich habe nichts mehr gesehen, ich habe kein Gesicht mehr gesehen, keine Wohnung, hab nur noch eine Mündung gesehen. Und dann kommt diese extreme Todesangst, die man in Worten nicht erklären kann.“ In Panik drückte Muche ab, feuerte auf den Mann, fünf Mal.Schreiben als TherapieDer Mann starb. Es stellte sich heraus: Er war der Bruder eines seiner engsten Freunde. Eine fast unerträgliche Belastung für Mike Muche: „Dann sitzt du da und sagst, so jetzt hast du einen erschossen. Wie fühlt man sich da? Das ist genau diese Situation, die sich kein Polizist wünscht, dass du sagst, jetzt bist du in der Lage gewesen und musstest um dein Leben kämpfen und hast ein anderes Leben ausgelöscht.“„Ich habe getötet.“ Wie eine Anklage lautet der Titel seines Buches, in dem Muche versucht, zu verarbeiten: Schuldgefühle, die Verzweiflung und das Trauma des Tötens. Es ist ein mutiger Schritt, das bestätigen ihm die vielen Emails im Gästebuch seiner Homepage. Das Schreiben war eine Form der Therapie, zu der ihm auch Ärzte geraten haben. Aber, sagt er, er sei seitdem ein kranker Mann.Das Leben danachNichts sei mehr so, wie es einmal war: „Ich kann meiner Psyche versuchen zu sagen, so heut nacht schläfst du mal durch, träumst nicht von Mündungen oder von leeren Händen oder von irgendwelchen Gewaltträumen. Und wenn du aufwachst, schläfst du gleich wieder ein, das kann ich mir vornehmen, aber das klappt halt nicht.“Posttraumatische Belastungsstörung lautet die Diagnose seiner Ärzte. Nach 33 Dienstjahren wurde Muche frühpensioniert. Die Ermittlungen ergaben, dass ihn keine Schuld trifft, der Mann war psychisch krank gewesen. Und dennoch ist Muche bis heute in therapeutischer Behandlung. Sein Therapeut Christian Knorr erklärt, Muche habe genau so gehandelt, wie er es in seinem Dienst tun musste. Jeder andere vernünftige Mensch, so Knorr, hätte dies auch getan: „Und in der Therapie jetzt muss ich diese Schuld bewusst machen und dann relativieren. Und dann kann sie auch wieder verschwinden.“ Für Mike Muche sind sie noch nicht verschwunden, aber verblasst.Mike Muche bezeichnet sich als der Mann mit den zwei Leben, der jetzt versucht, einen Weg zu finden, der ihn nicht selbst kaputt macht. Und dazu gehört für ihn auch, Abschied von früher zu nehmen. Und er zeigt im Keller auf eine Kiste mit seiner alten Polizeiuniform: „Da ist meine Vergangenheit begraben.“

20.11.2008„Ich habe einen Menschen erschossen!“

Nürnberger Abendzeitung

In einem bewegenden Buch verarbeitet Ex-Polizist Michael Muche (51) aus Schweinfurt den schwersten Tag in seinem Leben.Kalt lässt dieser Buchtitel nicht: „Ich habe getötet“, drei Wörter, die vom Leben erzählen. Vom Leben, dessen, der getötet hat. Und auch vom ende dieses Lebens. Geschrieben hat es Michael „Mike“ Muche (51). Bis zum 1. März 2004 war er Polizist. An dem Tag erschoss er bei einem Routine-Einsatz in Schweinfurt einen Menschen. Der Notwehr-Akt teilt sein Leben in ein Vorher und Nachher.„Es war nicht als Buch gedacht, ich hab’s auf Anraten der Ärzte und der Polizei-Sozialtante getan.“ Wer Muche so lax reden hört, wer sein verschmitztes Gesicht sieht, der käme nicht darauf, dass er seit 2004 ein kranker Mensch ist. „In meinem Kopf stimmt nichts mehr, der Körper reagiert“, erzählt er von seinem Gehörsturz, dem Bluthochdruck, den Geschwüren in der Speiseröhre.Der Bruch in seinem Leben begann mit einem Routine-Einsatz: Familienstreit in Schweinfurt. Er als „alter Sack“ kennt diese Einsätze, hat schon mal einen zum Aufgeben bequatscht, der ihn mit dem Messer bedrohte – und hat danach mit ihm eine geraucht.So dramatisch schaut’s in dieser Nacht nicht aus. Die Frau lässt ihn und den Kollegen in die Wohnung, es ist ruhig – bis Muche einen Mann im Wohnzimmer entdeckt. Er hat eine Waffe in der Hand und zielt auf ihn ...Es war der Bruder eines FreundesMuche lässt den Leser an jedem seiner Gedanken teilhaben. Authentisch. Kein Lektor hat begradigt, vielleicht ist das auch gut so: Deckung! „Wohin mit meinem großen Körper?“ Die Todesangst. „Warum habe ich gerade heute meine Schutzweste nicht an? Du faules Schwein, das hast du nun davon.“ „Ich habe noch niemals auf einen Menschen geschossen. Und ich will das auch nicht. Kann das nicht. Wird der Einschlag sehr wehtun? Oder bin ich gleich tot? Warum gehorcht mir mein Zeigefinger nicht? Schieß doch endlich, bevor er es tut! Es hat sich alles reduziert auf mich und diese übergroße Mündung. Der Beginn eines traurigen, verzweifelten Zwiegespräches.“Das Zwiegespräch endet mit einem Schuss aus Notwehr. Später erfährt Muche, dass er den Bruder eines Freundes getötet hat, der auf ihn mit einer täuschend echten Schreckschusspistole gezielt hat. „Es dauerte drei Monate, bis ich mit ihm sprechen konnte. Wir haben zusammen geweint.“Nach 14 Tagen traute sich Muche wieder in den Streifenwagen. Doch der Polizist, früher Typ Schimanski, schlotterte innerlich vor Angst. „Das war das Schlimmste: Sich nach 30 Jahren Dienst einzugestehen, dass ich nicht mehr kann. Dass sich mein Partner nicht mehr auf mich verlassen kann, weil man solche Angst hat.“Die Angst, noch einmal in Todesangst zu geraten, ist so groß, dass sie ihn arbeitsunfähig macht, dass er Aufenthalte in psychosomatischen Kliniken wahrnimmt. „Es war hart, das zu akzeptieren.“ Auch, den Satz zu sagen: „Ich habe getötet“, ein Satz wie festgemeißelt, der keinen Raum für Ausflüchte lässt.All das schrieb sich Muche von der Seele und verlegte es in Eigenregie. Das Leben des Hausmannes („bin ich gerne“) ist seitdem nicht mehr ruhig: Kollegen, die es lasen, rufen an und gratulieren. „Das hilft mir sehr“, erzählt er. Er weiß auch, dass er nicht allein ist.Diese Mail erreichte ihn auf seiner Homepage: „Hallo Mike, Ich habe heute nach dem Nachtdienst dein Buch vom Buchhändler erhalten. Wollte nur schnell reinschauen. Bin mit Lesen soeben fertig geworden – mit den Tränen auch. Das liegt wohl daran, dass ich teilweise mein eigenes Erlebnis gelesen habe. Ich habe auch getötet!“

06.02.2009„Ich habe getötet“ - Bekenntnis eines Polizisten

Spiegel online

30 Jahre lang musste Polizist Michael Muche nicht auf einen Menschen schießen. Doch dann bedroht ihn eines Nachts ein Betrunkener mit einer Pistole - und Muche drückt ab. Als der Mann stirbt, stellt sich heraus: Er war der Bruder eines Freundes. Eine Geschichte über Schuld, Verzweiflung und das Trauma des Tötens.Schweinfurt - "Der Vorfall", wie Michael Muche die Nacht nennt, in der er einen Menschen tötete, begann mit heiseren Worten am Telefon. 110. Polizeinotruf. "Ja, hallo", flehte eine junge Frau, "mein Freund tickert aus. Ich bräucht Hilfe." Sie nannte ihren Namen, eine Adresse im Schweinfurter Norden, dann legte sie auf. Das Gespräch hatte auf die Sekunde genau eine Minute gedauert. Es war der 1. März 2004. Die Uhr in der Leitstelle zeigte 22.54 Uhr.Im Streifenwagen der Polizeihauptmeister Michael "Mike" Muche und Gustav G.* knackte das Funkgerät: Einsatz. Häusliche Gewalt in der Friedhofstraße. Mit Blaulicht glitten die Beamten durch die einsamen Straßen der Kleinstadt. Montagabend, es schneite in dicken Flocken. Wir kriegen das in den Griff, dachten die beiden. Passt schon. "Ich mach den Schreibkram", sagte Mike.Jahre später schreibt der Polizist Muche tatsächlich, monatelang hackt er auf seinen Laptop ein. Doch es entsteht kein Protokoll, wie er vor dem verhängnisvollen Einsatz im März 2004 noch gedacht hat, sondern ein schonungsloses, bewegendes, 196-seitiges Taschenbuch im Selbstverlag, auf dessen Titel eine Pistole prangt und der Schriftzug: "Ich habe getötet."Der heute 51-jährige Muche gehört zu den wenigen Polizisten, die den Mut und die Kraft gefunden haben, sich öffentlich zu bekennen: Ja, ich habe einen Menschen erschossen. Ich habe das ultimative Tabu unserer Gemeinschaft gebrochen, weil ich nicht anders konnte, weil ich musste, weil "der andere" mich dazu gezwungen hat. Und fast wäre ich daran zerbrochen."Polizei. Machen Sie bitte auf!"Die Friedhofstraße Nummer 21 ist ein Altbau in einer ruhigen Gegend - oft hatten Muche und seine Kollegen hier nicht zu tun. Doch in dieser kalten Märznacht mussten die Polizisten Treppen fressen, fünf, sechs, sieben, bis ganz nach oben in die Dachgeschosswohnung. Warum wohnen "diese Leute nie im Erdgeschoss? Immer dasselbe", schimpfte Muche. Keine Klingel, das Haus ist dunkel und totenstill. Sie klopften. Eine Stimme wisperte: "Wer ist denn da?" - "Polizei. Machen Sie bitte auf!"Langsam, wie Muche sich zu erinnern meint, schwang die Tür auf. Eine blasse, junge Frau stand ihnen gegenüber, ein Golden Retriever an ihrer Seite, die Wohnung lag in schummrigem Licht. "Moment, ich sperr den Hund ins Bad." Im Wohnzimmer hockte ein massiger Mann im Schneidersitz auf dem Fußboden, Ziegenbart, kahler Schädel. "Was war denn los?", fragten die Uniformierten.Keine Antwort.Unvermittelt zog Jörg S.*, 35, stattdessen eine Pistole unter seinem Bein hervor und richtete sie auf die Polizisten. Silbern, glänzend, riesengroß war die Waffe, ihre Mündung schien alles zu verschlingen. Der Tod in Händen eines Betrunkenen. "Ach, du Scheiße", dachte Muche. Jetzt ging alles ganz schnell, eine Minute noch, vielleicht anderthalb."Knarre weg!"Die Beamten rissen ihre Dienstwaffen vom Typ Heckler & Koch P7 aus den Holstern und sprangen in Deckung. "Knarre weg! Knarre weg", brüllte Muche den Mann an. Keine Reaktion. Jörg S. stand auf und ging langsam auf die beiden zu, die Pistole im Anschlag. "Knarre weg!" S. zeigte keine Regung. Er zielte.Muche hastete aus der Wohnung, Panik, Todesangst, Hirnkrampf - und rannte sofort wieder zurück. "Gustav ist noch drin." Ein Schuss peitschte durch den Raum, "laut wie ein Donnerschlag", Muches Partner schlug zu Boden. "Scheiße, scheiße, scheiße!" Mike drückte ab, fünfmal, und schließlich, ganz langsam, die Pistole noch immer auf den Polizisten gerichtet, sackte Jörg S. zusammen. Es war vorbei.Michael Muche ist ein mittelgroßer, mittelschwerer Mann mit grauem Schnurrbart und grauen Haaren. Er trägt eine schwarze Hose, einen schwarzen Pullover, schwarze Lederstiefel, "alles muss schwarz sein", und starrt in seinen Kaffee mit Milch und viel Zucker. Äußerlich ungerührt erzählt er seine Geschichte, doch die stahlblauen Augen füllen sich langsam mit Tränen.Seit vier Jahren schläft Michael Muche nicht mehr richtig, und wenn doch, träumt er von Menschen ohne Hände, von Gewalt, Kampf und der Mündung einer Pistole. Er, der Sunnyboy, der Macher, der das Leben im Griff zu haben glaubte, keine Angst kannte und Probleme, die er nicht lösen konnte, "einfach abhakte", wie er sagt, ist inzwischen ein kranker Mann: Posttraumatische Belastungsstörung lautet die Diagnose. Der Freistaat hat Polizeihauptmeister Michael Muche nach 33 Dienstjahren deshalb frühpensioniert.Der Bruder eines FreundesWenige Tage nach "dem Vorfall" musste Muche von seinem Vorgesetzten erfahren, dass er den Bruder eines Freundes erschossen hatte. Er war ihm nie zuvor begegnet. Schlimmer noch: Es stellte sich heraus, dass Jörg S. nur eine Schreckschusswaffe auf die Polizisten gerichtet hatte. Den Schuss, den Muche hörte, gab sein Kollege G. ab - und fiel danach in eine Art Schockstarre.Staatsanwaltschaft und Landeskriminalamt kamen in ihren Ermittlungen gleichwohl dem Ergebnis, dass Jörg S. sterben wollte und den tödlichen Zwischenfall deshalb provoziert hatte. Der 35-Jährige, der zum Zeitpunkt des Unglücks stark angetrunken war, zwang demnach seine Freundin, die Polizei zu rufen, um in einer vermeintlichen Notwehrsituation erschossen zu werden. "Suicide by cop" nennen das US-Polizeipsychologen.Er habe sich vor dem Unglück gedanklich oft mit der Frage beschäftigt, "was tue ich, wenn mich einer mit einer Pistole bedroht?", sagt Muche. "Jeder Polizist tut das." Und er sei sich immer sicher gewesen: "Dann blase ich den halt weg." Doch so einfach war das nicht.Eine idiotische IdeeDer Polizeiarzt riet Muche, möglichst schnell in einen Streifenwagen zu steigen. "Wie beim Reiten. Wer vom Pferd gefallen ist, muss sofort wieder aufsteigen." Eine idiotische Idee.Zwei Wochen nach den tödlichen Schüssen war Muche zurück auf der Straße, Polizeiinspektion Schweinfurt-Stadt, Dienstgruppe B - alles wie früher, nur die Panikattacken waren neu. Muche wollte sie niederringen wie sonst die Betrunkenen, die Randalierer und Schläger. Es ging nicht.Die Beamten wurden zu einem Familienstreit gerufen, Muche war wieder der erste an der Tür, kalte Angst im Nacken und einen unerfahrenen Kollegen an der Seite. Er zog die Waffe, zitterte und brüllte sein Gegenüber an: "Nimm die Hände aus den Taschen!" Doch der Afghane verstand ihn nicht. "Wenn er in diesem Moment eine hastige Bewegung gemacht hätte, hätte ich ihn erschossen. Einen Unschuldigen", sagt Muche. "Da war mir klar: Ich kann nicht mehr."Der Freund und Helfer, der Problemlöser, Macho und Frauenheld brauchte nun professionelle Hilfe. Denn die gesellschaftlichen Normen, nach denen unsere Psyche arbeitet, kennen keine Notwehr, keine mildernden Umstände, sie sagen bloß: Du sollst nicht töten. Punkt, aus, basta. Mancher entkommt den Schuldgefühlen nicht, auch wenn er keine Schuld hat.Klein Glück, nirgendsMuche machte Therapien, besuchte Psychologen, sprach in Gruppen oder alleine über sein Trauma. Auch davon handelt das aufwühlende Buch. Der fast 50-Jährige räumte sein Leben auf, er versuchte, private Fehler wiedergutzumachen, sich zu versöhnen und auszusprechen. Nicht zuletzt mit den Angehörigen von Jörg S.Stundenlang redete und weinte er mit dem Bruder des Getöteten. "Er hat mir nie Vorwürfe gemacht", sagt Muche, und ab und an sähen sie sich auch noch. "Aber die Freundschaft hat sich erledigt. Das geht nicht mehr." S. Mutter, der er einen langen Brief geschrieben habe, könne ihm wohl nicht verzeihen. "Ich muss das akzeptieren", so Muche.Glück, so meint der Mann, der getötet hat, werde er in seinem Leben ohnehin nicht mehr empfinden. Allenfalls Zufriedenheit. "Und das wäre schon viel."

15.01.2009Leben mit der Schuld

Stern

Es ist ein Routineeinsatz, den Mike Muche mit seinem Kollegen am Abend des 1. März 2004 fährt: Familienstreit, die Frau öffnet, das ist oft so. Doch dann sitzt dieser tätowierte Kerl vor ihnen und richtet eine Pistole auf die Polizisten. Waffe fallen lassen!, rufen sie, keine Reaktion, ein Schuss fällt, Muches Kollege kippt um. Fünfmal feuert Muche daraufhin, der Tätowierte stirbt zwei Tage später im Krankenhaus. Da hat sich längst herausgestellt, dass er nur eine Schreckschusspistole hatte, der erste Schuss von Muches Kollegen abgefeuert wurde, der lediglich im Schock umfiel – und dass der Getötete der Bruder eines guten Freundes von Muche war.Nach zwei Wochen ist Muche wieder im Dienst. „Wie beim Sturz vom Pferd: Man soll gleich wieder rauf“, hat ihm sein Arzt geraten. Wenn Muche in den Streifenwagen steigt, schüttelt ihn panische Angst. Im ersten Nachtdienst soll er sofort wieder zu einem Familienstreit – unmöglich. Steckt jemand die Hände in die Hosentasche, muss sich Muche zwingen, nicht in Panik die Waffe zu ziehen. Das ist die Angst.Und die Schuld? Die Ermittlungen gegen Muche werden eingestellt. Der Erschossene war psychisch krank, er wollte die Polizisten zum Schuss provozieren, eine Art Selbstmord, „suicide by cop“, es gibt einen Fachbegriff dafür. „Gut, ich wusste das“, sagt Muche, 51, heute, „ich wusste, dass mich keine Schuld trifft.“ Allein: Es half nichts.Die gesellschaftlichen Normen sagen: Du sollst nicht töten. Und die Psyche fragt oft nicht nach Kriterien wie Notwehr oder mildernde Umstände. „Es kann sogar ausreichen, dass man nur irgendwie an einer Kette von Ereignissen beteiligt war, die zum Unglück führten“, sagt Echterhoff. Die meisten Lokführer leiden unter Schuldgefühlen, wenn ein Selbstmörder vor ihren Zug springt, obwohl sie keine Chance zu bremsen haben. Echterhoff leitet ein bundesweites Netzwerk zur Soforthilfe für Unfallbeteiligte. Speziell ausgebildete psychologische Traumatherapeuten sorgen direkt nach dem Unglück für Abschirmung, beantworten die ersten drängenden Fragen. Sie führen die Erschütterten später in geschützten Therapieräumen wieder an die alltäglichen Selbstverständlichkeiten heran, die für sie zum Horror geworden sind.Der Polizist Muche suchte nach einer Traumatherapie den Weg nach außen – er schrieb ein Buch über seine Erfahrungen, er tippte schnell, aber seine Finger kamen nicht hinterher, so viel wollte gesagt sein. Er nannte es: „Ich habe getötet“. Er sagt: „Das musste alles raus.“

11.09.2009Wenn Polizisten im Dienst töten

ARD Brisant

30 Jahre lang war Mike Muche Polizist. Bis ein Einsatz sein ganzes Leben veränderte. Vor fünf Jahren erschoss Muche im Dienst einen Mann. Seine Schuldgefühle verarbeitet er in einem Buch.Diesen Einsatz vor fünf Jahren wird Mike Muche nie vergessen: Gegen 23:00 Uhr schickt die Polizeizentrale ihn und seinen Kollegen zu einem Nachbarschaftsstreit – ein Routineeinsatz. In der Wohnung befinden sich ein Mann und eine Frau, doch von einem Streit ist nichts zu sehen.Als der Polizist fragt, was denn los ist, holt der Mann wortlos eine Schusswaffe unter seinem Oberschenkel hervor und zielt auf die beiden Beamten.Plötzlich fällt ein Schuss ...Eine gefühlte Ewigkeit blicken der Polizei-Hauptmeister und sein Kollege in die Mündung der Waffe. Dann fällt ein Schuss. Der Kollege stürzt zu Boden. Daraufhin schießt auch Mike Muche – mehrmals. Was er in diesem Moment fühlt, hat er in einem Buch festgehalten.„Beim dritten Schuss sehe ich den Riesen wanken. Warum senkt er seinen Arm nicht? Ich hab doch getroffen, er muss fallen – er muss! Ich will nicht sterben! Vierter Schuss, er fällt nicht. Zielt weiter mit seinen wahnsinnigen Augen auf mich. Fünfter Schuss – jetzt fällt er zu Boden: langsam, ganz langsam.“Erst später stellt sich heraus, dass der erste Schuss aus der Waffe des anderen Polizisten kam. Er hatte daneben geschossen ist unter Schock zu Boden gefallen. Der Mann, den Mike Muche erschossen hat, hatte lediglich eine Schreckschusspistole. Hinzu kam, dass sein Opfer kein Unbekannter ist. Mike Muche kennt die Eltern, hatte mit ihnen Silvester gefeiert.Lähmende SchuldgefühleHeute ist Mike Muche frühpensioniert. Sein Leben ist geprägt von Angst und Alpträumen. Nach 30 Jahren im Polizeidienst muss Muche erkennen, dass er diesen Beruf für immer an den Nagel hängen muss. Noch einmal versucht er, sich in einem Streifenwagen zu setzen und Dienst zu tun – in Panik verlässt er die Streife.Seit dreieinhalb Jahren ist Mike Muche bei einem Therapeuten in Behandlung. Langsam lernt er mit den immer wieder kehrenden Angstgefühlen umzugehen. Mike Muche leidet an der sogenannten posttraumatischen Belastungsstörung. Niemals hätte er geglaubt, dass ihn ein solches Ereignis einmal so aus der Bahn werfen würde.Christian Knorr ist Facharzt für psychosomatische Medizin. Er sieht die Entwicklung bei Mike Muche immerhin positiv. Sein Patient hat immer hin wieder Lebensfreude, hat sich nicht total zurückgezogen oder ist in eine Sucht abgeglitten. Allerdings, schränkt Knorr ein, wird er nie wieder im Polizeidienst arbeiten können.

0Ein Mann mit zwei Leben

Mainpost

Bei einem Polizeieinsatz in Schweinfurt im März 2004 tötet Mike Muche in Notwehr einen Menschen. Er selbst stirbt auch. Über sein Trauma hat er ein Buch geschrieben.Es ist Montagabend. Nachtschicht. Wird wahrscheinlich ein ruhiger Abend. Die Rumtreiber sind noch erschöpft vom Wochenende, schonen ihre Geldbeutel und ihre Leber. Diese Nacht werden wir keinen Stress haben. Aber wir werden auf grausame Art vom Gegenteil überzeugt. Diese Nacht wird es uns zeigen. Nicht jeder Montag ist ruhig. Es reicht einer, um dein Leben zu ändern.Für Mike Muche ist dieser alles verändernde Montag der 30. März 2004. Und es sind diese Worte, mit denen er beginnt, die für ihn verhängnisvolle Nacht im Dienst der Schweinfurter Polizei niederzuschreiben. Eine Nacht, die er bis heute Tausend Mal durchlebt hat und die immer noch andauert. Die ihn in ein tiefes schwarzes Loch gesogen hat, in einer Weise, die er sich in seinen schlimmsten Träumen nicht hätte vorstellen können. Schlimme Träume hat er seither meist mehrmals pro Woche, Gewaltträume. Von bedrohlichen Waffenmündungen. Von Menschen ohne Händen. Von Kugeleinschlägen in seinem Körper. „Ich habe seit dem Tag keine Nacht mehr durchgeschlafen, sagt der 51-Jährige an diesem verregneten Dezembermorgen in einem Würzburger Café. Wieder ein grauer, kalter Montag. Mehr als viereinhalb Jahre später. „Aber man gewöhnt sich daran. Ich bin froh, dass ich die Albträume habe – denn wenn ich nicht froh wäre, hätte ich sie auch.“ Mike Muche ist ein stattlicher Mann. Lässige, schwarze Kleidung, Schnauzer, glitzernder Stecker im linken Ohr. Eine Mischung aus Horst Schimanski und Armin Mueller-Stahl, so und so. Äußerlich haben die zermürbenden Nächte Mike Muche nicht gezeichnet. Die Schlaflosigkeit hat weder schwarze Ringe unter seinen wachen blauen Augen gemalt noch tiefe Furchen in sein solariumgebräuntes Gesicht gegraben. Dass es in ihm anders aussieht, das verraten jedoch allein seine Träume. Sie sind Teil des Traumas, mit dem er seit mehr als viereinhalb Jahren lebt, leben muss. In einem Buch, das am 14. Oktober erschienen ist, hat er versucht, es zu verarbeiten. Es trägt den Titel: „Ich habe getötet. Chronik eines Polizistenlebens.“Telefonische Mitteilung über einen Familienstreit in der Innenstadt. Wohnung ganz oben. Ich klopfe mehrmals. Kein Geschrei – keine laute Musik oder lauter Fernseher. Trügerische Stille. Dann von innen eine leise Frauenstimme: „Wer ist denn da?“ Wer soll wohl da sein kurz vor 23 Uhr? Der Briefträger? Milchmann? Der Drücker der Zeitungskolonne? Die Frau, die öffnet, ist noch jung. Sie ist äußerlich unverletzt, extrem ruhig und gefasst. Völlig untypisch für einen Familienstreit. Ganz hinten im Wohnzimmerbereich erkenne ich einen Mann am Boden sitzen. Fast eine Glatze. Spitzbart. Riesenschädel. Meine fast schon gelangweilte Frage „Was war denn los?“ ist noch nicht ganz im Raum verklungen, als die sitzende Gestalt plötzlich ohne Vorwarnung seinen rechten Arm hebt und ich mit Entsetzen in die große, runde Öffnung einer Schusswaffe blicke. Das silberne, glitzernde Teil hat für mich die Ausmaße einer mittelalterlichen, riesigen Kanone. Groß – glänzend – bedrohlich – tödlich ...In diese Mündung hat Mike Muche Tausend Mal geblickt. Sie ist der Eingang zu seinem schwarzen Loch, sie hat ihn aufgesaugt. „Ich kann nicht mit Worten ausdrücken, wie sich Todesangst anfühlt“, sagt er heute. „Ebenso wenig, wie man Angst trainieren kann.“ Auch nicht in 30 Jahren Polizeidienst. „Selbstverständlich werden unsere Beamten in der Aus- und Fortbildung auf Extremsituationen vorbereitet“, sagt Manuel Rösch, Pressesprecher des Polizeipräsidiums Unterfranken. Etwa in speziellen Einsatztrainings im Verband der Bayerischen Bereitschaftspolizei. Dort würden jährlich, in der Regel in vier Modulen, unterschiedliche aktuelle Themen praktisch trainiert sowie rechtlich und psychologisch besprochen. Vor allem muss ein Polizist wissen, wie er mit seiner Schusswaffe umgehen und in welcher Situation er überhaupt von ihr Gebrauch machen darf. Anlassbezogen, so Rösch, führe das Polizeipräsidium Unterfranken zudem Workshops durch, die Beamte gezielt auf belastende Situationen vorbereiten. Dennoch gelte: „Ein Schusswaffengebrauch gegen eine Person ist immer eine psychologische Ausnahmesituation.“ Röschs Kollege Karl-Heinz Schmitt ergänzt: „Kein Polizist schießt gerne. Die meisten kommen während ihrer gesamten Berufszeit um Einsätze herum, bei denen das nötig ist.“ Nicht so Mike Muche. Wohin mit meinem großen Körper? Weg aus der Schusslinie! Der Kaminismus! Warum habe ich gerade heute meine Schutzweste nicht an? Du faules Schwein. Ich stehe zitternd hinter dem kalten Beton des Kamins. An meiner Seite der Kollege, dessen spürbare Angst mich anspringt. Ich habe noch niemals auf einen Menschen geschossen. Und ich will das auch nicht. Kann das nicht. „Knarre weg!! Knarre weg!!“ Mein Schrei – mein Befehl – mein Flehen – meine Hoffnung ... Keine Reaktion. Dieser Sack sagt nicht mal einen Ton. Glotzt nur mit stumpfem, starrem Blick. Und die Mündung wird immer größer. Warum gehorcht mir mein Zeigefinger nicht? Deine Hand zittert ohne Ende. Dein Arm – dein ganzer Körper. Rede es dir nur ein, du feige Sau! Du hast Angst, auf einen Menschen zu schießen!! Er steht auf. Mit gestrecktem Arm kommt er auf mich zu. Ein Riese – ein bewaffneter Goliath mit wahnsinnigen Augen. Die Waffe genau auf meinen Kopf gerichtet ... Ich bin plötzlich ganz alleine in dieser düsteren Wohnung. Es hat sich alles reduziert auf mich und diese übergroße Mündung.Mike Muche legt seine Hände auf den Cafétisch. Ein massiver Silberring am rechten Ringfinger, ein dazu passender Armreif am linken Handgelenk. Gepflegte Hände, gebräunte Hände, ohne gelbe Flecken von den 50 Zigaretten, die er täglich raucht. Er öffnet sie, als wolle er zeigen, dass er nichts darin versteckt hält. Dann erklärt er: „Bis heute muss ich bei anderen Menschen sehen, dass sie leere Hände haben. Auch wenn ich nur über den Weihnachtsmarkt schlendere und mein Blick jemandem in der Masse begegnet, der seine Hände in den Jackentaschen vergräbt, wird mir immer noch unwohl.“ Tausend Mal haben verborgene Hände in Mike Muche Panik ausgelöst.Ich muss weg hier. Sofort. Renne ... durch die gefährliche Schusslinie. Die kurze Strecke bis zur Tür fliege ich fast. Ich bin draußen – geschafft. Der erste gesteuerte Gedanke nach der Flucht: Mein Zwergenkollege! An der Wohnungstüre sehe ich den Riesen vor meinem kleinen Gustav stehen. Ich renne auf beide zu. Bevor ich angekommen bin, tritt der Bewaffnete plötzlich zurück, hebt erneut und blitzschnell seinen Arm. Die Waffe ist auf Gustav gerichtet. Aus zirka einem Meter. Ein Schuss!!! Mein Gustav fällt nach hinten auf den Rücken. Der Arm schwenkt nun wieder in meine Richtung ... Todesangst!!! Jetzt werde ich hingerichtet! Die Mündung hat eine unvorstellbare Größe erreicht. Sehe nur noch dieses fürchterliche Loch. Sterben oder Leben ... Leben oder Sterben ... Mein Finger krümmt sich endlich von alleine und der Schuss verlässt meine Waffe. Warum reagiert er nicht? Warum fällt er nicht? Ich schieße wieder. Keine Reaktion. Beim dritten Schuss sehe ich den Riesen wanken. Warum senkt er seinen Arm nicht? Ich will nicht sterben. Vierter Schuss. Fünfter Schuss. Jetzt fällt er zu Boden. De Arm senkt sich. Das übermächtige Loch zielt nicht mehr in mein Gesicht, saugt mich nicht mehr auf. Ich lebe lebe lebe ...Diese Nacht des 30. März 2004, die sich binnen Minuten abspielt, überleben zunächst alle drei Männer. Der Bewaffnete, der mit drei Treffern im Bauchbereich ins Krankenhaus eingeliefert und dort notoperiert wird. Gustav, der als Erster geschossen, ihn aber verfehlt hatte: Aus Panik ließ sich der Polizist nach hinten fallen und stellte sich tot. Und auch Mike Muche überlebte. Zumindest sein Körper, seine Hülle, bleibt unversehrt. „Aber schon im Moment damals habe ich etwas gemerkt“, sagt er heute.Dass ich doch gestorben bin in der kleinen Dachwohnung. Nicht durch den Einschlag einer Kugel. Anders. Wer überlebt hat, ist nicht der Mike von früher. Es wird mir bewusst, dass ich mein erstes Leben beendet habe. Im Alter von 46 Jahren.Es ist nicht der einzige Tod, den Mike Muche stirbt. Bereits wenig später in dieser Nacht teilen ihm seine Kollegen von der Kripo mit, dass der Mann keine scharfe, sondern eine Schreckschusswaffe hatte. Zwei Tage später erliegt er im Krankenhaus seinen schweren Verletzungen. Der Mann war 35. Mike Muche hat ihn erschossen. Er kannte ihn nicht. Aber er kennt seine Eltern und seinen Bruder – sie sind seit langem Freunde von ihm. Drei Monate zuvor hatte Muche mit den dreien Silvester gefeiert. Er hat ihnen den Sohn und Bruder genommen. Der Bruder hat ihm verziehen: „Ich konnte erst drei Monate nach dem Vorfall mit ihm sprechen. Wir haben zusammen geweint.“ Die Mutter kann das offenbar nicht – oder noch nicht. Das erkennt Mike Muche in ihren Augen, wenn er ihr gelegentlich in Schweinfurt begegnet: in ihnen wähnt er immer noch Hass. Der Vater des Toten ist selbst im Frühjahr gestorben. „Ich glaube an Schicksal“, sagt Mike Muche an diesem Dezembermorgen. „Man bekommt alles im Leben zurückbezahlt. Für mich war das eine Abrechnung für früher. Da war ich ein richtiger Drecksack.“ Auch darüber schreibt er in seinem Buch. Von Exzessen, von Untreue, von zwei gescheiterten Ehen.Was in meiner späten Jugend und in der Phase des frühen Erwachsenseins für ein schlechter, charakterloser Mensch war. Aber dazu stehe ich und bin mir meiner vielen Fehler und Schwächen sehr bewusst. Es ist eine wirklich ernst gemeinte Entschuldigung an all die Menschen, die ich verletzt habe. Ich hoffe von ganzem Herzen, dass sie diese Entschuldigung annehmen, nachdem sie gelesen haben, dass ich für meine Verfehlungen hart sehr hart bestraft wurde.Warum? Warum nur, fragt man sich beim Lesen des Buches und während des Gesprächs, verkettet dieser Mann seine berufliche Lebenslinie so untrennbar mit seiner privaten, und warum geißelt er sich so sehr mit dieser Kette? Warum nur versucht er die für ihn schicksalhafte Nacht nicht als das zu akzeptieren, was sie war: ein – wenn auch tragischer – Dienstunfall? Das in solchen Fällen obligatorische Ermittlungsverfahren hat die Staatsanwaltschaft rasch eingestellt, seine Unschuld hat er Schwarz auf Weiß: Es war vermeintliche Notwehr, Putativnotwehr im Fachjargon. Mike Muche nimmt einen tiefen, hastigen Zug von seiner Zigarette und bläst eine Rauchwolke in die Winterluft, draußen vor dem Café. Als müsste er Dampf ablassen, weil er der Frage überdrüssig ist. Dann antwortet er freundlich, aber bestimmt: „Das so zu sehen, wollte mit mein erster Psychologe schon immer einreden. Ich hab’s auch versucht. Aber zu wissen, dass mich keine Schuld trifft, weil ich nur um mein kleines bisschen Leben gekämpft habe, hilft mir nicht weiter. Es geht nicht. Es geht einfach nicht.“ Sätze, die Mike Schimanski Muche nicht leicht über die Lippen kommen. Denn eigentlich ist sein Lebensmotto das genaue Gegenteil davon: Geht doch! An vielen Stellen im Buch zu lesen, mal selbstmotivierend, mal selbstironisch. Seit der Nacht des 30. März 2004 aber geht alles in seinem Leben einen anderen Gang. Oder eben: Es geht gar nicht mehr. Seine Gesundheit rebelliert. Bluthochdruck, Gehörsturz, stressbedingte Magenprobleme, Geschwüre in der Speiseröhre. Mein Körper und mein Geist geben auf. Der Akku ist leer. Die Batterien laden sich nicht mehr auf. Ich gehe in die Klinik.Drei mehrwöchige Aufenthalte in psychosomatischen Kliniken hat Mike Muche inzwischen hinter sich, der letzte ist ein Jahr her. Weihnachten und Silvester 2007 verbringt er am Chiemsee. „Dort rieten mir die Ärzte, meine Geschichte als eine Art Nebentherapie niederzuschreiben. Meine Sozialtante vom Polizeipräsidium brachte mich später auf die Idee, das Ganze als Buch zu veröffentlichen.“ Die Frau vom Sozialen Dienst ist eine derjenigen, die Mike Muche von Seiten der Polizei betreuen, auch mit einem Psychologen des Zentralen Psychologischen Dienstes führt er viele Gespräche. „Die Nachbetreuung ist essentiell in solchen Fällen“, sagt Pressesprecher Manuel Rösch. „Sie werden auch in unseren Dienststellen auf- und nachbearbeitet. Das ist besonders wichtig, denn nach dem Einsatz ist vor dem Einsatz.“ Zu den Rädchen, die bei innerhalb der Bayerischen Bereitschaftspolizei in brisanten Fällen wie diesen ineinandergreifen, gehören auch ein Seelsorger und eine Selbsthilfegruppe. Sie trifft sich alle drei Monate in Nürnberg, Mike Muche ist regelmäßig dabei. Alle Polizisten dort haben Ähnliches erlebt wie er, wurden im Einsatz Täter oder Opfer – oder beides zugleich. In Unterfranken haben nach Angaben des Polizeipräsidiums in den vergangenen sechs Jahren insgesamt drei Polizeibeamte in Notwehr einen anderen Menschen erschossen; in Bayern waren es laut dem Staatsministerium des Inneren im gleichen Zeitraum ??? Beamte. Viele von ihnen leiden jahre- oder gar jahrzehntelang.Auch Mike Muche ist immer noch in ambulanter psychosomatischer Behandlung. Sein Arzt und Psychotherapeut Christian Knorr aus Veitshöchheim hat eine posttraumatische Belastungsstörung bei ihm diagnostiziert. „Das ist keine eigene psychische Krankheit, sondern eine Störung, die gesunde Menschen in Folge eines traumatischen Erlebnisses erleiden – einer Situation, der sie hilflos ausgeliefert sind, in der sie nicht weder kämpfen noch fliehen können“, erklärt Knorr. Ein Unfall, ein Überfall, ein Übergriff mit sexueller Gewalt etwa. „Ein Trauma bedeutet eine Verletzung der Seele. Sie hat meist auch körperliche Auswirkungen wie Änderungen der Gehirnfunktionen und –strukturen. Bei manchen Patienten verkleinert sich beispielsweise der Hippocampus.“ Die Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung treten laut Knorr in der Regel nicht unmittelbar auf, sondern erst Wochen oder Monate nach dem Erlebnis. Dazu zählen so genannte Intrusionen: Gefühle, Gerüche, Gedanken und vor allem Bilder des Traumas – wie die Waffenmündung im Fall von Mike Muche. Außerdem Übererregungen (Hyperarousel), sprich ständige innere Unruhe, Rast- und Schlaflosigkeit, sowie Schmerzen und Vermeidungen: Der Patient muss sich allem entziehen, was mit dem Trauma zu tun hat. „Herr Muche konnte sich zum Beispiel nicht mehr in einen Streifenwagen setzen.“Erster Nachtdienst nach dem Vorfall: Fahren Sie zu einem Familienstreit! Mein Herz schlägt bis zum Hals – im Kopf sind die gleichen Bilder ... Aber ich bin stark. Nur Schwächlinge zeigen Angst. Ich kämpfe jede Minute in diesem beschissenen Streifenwagen mit meiner Furcht. Ich kämpfe mich von Schicht zu Schicht. Meine Arbeit leidet unter meinem Erlebnis. Ich verändere mich. Ich werde zornig, wütend, aufbrausend ... Ich raste aus bei der Aufnahme eines Kleinunfalls, nur weil der Beteiligte die Hände in seiner Jacke hat. Er weiß nicht, was dieser durchgeknallte Bulle hat. Ich schon. Angst! Nichts als Angst! Ich bin eine Gefahr für mich, meinen Streifenpartner und vor allem für den Menschen, der mir im Einsatz über den Weg läuft ...„Wenn ich weiter so meinen Dienst gemacht hätte, hätte ich einen Unschuldigen erschossen.“ Davon ist Mike Muche heute noch überzeugt. Es geht nicht mehr. Das schwarze Loch ist zu tief, der Sog zu stark. Kein ganzes Jahr verbringt er nach dem Vorfall zwischen seinen Klinikaufenthalten insgesamt im Dienst. Mit der posttraumatischen Belastungsstörung, die eine Depression nach sich zieht, kann er nicht mehr als Polizist arbeiten. Sich das nach 30 Jahren im Dienst eingestehen zu können, „das war das Schlimmste“. Ein abschließendes psychologisches und psychiatrisches Gutachten bestätigen seine Dienstunfähigkeit. Im Juli 2007 wird er deswegen vorzeitig in den Ruhestand versetzt. In Unterfranken ist der Fall Muche laut Polizeipräsidium in den vergangenen Jahren der einzige Fall von Schusswaffengebrauch in Notwehr mit diesem Ausgang. Für Mike Muche ist es ein Befreiungsschlag.Ich bin es leid, jedem meine Situation zu erklären und mich ständig verteidigen zu müssen. Ich hätte so gerne eine Narbe, eine für alle sichtbare Verletzung. Einen Durchschuss an der Schulter. Schaut alle her – von meinem Schusswaffengebrauch. Verständnis pur – ach Gott, der arme Mike. Logisch, dass der noch so leidet! Wahrscheinlich schmerzt die Wunde bei Wetterumschwung noch sehr ... Aber ich habe keine sichtbare Narbe, die ich zeigen könnte. Meine Narbe sitzt so tief in meiner Seele, dass nur wenige Menschen sie sehen können. Ich müsste den ganzen Tag mit Tränen in den Augen herumlaufen und die Mundwinkel sollten bis zu den Brustwarzen hängen. Vielleicht noch einen gebeugten, schleppenden Gang? Wollt ihr das sehen?Mike Muche hofft, dass all die Skeptiker ihn dank seines Buches nun besser verstehen werden. „In Polizeikreisen, so sagt er, sei die Reaktion darauf einhellig positiv. „Einige Kollegen haben sogar gesagt, sie hätten es in einem Zug gelesen, weil es so spannend und stellenweise so lustig war.“ Es lächelt, auch ein bisschen stolz. Um im nächsten Moment wieder ernst zu werden. „Mein Buch soll aber auch denjenigen die Augen öffnen, die dem Irrglauben aufsitzen, dass man in diesem Beruf alles verarbeiten kann.“ Ob er seine posttraumatische Belastungsstörung jemals loswerden wird – niemand weiß das. „Sie kann ein paar Jahre, aber auch ein Leben lang dauern“, sagt sein Psychotherapeut Christian Knorr. „Traumatische Erinnerungen altern nicht.“ Wichtig für den Gesundungsprozess das Patienten seien eine fachärztliche Traumatherapie und Verständnis vom Umfeld: „Nehmen Sie den Patienten so, wie er ist und mit dem, was er sagt. Und nehmen Sie ihn ernst angesichts dessen, was er erlebt hat.“Mike Muche hat im Dienst in Notwehr einen Menschen getötet. Und ist dabei selbst gestorben. Der Polizist, der seinen Namen trug, hat die Nacht des Montag, 30. März 2004, in der Schweinfurter Dachgeschosswohnung letztlich nicht überlebt. Auch nicht der unbeschwerte, der unerschrockene, der des Lebens so unersättliche Draufgänger Mike Muche. Der Mann, der sein zweites Leben lebt, hat zwar denselben Namen, doch ist er einer anderer. „Ich strukturiere heute jeden meiner Tage durch, versuche, mir Termine zu setzen um meine Freizeit mit schönen Sachen wie Sport, Sauna, Solarium zu gestalten.“ Er schiebt eine leere Kaffeetasse und eine Zeitung über den Tisch, deutet darauf wie ein Kriminalpolizist auf ein wichtiges Beweisstück. „Oder ich gehe in mein Lieblingscafé und lese Zeitung – jede einzelne Zeile, wie heute Morgen.“ Hauptsache, er kommt raus. Zu lange hat er sich abgekapselt. „Der soziale Rückzug war das Schlimmste.“ Zwei Dinge aber hat der neue Mike Muche doch vom Alten gerettet: seinen Optimismus und seinen Kampfgeist. „Ich blicke wieder positiv in die Zukunft und kämpfte jeden Tag um ein zufriedenes, lebenswertes Leben. Hier und heute sehe ich, wie das Tageslicht die Nacht verdrängt. Geht doch!“

30.01.2009Die Angst im Kopf

Süddeutsche Zeitung

Mike Muche war ein Macho, ein bärenstarker Polizist – dann erschoss er im Dienst einen Menschen. Als der Notruf am 1. März 2004 gegen 23 Uhr bei der Polizei in Schweinfurt einging, deutete alles auf einen Routineeinsatz hin. Eine Frau fühlt sich bedroht von ihrem Partner, sie bittet um Hilfe. Wenig später traf der Streifenpolizist Mike Muche gemeinsam mit einem Kollegen an der Haustür in einem bürgerlichen Stadtteil in Schweinfurt ein. Eine Frau öffnete, sie schien sehr gelassen. In der Erinnerung von Mike Muche, 51, dauerte es von da an höchstens noch zwei Minuten. Danach hatte der Polizist den Bruder jenes Freundes erschossen, mit dem er zwei Monate zuvor gemeinsam Silvester gefeiert hatte. Fünf Schuss feuerte Muche ab, drei davon trafen den Mann in den Bauch.Zwar kann man Muche auch heute noch bei der Polizei antreffen. Das Areal der Bereitschaftspolizei in Nürnberg betritt er freilich nur, um sich dort mit ehemaligen Kollegen, denen es ähnlich ergangen ist wie ihm, über sein Trauma auszutauschen. Muche ist ein Bär von einem Mann, Polizist aber ist er nicht mehr. Wie bei Skispringern sei das, hatten ihm die Psychologen kurz nach dem Einsatz erzählt: Hat man einen schweren Sturz hinter sich, dann muss man so schnell wie möglich wieder von der Schanze springen. Muche fuhr also wieder Streife, kontrollierte Autos, schlichtete bei Ehestreit. Bis er beinahe noch einen Menschen erschossen hätte – diesmal nicht aus Notwehr, sondern aus Angst vor der Wiederkehr eines Traumas. Zwei Minuten bis zum TodIm Grunde, sagt Muche, sind es genau drei sich selbst eingestandene Worte, die sein Leben verändert haben: „Ich habe getötet.“ Muche galt als Macho, nicht nur in der Polizeiinspektion. Hätte man ihm vorab die Situation geschildert, mit der er sich in der Wohnung des Mehrfamilienhauses konfrontiert sah – Muche ist sich sicher, er hätte geantwortet: „Wenn mich einer mit seiner Knarre bedroht, dann blas´ ich den halt weg.“ Seit vier Jahren gilt Muche nun als kranker Mann. Er kann kaum mehr schlafen, erzählt er. Und wenn er doch einschläft, dann wacht er irgendwann auf – und glaubt in die Mündung eines Revolvers zu blicken. Was Muche in der Schweinfurter Wohnung erlebt hat, nennen amerikanische Polizeipsychologen „suicide by cop“. Die Staatsanwaltschaft hat die Ermittlungen gegen Muche eingestellt. Sie geht davon aus, dass der Mann, den Muche erschossen hat, in jener Nacht unbedingt sterben wollte, dies allerdings nicht von eigener Hand. Es scheint so, als habe der Mann einen Streit mit seiner Partnerin nur deswegen angezettelt, damit die Polizei kommen muss – und ihn in einer vermeintlichen Notwehrsituation tötet.Gustav Regener (Name geändert) war der zweite Mann bei dem Einsatz. Er ist mindestens zwei Köpfe kleiner als Muche. Das aber war nicht der Grund, warum Muche und nicht Regener als erster die Wohnung des Paars betrat. Muche und Regener wechselten sich konsequent ab bei ihren Einsätzen – einer machte die Schreibarbeit, der andere ging voran. Regener betrat die Wohnung erst, als er seinen Kollegen rufen hörte: „Vorsicht, der hat `ne Knarre.“ Kurz darauf kam der Mann mit der Knarre aus dem Wohnzimmer, blieb einen halben Meter vor Regener stehen und zückte die Waffe. Es fiel ein Schuss und Regener kippte nach hinten um. Als sich der Mann aus dem Wohnzimmer danach Muche zuwendete, feuerte Muche los. Die Kollegen teilten ihm später mit, dass der Mann, der nach drei Tagen seinen Verletzungen erlag, nur eine Schreckschusspistole in der Hand gehalten hatte. Drei Jahre später beschied ihm die zuständige Behörde, es bestehe deswegen kein Anspruch auf ein bestimmtes Ruhestandsgehalt – denn ein Kriterium, die „objektive Lebensgefahr“, sei bei dem Einsatz nicht erfüllt gewesen. Erst auf Intervention des damaligen Innenministers Günther Beckstein besann sich das Amt einer anderen Auslegung der Paragraphen. Der Bruder des FreundesMuche hat bei dem Einsatz den Bruder eines seiner besten Freunde erschossen. Aus purem Zufall hatte er ihn nie zuvor kennengelernt. Auch mit der Mutter der beiden Brüder pflegte der Polizist ein freundschaftliches Verhältnis. Aber erst drei Monate nach dem Vorfall hat es Muche übers Herz gebracht, sich mit dem Bruder des Getöteten zu treffen. Drei Stunden, erzählt Muche, habe man geredet und gemeinsam geweint. Zwar will die Familie des Getöteten nicht glauben, dass sich der Mann mit der Schreckschusspistole in dieser Nacht das Leben nehmen wollte. Aber Vorwürfe habe ihm sein ehemaliger Freund niemals gemacht. Im Frieden sei man auseinander gegangen. Auseinander? „Der Mann, den ich erschossen habe, war sein Bruder“, sagt Muche – eine Freundschaft könne man da nicht mehr leben.Gustav Regener, er ist wie Muche 51 Jahre alt, fährt weiter Streife. Er weiß seit der Nacht, was es heißt, für ein paar Augenblicke unter Todesangst zu leiden. Wenn Muche von Schweinfurt aus zur Selbsthilfegruppe der Polizisten nach Nürnberg fährt, dann begleitet ihn sein ehemaliger Kollege Regener dabei. Muche sagt, das vielleicht Schlimmste an seinem neuen Leben sei es, sich nur mit ganz wenigen Menschen wirklich darüber verständigen zu können, wie sich Todesangst anfühlt. Einen Menschen aber, der auch weiß, wie es sich anfühlt, den Bruder eines Freundes erschossen zu haben – so einen Menschen hat Muche bislang noch nicht getroffen.Zwei Wochen nach dem Einsatz ist Muche zum ersten Mal wieder Streife gefahren. Alles schien wie immer, erzählen seine Kollegen. Nur die Sprüche, mit denen der Große mit den blauen Augen sie wie immer unterhalten habe, seien noch härter gewesen. In Wahrheit hat er sich bei jedem Einsatz „vor Angst fast in die Hose gemacht“, sagt Muche. Monate hat es gedauert, bis er sich eingestehen konnte, dass er Hilfe braucht in einer Klinik. Dort haben ihm die Ärzte geraten, seine Geschichte aufzuschreiben, als Form der Therapie. Der novum Verlag hat die Geschichte jetzt unter dem Titel „Ich habe getötet“ als Buch veröffentlicht.

17.04.2009Buchtipp

Polizei

Der deutsche Polizist Mike Muche wird am 1. März 2004 zu einem Familienstreit gerufen. In Notwehr erschießt er einen jungen Mann, mit dessen Eltern und Bruder er noch Silvester gefeiert hat. Muche schildert in der Autobiografie sein Ausbrennen, die Therapie, bis hin zu Spitalsaufenthalten und Dauerkrankenstand.

24.03.2009Ich habe getötet

Südwest Presse, Schwäbische Post

Das beklemmende Bekenntnis eines Polizisten über das Leben mit einer übergroßen Schuld.Michael Muche musste in 30 Jahren als Polizist nie seine Waffe benutzen. Vor fünf Jahren bedrohte ihn ein Betrunkener mit einer Pistole. Der Beamte drückte ab – und kämpft seither um ein normales Leben.Er muss immer die Hände sehen. Muss sehen, dass sie nichts verbergen. Nur so kann er sicher sein, dass die Angst nicht zurückkommt. Die Angst vor dem Tod. Die Angst, wieder zu töten.Für Michael Muche ist diese Angst zu einer Bestie in seinem Kopf geworden. Er hat zwar gelernt, sie zu zähmen und sich mit ihr zu arrangieren. Vertreiben konnte er sie aber nicht. Die Bestie ist leicht reizbar. Deshalb muss Muche immer vorsichtig sein. Oft reicht eine Kleinigkeit, um sie aufzuscheuchen.Dann sieht er wieder die Mündung der Pistole. Groß wie ein Ofenrohr. Wie sie ihn in dieser dunklen, stickigen Dachgeschosswohnung zu verschlingen scheint. Er sieht Blut und Gewalt. Und er sieht Menschen ohne Hände.Muche, 51, ist ein Mann mit sanften, stahlblauen Augen, grauem Schnurrbart und schwarzer Kleidung. Er sitzt in einer Wohnung in der Nähe von Schweinfurt. Fliesen im Wohnzimmer, offene Küche. Dort erzählt er von seinem „Schicksal“, wie er die Nacht des 1. März 2004 nennt. Die Nacht, in der Mike Muche einen Menschen tötet. Die Nacht, die für den Polizeihauptwachtmeister alles ändert.„Es war ein kalter Montag Abend“, erinnert er sich. „Ich war mit meinem Lieblingspartner Gustav auf Streife.“ Gegen 23 Uhr meldet sich die Leitstelle über Funk: Hilferuf einer Frau. Häusliche Gewalt in der Friedhofstraße 21 in Schweinfurt. Hinterhaus. Dachgeschoss ohne Aufzug.Das Treppenhaus ist dunkel. Muche klopft an die Milchglasscheibe der Wohnungstür. Eine Blondine öffnet. Neben ihr steht ein Hund an der Leine. „Sie war nicht verletzt. Man sah keine Unordnung. Sie atmete auch nicht schwer“, schildert er die Szene. Er hat gedacht: „Hier sind wir schnell fertig. Die haben sich schon wieder beruhigt“.Die Frau sperrt den Hund ins Bad, dann treten die Beamten ein. Die Wohnung ist klein. Schummriges Licht. Irgendwie beklemmend. „Links war das Bad. Vor uns war ein Kaminabzug, etwa 80 mal 80 Zentimeter“, erzählt Muche. „Weiter hinten in dem Raum sahen wir einen massigen Mann am Boden sitzen. Im Schneidersitz. Er hatte einen Spitzbart, einen kahlen Schädel und kam mir groß vor wie ein Bär.“Der „Bär“ – so nennt Muche den Mann aus der Wohnung, wenn er über die Nacht spricht. Obwohl er den richtigen Namen des Mannes natürlich längst kennt. Der „Bär“ steht plötzlich auf und zieht eine Pistole unter seinem Bein hervor. Damit zielt er auf die beiden Polizisten. Die gehen hinter dem Kaminabzug in Deckung, zücken ihre Dienstwaffen vom Typ Heckler & Koch P7. „Knarre weg! Knarre weg!“, brüllen die Beamten. Der „Bär“ rührt sich nicht. Und Mike Muche, der immer geglaubt hatte, alles unter Kontrolle halten zu können, der dachte, dass ihn 30 Jahre Polizeierfahrung für alles wappnen würden, was das Leben bereithält – dieser Mann verspürt plötzlich irritierend fremde Gefühle. „Ich war panisch, völlig hilflos, wie gelähmt“, erinnert er sich. Dabei blicken seine blauen Augen tief in die Tasse mit dem pechschwarzen Kaffee, die vor ihm auf dem Tisch steht.Dann schaut Muche wieder auf und versucht zu beschreiben, was er nicht beschreiben kann: „Es war die pure Todesangst. Der Körper vibrierte, alles zitterte, meine Finger waren steif. Das kann man nicht in Worte fassen. Darauf kann man sich auch nicht vorbereiten.“Muche will nur noch raus. Weg von diesem furchtbaren Ort, der ihm seine Hilflosigkeit so brutal vor Augen führt. Er will gerade die Treppe runter laufen. Da fällt ihm ein: „Scheiße! Gustav ist noch drin.“ Muche rennt wieder in die Wohnung. Da fällt ein Schuss. Muche sieht Gustav hart auf den Boden fallen. Sein Kollege bewegt sich nicht mehr. „Scheiße! Scheiße!“ Der „Bär“ steht jetzt direkt vor ihm. Die Mündung gafft ihn an. Muche drückt ab. Fünfmal. Der massige Mann sackt in sich zusammen, fällt mit dem Rücken auf den Fußboden. Der „Bär“ stirbt drei Tage später an seinen Verletzungen. Gustav ist unverletzt. Er hat den Schuss in der Wohnung abgegeben – und fiel anschließend in eine Art Schockstarre.Noch am Tatort erfährt Muche von Kripo-Kollegen: Die Waffe des Toten ist nur eine Attrappe. Eine Schreckschusspistole vom Typen Umarex. Fragen rasen durch sein Gehirn: War die Todesangst umsonst? Hat er eine Wehrlosen erschossen? Die Staatsanwaltschaft Würzburg ermittelt gegen Muche wegen fahrlässiger Tötung. Das Verfahren wird am 14. Juli 2004 eingestellt. Die Behörde kommt zu dem Schluss, dass der Täter sterben wollte. „Suicide by Cop“ nennt das die US-Polizei, „provozierter Selbstmord durch einen Beamten“. Er hat seine Freundin gezwungen, die Polizei zu rufen, um sich dann erschießen zu lassen. Ein tragischer Unfall also.Muche ist offiziell für unschuldig befunden worden. Doch er vergibt sich nicht. Kann diese Nacht nicht vergessen. Er hat Anklage gegen sich selbst erhoben. Der Vorwurf lautet: „Ich habe getötet“.Ein Vorwurf, der erdrückend wird, als er erfährt: Der Tote ist der Sohn guter Bekannter aus Schweinfurt. Er hat einer Mutter den Sohn genommen. Diese Schuld, glaubt der Polizist, kann er nie wieder gutmachen. Die Kollegen raten ihm, gleich wieder auf Streife zu gehen. Zwei Wochen später ist er wieder auf der Straße. Doch es geht nicht mehr. „Da war nur noch Angst. Ich erkannte mich nicht wieder.“Auch viele Kollegen haben damit große Probleme. „Die haben gesagt: Das gibt’s doch nicht, dass der Mike das nicht schafft.“ Das Unverständnis hat Muche sehr geschmerzt. Für einen Polizisten gehört es sich nicht, Angst zu haben, Männer wie Mike Muche dürfen keine Schwäche zeigen – das ist ihre Botschaft.Muche kann in keinen Streifenwagen mehr steigen, keine Waffe mehr tragen. Er hat Panikattacken. Und er muss die Hände sehen. Immer die Hände. Einem Afghanen wird das beinahe zum Verhängnis. „Es war wieder ein Familienstreit“, erzählt Muche. „Der Mann hatte die Hände in den Taschen. Ich zog meine Pistole, brüllte ihn an. Er verstand nicht. Hätte er eine falsche Bewegung gemacht – ich hätte ihn erschossen. Einen Unschuldigen.“Da ist Muche klar: Es geht nicht mehr. Er braucht professionelle Hilfe. Monate hat er für dieses Eingeständnis gebraucht. Es war nicht einfach, mit den Reaktionen der Kollegen umzugehen, sagt er. „Manchmal hätte ich mir eine Narbe, eine für alle sichtbare Verletzung gewünscht. Ein Durchschuss an der Schulter. Da hätten alle Verständnis gezeigt.“ Seine Narbe aber sitzt so tief in seiner Seele, dass nur sehr wenige Menschen sie sehen können. Menschen wie Professor Wolfgang Sperling. Der Gutachter der Universitätsklinik Erlangen diagnostiziert eine posttraumatische Belastungsstörung. „Das ist eine Verletzung der Seele“, erklärt Muches Psychologe Christian Knorr. „Die schlimmste Verletzung, die eine Seele erleiden kann, ist die Bedrohung des Lebens. Ein so massives Trauma ist kaum zu verarbeiten. Es überfordert die Psyche.“ Jede starke Erinnerung an solche Ereignisse reißt seelische Wunden wieder auf. Nach drei Therapieaufenthalten in Kliniken ist Muche inzwischen frühpensioniert. Das Land Bayern hat ihn für dienstunfähig erklärt. Jetzt lebt er sein zweites Leben, wie er sagt. Sein erstes ging für ihn in jener Nacht im Dachgeschoss zu Ende. Bis dahin war Michael Muche ein Macho. Oder in seinen eigenen Worten „ein Chaot, ein Drecksvater, ein Scheiß-Ehemann“. Aber das sei vorbei. „Jetzt koche ich sogar“, sagt er. Und das erste Mal lächelt er.„Die Kollegen würden laut lachen“, sagt er. „Und ich selbst hätte sicher am lautesten gelacht. Kochen? Dafür gibt’s doch Frauen, wäre damals meine Antwort gewesen.“ Er versucht jetzt, seinem Leben Struktur zu geben. Mit schönen Sachen wie Sport, Sauna oder einfach einem Vormittag im Café.„Wenn ich das nicht schaffe, falle ich wieder in ein Loch“, sagt er. Das Loch ist die Depression. Der totale Rückzug. Die selbstverhängte Einzelhaft. „Das will ich nicht mehr.“ Er habe genug davon, sich zu verteidigen und zu rechtfertigen. Und er hat genug davon, sich zu verteidigen und zu rechtfertigen. Und er hat genug davon, immer auf die Hände zu sehen. Das ständige Prozessieren gegen sich selbst hat er satt. Vielleicht, weil er inzwischen weiß, dass die Anklage in sich zusammengebrochen ist.

30.08.2009Vom Leben nach dem Tod

Die Presse

Es ist finster, als die beiden Polizisten in den frühen Morgenstunden beim Supermarkt ankommen. Der Alarm war losgegangen, irgendjemand ist da drin. Wer ist es? Ist er bewaffnet? Die Polizisten betreten den Supermarkt. Wenig später ist ein 14-jähriger Jugendlicher tot.Was genau am 5. August in der Kremser Merkur-Filiale passiert ist, wird gerade untersucht, erst am Mittwoch wurde dreieinhalb Stunden lang der Hergang der Ereignisse rekonstruiert. Fest steht, dass sich wohl nicht nur für die Familie des toten Jugendlichen die Welt verändert hat. Was fühlt ein Polizist, der in Ausübung seines Berufs einen Menschen tötet? In Österreich ist darüber nicht viel zu erfahren. Es ist ein Thema, über das man nicht gerne spricht; betroffene Beamte stehen nach Auskunft des Innenministeriums nicht für ein Gespräch zur Verfügung.TabubrecherEiner, der das Tabuthema gebrochen hat, ist der 51-jährige Bayer Mike Muche. Es war der 1. März 2004, es hatte geschneit in Schweinfurt. Muche, erfahren, 30 Dienstjahre, versah mit einem Kollegen Streifendienst und wurde zu einem Familienstreit gerufen. Sie betraten eine Wohnung in einem Dachgeschoß, das Licht war diffus. In der Wohnung saß ein Mann im Schneidersitz am Boden, die Hände unter sich. Sekunden später sieht sich Muche einer Schusswaffe gegenüber, auf ihn gerichtet. Er schreit, bevor er in Deckung geht. „Vorsicht, der hat ne Knarre!“Im Büro hatten sie so eine Situation immer wieder durchgespielt. „Wenn mich einer mit einer Schusswaffe bedroht, baller ich ihn notfalls weg.“ Doch er kann seinen Finger am Abzug nicht bewegen. Er zittert, sein Puls rast, die Angst wird immer größer. Er flieht aus der Wohnung, kehrt aber wieder um. Als er zurückkommt, bedroht der Mann seinen Kollegen. Dann fällt ein Schuss, der Kollege fällt nach hinten, bleibt reglos liegen. Der Mann mit der Pistole wendet sich Muche zu. Er sieht nur noch die Mündung, größer, immer größer. „Irgendwann hatte ich keinen Handlungsspielraum mehr, da hab ich geschossen.“Einmal, zweimal. Es ist nicht wie im Krimi, erst nach dem dritten Schuss wankt der Mann. Insgesamt gibt Muche fünf Schüsse ab, der Mann stirbt nach einigen Tagen im Krankenhaus. Sein Kollege blieb unverletzt: Er hatte den ersten Schuss abgegeben, sich dabei nach hinten geworfen und war in einen Schockzustand gefallen.Wie sich herausstellt, war der Mann der Bruder eines Freundes. Und hatte offenbar Selbstmord begehen wollen, die Waffe war nicht echt. „Suicide by cop“ heißt die Methode. Damit ist auch für Muche sein bisheriges Leben zu Ende. Erst versucht er noch, weiter Dienst zu machen, doch die Angst ist immer da. Die Ereignisse drehen sich in einer Endlosschleife in seinem Kopf, schlafen kann er nicht mehr. Früher war er eine „harte Sau“, doch jetzt befällt ihn Panik, er hat Flashbacks, immer muss er von allen die Hände sehen, einmal hätte er beinahe einen Unschuldigen erschossen. Er weiß, er trägt keine Schuld, und fällt doch in ein Loch.„Der schwerste Schritt war, mir einzugestehen, dass ich Hilfe brauche“, sagt er. Dreimal war er seither in einer psychosomatischen Klinik, er ist dienstunfähig und im Vorruhestand und kämpft tagtäglich um sein inneres Gleichgewicht. „Ich versuche, mein Leben so in den Griff zu kriegen, dass ich zufrieden sein kann. Glück gibt es für mich nicht mehr.“ Den Eltern des Toten hat er einen Brief geschrieben, sie wollen keinen Kontakt, die Mutter wirft ihm noch heute hasserfüllte Blicke zu.(...)Er hat in der Therapie begonnen, seine Geschichte aufzuschreiben. Daraus ist ein Buch entstanden, vor allem Polizisten interessieren sich dafür. „Weil in der Polizei niemand über dieses Thema offen spricht.“ Er ist in einer Selbsthilfegruppe, auch andere Polizisten geht das Erlebte nicht mehr aus dem Kopf. Wie es jenen Beamten im Kremser Supermarkt gegangen sein mag, kann er sich nur vorstellen: „Jedenfalls anders als den Gutachtern hinterher.“

08.02.2009Ein Leben mit der Schuld

ZDF - Mona Lisa

Nur ein winziger Moment kann es sein, der das ganze Leben verändert. Plötzlich ist nichts mehr, wie es war. Wie ist es für einen Polizisten, im Dienst den Bruder eines Freundes zu erschießen. Wie wandelt sich das Leben einer Mutter, wenn sich das eigene Kind das Leben nimmt? Fragen wie diesen ist ML Mona Lisa nachgegangen.Eigentlich war Mike Muche ein starker Typ, einer, der nichts an sich ran ließ. Bis zum 1. März 2004. An diesem Abend wurde er mit einem Kollegen zu einem Einsatz gerufen. Familienstreit. Routinesache. Doch in der Wohnung wurden sie von einem Mann mit einer Waffe bedroht.In extremer Todesangst„Der Mann saß wortlos am Boden. Nur mit seinem gestreckten Arm, ohne was zu sagen, hält er diese Waffe entgegen und dann schreist du als Polizist, Knarre weg, Knarre weg und hoffst insgeheim, der wird gleich aufhören, der wird doch sein Ding weglegen“, erzählt Muche.Er tat es nicht. Es fiel ein Schuss – und Mikes Kollege ging zu Boden. Der Mann zielte jetzt auf Muche. Er erinnert sich: „Ich habe nichts mehr gesehen, ich habe kein Gesicht mehr gesehen, keine Wohnung, hab nur noch eine Mündung gesehen. Und dann kommt diese extreme Todesangst, die man in Worten nicht erklären kann.“ In Panik drückte Muche ab, feuerte auf den Mann, fünf Mal.Schreiben als TherapieDer Mann starb. Es stellte sich heraus: Er war der Bruder eines seiner engsten Freunde. Eine fast unerträgliche Belastung für Mike Muche: „Dann sitzt du da und sagst, so jetzt hast du einen erschossen. Wie fühlt man sich da? Das ist genau diese Situation, die sich kein Polizist wünscht, dass du sagst, jetzt bist du in der Lage gewesen und musstest um dein Leben kämpfen und hast ein anderes Leben ausgelöscht.“„Ich habe getötet.“ Wie eine Anklage lautet der Titel seines Buches, in dem Muche versucht, zu verarbeiten: Schuldgefühle, die Verzweiflung und das Trauma des Tötens. Es ist ein mutiger Schritt, das bestätigen ihm die vielen Emails im Gästebuch seiner Homepage. Das Schreiben war eine Form der Therapie, zu der ihm auch Ärzte geraten haben. Aber, sagt er, er sei seitdem ein kranker Mann.Das Leben danachNichts sei mehr so, wie es einmal war: „Ich kann meiner Psyche versuchen zu sagen, so heut nacht schläfst du mal durch, träumst nicht von Mündungen oder von leeren Händen oder von irgendwelchen Gewaltträumen. Und wenn du aufwachst, schläfst du gleich wieder ein, das kann ich mir vornehmen, aber das klappt halt nicht.“Posttraumatische Belastungsstörung lautet die Diagnose seiner Ärzte. Nach 33 Dienstjahren wurde Muche frühpensioniert. Die Ermittlungen ergaben, dass ihn keine Schuld trifft, der Mann war psychisch krank gewesen. Und dennoch ist Muche bis heute in therapeutischer Behandlung. Sein Therapeut Christian Knorr erklärt, Muche habe genau so gehandelt, wie er es in seinem Dienst tun musste. Jeder andere vernünftige Mensch, so Knorr, hätte dies auch getan: „Und in der Therapie jetzt muss ich diese Schuld bewusst machen und dann relativieren. Und dann kann sie auch wieder verschwinden.“ Für Mike Muche sind sie noch nicht verschwunden, aber verblasst.Mike Muche bezeichnet sich als der Mann mit den zwei Leben, der jetzt versucht, einen Weg zu finden, der ihn nicht selbst kaputt macht. Und dazu gehört für ihn auch, Abschied von früher zu nehmen. Und er zeigt im Keller auf eine Kiste mit seiner alten Polizeiuniform: „Da ist meine Vergangenheit begraben.“

20.11.2008„Ich habe einen Menschen erschossen!“

Nürnberger Abendzeitung

In einem bewegenden Buch verarbeitet Ex-Polizist Michael Muche (51) aus Schweinfurt den schwersten Tag in seinem Leben.Kalt lässt dieser Buchtitel nicht: „Ich habe getötet“, drei Wörter, die vom Leben erzählen. Vom Leben, dessen, der getötet hat. Und auch vom ende dieses Lebens. Geschrieben hat es Michael „Mike“ Muche (51). Bis zum 1. März 2004 war er Polizist. An dem Tag erschoss er bei einem Routine-Einsatz in Schweinfurt einen Menschen. Der Notwehr-Akt teilt sein Leben in ein Vorher und Nachher.„Es war nicht als Buch gedacht, ich hab’s auf Anraten der Ärzte und der Polizei-Sozialtante getan.“ Wer Muche so lax reden hört, wer sein verschmitztes Gesicht sieht, der käme nicht darauf, dass er seit 2004 ein kranker Mensch ist. „In meinem Kopf stimmt nichts mehr, der Körper reagiert“, erzählt er von seinem Gehörsturz, dem Bluthochdruck, den Geschwüren in der Speiseröhre.Der Bruch in seinem Leben begann mit einem Routine-Einsatz: Familienstreit in Schweinfurt. Er als „alter Sack“ kennt diese Einsätze, hat schon mal einen zum Aufgeben bequatscht, der ihn mit dem Messer bedrohte – und hat danach mit ihm eine geraucht.So dramatisch schaut’s in dieser Nacht nicht aus. Die Frau lässt ihn und den Kollegen in die Wohnung, es ist ruhig – bis Muche einen Mann im Wohnzimmer entdeckt. Er hat eine Waffe in der Hand und zielt auf ihn ...Es war der Bruder eines FreundesMuche lässt den Leser an jedem seiner Gedanken teilhaben. Authentisch. Kein Lektor hat begradigt, vielleicht ist das auch gut so: Deckung! „Wohin mit meinem großen Körper?“ Die Todesangst. „Warum habe ich gerade heute meine Schutzweste nicht an? Du faules Schwein, das hast du nun davon.“ „Ich habe noch niemals auf einen Menschen geschossen. Und ich will das auch nicht. Kann das nicht. Wird der Einschlag sehr wehtun? Oder bin ich gleich tot? Warum gehorcht mir mein Zeigefinger nicht? Schieß doch endlich, bevor er es tut! Es hat sich alles reduziert auf mich und diese übergroße Mündung. Der Beginn eines traurigen, verzweifelten Zwiegespräches.“Das Zwiegespräch endet mit einem Schuss aus Notwehr. Später erfährt Muche, dass er den Bruder eines Freundes getötet hat, der auf ihn mit einer täuschend echten Schreckschusspistole gezielt hat. „Es dauerte drei Monate, bis ich mit ihm sprechen konnte. Wir haben zusammen geweint.“Nach 14 Tagen traute sich Muche wieder in den Streifenwagen. Doch der Polizist, früher Typ Schimanski, schlotterte innerlich vor Angst. „Das war das Schlimmste: Sich nach 30 Jahren Dienst einzugestehen, dass ich nicht mehr kann. Dass sich mein Partner nicht mehr auf mich verlassen kann, weil man solche Angst hat.“Die Angst, noch einmal in Todesangst zu geraten, ist so groß, dass sie ihn arbeitsunfähig macht, dass er Aufenthalte in psychosomatischen Kliniken wahrnimmt. „Es war hart, das zu akzeptieren.“ Auch, den Satz zu sagen: „Ich habe getötet“, ein Satz wie festgemeißelt, der keinen Raum für Ausflüchte lässt.All das schrieb sich Muche von der Seele und verlegte es in Eigenregie. Das Leben des Hausmannes („bin ich gerne“) ist seitdem nicht mehr ruhig: Kollegen, die es lasen, rufen an und gratulieren. „Das hilft mir sehr“, erzählt er. Er weiß auch, dass er nicht allein ist.Diese Mail erreichte ihn auf seiner Homepage: „Hallo Mike, Ich habe heute nach dem Nachtdienst dein Buch vom Buchhändler erhalten. Wollte nur schnell reinschauen. Bin mit Lesen soeben fertig geworden – mit den Tränen auch. Das liegt wohl daran, dass ich teilweise mein eigenes Erlebnis gelesen habe. Ich habe auch getötet!“

06.02.2009„Ich habe getötet“ - Bekenntnis eines Polizisten

Spiegel online

30 Jahre lang musste Polizist Michael Muche nicht auf einen Menschen schießen. Doch dann bedroht ihn eines Nachts ein Betrunkener mit einer Pistole - und Muche drückt ab. Als der Mann stirbt, stellt sich heraus: Er war der Bruder eines Freundes. Eine Geschichte über Schuld, Verzweiflung und das Trauma des Tötens.Schweinfurt - "Der Vorfall", wie Michael Muche die Nacht nennt, in der er einen Menschen tötete, begann mit heiseren Worten am Telefon. 110. Polizeinotruf. "Ja, hallo", flehte eine junge Frau, "mein Freund tickert aus. Ich bräucht Hilfe." Sie nannte ihren Namen, eine Adresse im Schweinfurter Norden, dann legte sie auf. Das Gespräch hatte auf die Sekunde genau eine Minute gedauert. Es war der 1. März 2004. Die Uhr in der Leitstelle zeigte 22.54 Uhr.Im Streifenwagen der Polizeihauptmeister Michael "Mike" Muche und Gustav G.* knackte das Funkgerät: Einsatz. Häusliche Gewalt in der Friedhofstraße. Mit Blaulicht glitten die Beamten durch die einsamen Straßen der Kleinstadt. Montagabend, es schneite in dicken Flocken. Wir kriegen das in den Griff, dachten die beiden. Passt schon. "Ich mach den Schreibkram", sagte Mike.Jahre später schreibt der Polizist Muche tatsächlich, monatelang hackt er auf seinen Laptop ein. Doch es entsteht kein Protokoll, wie er vor dem verhängnisvollen Einsatz im März 2004 noch gedacht hat, sondern ein schonungsloses, bewegendes, 196-seitiges Taschenbuch im Selbstverlag, auf dessen Titel eine Pistole prangt und der Schriftzug: "Ich habe getötet."Der heute 51-jährige Muche gehört zu den wenigen Polizisten, die den Mut und die Kraft gefunden haben, sich öffentlich zu bekennen: Ja, ich habe einen Menschen erschossen. Ich habe das ultimative Tabu unserer Gemeinschaft gebrochen, weil ich nicht anders konnte, weil ich musste, weil "der andere" mich dazu gezwungen hat. Und fast wäre ich daran zerbrochen."Polizei. Machen Sie bitte auf!"Die Friedhofstraße Nummer 21 ist ein Altbau in einer ruhigen Gegend - oft hatten Muche und seine Kollegen hier nicht zu tun. Doch in dieser kalten Märznacht mussten die Polizisten Treppen fressen, fünf, sechs, sieben, bis ganz nach oben in die Dachgeschosswohnung. Warum wohnen "diese Leute nie im Erdgeschoss? Immer dasselbe", schimpfte Muche. Keine Klingel, das Haus ist dunkel und totenstill. Sie klopften. Eine Stimme wisperte: "Wer ist denn da?" - "Polizei. Machen Sie bitte auf!"Langsam, wie Muche sich zu erinnern meint, schwang die Tür auf. Eine blasse, junge Frau stand ihnen gegenüber, ein Golden Retriever an ihrer Seite, die Wohnung lag in schummrigem Licht. "Moment, ich sperr den Hund ins Bad." Im Wohnzimmer hockte ein massiger Mann im Schneidersitz auf dem Fußboden, Ziegenbart, kahler Schädel. "Was war denn los?", fragten die Uniformierten.Keine Antwort.Unvermittelt zog Jörg S.*, 35, stattdessen eine Pistole unter seinem Bein hervor und richtete sie auf die Polizisten. Silbern, glänzend, riesengroß war die Waffe, ihre Mündung schien alles zu verschlingen. Der Tod in Händen eines Betrunkenen. "Ach, du Scheiße", dachte Muche. Jetzt ging alles ganz schnell, eine Minute noch, vielleicht anderthalb."Knarre weg!"Die Beamten rissen ihre Dienstwaffen vom Typ Heckler & Koch P7 aus den Holstern und sprangen in Deckung. "Knarre weg! Knarre weg", brüllte Muche den Mann an. Keine Reaktion. Jörg S. stand auf und ging langsam auf die beiden zu, die Pistole im Anschlag. "Knarre weg!" S. zeigte keine Regung. Er zielte.Muche hastete aus der Wohnung, Panik, Todesangst, Hirnkrampf - und rannte sofort wieder zurück. "Gustav ist noch drin." Ein Schuss peitschte durch den Raum, "laut wie ein Donnerschlag", Muches Partner schlug zu Boden. "Scheiße, scheiße, scheiße!" Mike drückte ab, fünfmal, und schließlich, ganz langsam, die Pistole noch immer auf den Polizisten gerichtet, sackte Jörg S. zusammen. Es war vorbei.Michael Muche ist ein mittelgroßer, mittelschwerer Mann mit grauem Schnurrbart und grauen Haaren. Er trägt eine schwarze Hose, einen schwarzen Pullover, schwarze Lederstiefel, "alles muss schwarz sein", und starrt in seinen Kaffee mit Milch und viel Zucker. Äußerlich ungerührt erzählt er seine Geschichte, doch die stahlblauen Augen füllen sich langsam mit Tränen.Seit vier Jahren schläft Michael Muche nicht mehr richtig, und wenn doch, träumt er von Menschen ohne Hände, von Gewalt, Kampf und der Mündung einer Pistole. Er, der Sunnyboy, der Macher, der das Leben im Griff zu haben glaubte, keine Angst kannte und Probleme, die er nicht lösen konnte, "einfach abhakte", wie er sagt, ist inzwischen ein kranker Mann: Posttraumatische Belastungsstörung lautet die Diagnose. Der Freistaat hat Polizeihauptmeister Michael Muche nach 33 Dienstjahren deshalb frühpensioniert.Der Bruder eines FreundesWenige Tage nach "dem Vorfall" musste Muche von seinem Vorgesetzten erfahren, dass er den Bruder eines Freundes erschossen hatte. Er war ihm nie zuvor begegnet. Schlimmer noch: Es stellte sich heraus, dass Jörg S. nur eine Schreckschusswaffe auf die Polizisten gerichtet hatte. Den Schuss, den Muche hörte, gab sein Kollege G. ab - und fiel danach in eine Art Schockstarre.Staatsanwaltschaft und Landeskriminalamt kamen in ihren Ermittlungen gleichwohl dem Ergebnis, dass Jörg S. sterben wollte und den tödlichen Zwischenfall deshalb provoziert hatte. Der 35-Jährige, der zum Zeitpunkt des Unglücks stark angetrunken war, zwang demnach seine Freundin, die Polizei zu rufen, um in einer vermeintlichen Notwehrsituation erschossen zu werden. "Suicide by cop" nennen das US-Polizeipsychologen.Er habe sich vor dem Unglück gedanklich oft mit der Frage beschäftigt, "was tue ich, wenn mich einer mit einer Pistole bedroht?", sagt Muche. "Jeder Polizist tut das." Und er sei sich immer sicher gewesen: "Dann blase ich den halt weg." Doch so einfach war das nicht.Eine idiotische IdeeDer Polizeiarzt riet Muche, möglichst schnell in einen Streifenwagen zu steigen. "Wie beim Reiten. Wer vom Pferd gefallen ist, muss sofort wieder aufsteigen." Eine idiotische Idee.Zwei Wochen nach den tödlichen Schüssen war Muche zurück auf der Straße, Polizeiinspektion Schweinfurt-Stadt, Dienstgruppe B - alles wie früher, nur die Panikattacken waren neu. Muche wollte sie niederringen wie sonst die Betrunkenen, die Randalierer und Schläger. Es ging nicht.Die Beamten wurden zu einem Familienstreit gerufen, Muche war wieder der erste an der Tür, kalte Angst im Nacken und einen unerfahrenen Kollegen an der Seite. Er zog die Waffe, zitterte und brüllte sein Gegenüber an: "Nimm die Hände aus den Taschen!" Doch der Afghane verstand ihn nicht. "Wenn er in diesem Moment eine hastige Bewegung gemacht hätte, hätte ich ihn erschossen. Einen Unschuldigen", sagt Muche. "Da war mir klar: Ich kann nicht mehr."Der Freund und Helfer, der Problemlöser, Macho und Frauenheld brauchte nun professionelle Hilfe. Denn die gesellschaftlichen Normen, nach denen unsere Psyche arbeitet, kennen keine Notwehr, keine mildernden Umstände, sie sagen bloß: Du sollst nicht töten. Punkt, aus, basta. Mancher entkommt den Schuldgefühlen nicht, auch wenn er keine Schuld hat.Klein Glück, nirgendsMuche machte Therapien, besuchte Psychologen, sprach in Gruppen oder alleine über sein Trauma. Auch davon handelt das aufwühlende Buch. Der fast 50-Jährige räumte sein Leben auf, er versuchte, private Fehler wiedergutzumachen, sich zu versöhnen und auszusprechen. Nicht zuletzt mit den Angehörigen von Jörg S.Stundenlang redete und weinte er mit dem Bruder des Getöteten. "Er hat mir nie Vorwürfe gemacht", sagt Muche, und ab und an sähen sie sich auch noch. "Aber die Freundschaft hat sich erledigt. Das geht nicht mehr." S. Mutter, der er einen langen Brief geschrieben habe, könne ihm wohl nicht verzeihen. "Ich muss das akzeptieren", so Muche.Glück, so meint der Mann, der getötet hat, werde er in seinem Leben ohnehin nicht mehr empfinden. Allenfalls Zufriedenheit. "Und das wäre schon viel."

15.01.2009Leben mit der Schuld

Stern

Es ist ein Routineeinsatz, den Mike Muche mit seinem Kollegen am Abend des 1. März 2004 fährt: Familienstreit, die Frau öffnet, das ist oft so. Doch dann sitzt dieser tätowierte Kerl vor ihnen und richtet eine Pistole auf die Polizisten. Waffe fallen lassen!, rufen sie, keine Reaktion, ein Schuss fällt, Muches Kollege kippt um. Fünfmal feuert Muche daraufhin, der Tätowierte stirbt zwei Tage später im Krankenhaus. Da hat sich längst herausgestellt, dass er nur eine Schreckschusspistole hatte, der erste Schuss von Muches Kollegen abgefeuert wurde, der lediglich im Schock umfiel – und dass der Getötete der Bruder eines guten Freundes von Muche war.Nach zwei Wochen ist Muche wieder im Dienst. „Wie beim Sturz vom Pferd: Man soll gleich wieder rauf“, hat ihm sein Arzt geraten. Wenn Muche in den Streifenwagen steigt, schüttelt ihn panische Angst. Im ersten Nachtdienst soll er sofort wieder zu einem Familienstreit – unmöglich. Steckt jemand die Hände in die Hosentasche, muss sich Muche zwingen, nicht in Panik die Waffe zu ziehen. Das ist die Angst.Und die Schuld? Die Ermittlungen gegen Muche werden eingestellt. Der Erschossene war psychisch krank, er wollte die Polizisten zum Schuss provozieren, eine Art Selbstmord, „suicide by cop“, es gibt einen Fachbegriff dafür. „Gut, ich wusste das“, sagt Muche, 51, heute, „ich wusste, dass mich keine Schuld trifft.“ Allein: Es half nichts.Die gesellschaftlichen Normen sagen: Du sollst nicht töten. Und die Psyche fragt oft nicht nach Kriterien wie Notwehr oder mildernde Umstände. „Es kann sogar ausreichen, dass man nur irgendwie an einer Kette von Ereignissen beteiligt war, die zum Unglück führten“, sagt Echterhoff. Die meisten Lokführer leiden unter Schuldgefühlen, wenn ein Selbstmörder vor ihren Zug springt, obwohl sie keine Chance zu bremsen haben. Echterhoff leitet ein bundesweites Netzwerk zur Soforthilfe für Unfallbeteiligte. Speziell ausgebildete psychologische Traumatherapeuten sorgen direkt nach dem Unglück für Abschirmung, beantworten die ersten drängenden Fragen. Sie führen die Erschütterten später in geschützten Therapieräumen wieder an die alltäglichen Selbstverständlichkeiten heran, die für sie zum Horror geworden sind.Der Polizist Muche suchte nach einer Traumatherapie den Weg nach außen – er schrieb ein Buch über seine Erfahrungen, er tippte schnell, aber seine Finger kamen nicht hinterher, so viel wollte gesagt sein. Er nannte es: „Ich habe getötet“. Er sagt: „Das musste alles raus.“

11.09.2009Wenn Polizisten im Dienst töten

ARD Brisant

30 Jahre lang war Mike Muche Polizist. Bis ein Einsatz sein ganzes Leben veränderte. Vor fünf Jahren erschoss Muche im Dienst einen Mann. Seine Schuldgefühle verarbeitet er in einem Buch.Diesen Einsatz vor fünf Jahren wird Mike Muche nie vergessen: Gegen 23:00 Uhr schickt die Polizeizentrale ihn und seinen Kollegen zu einem Nachbarschaftsstreit – ein Routineeinsatz. In der Wohnung befinden sich ein Mann und eine Frau, doch von einem Streit ist nichts zu sehen.Als der Polizist fragt, was denn los ist, holt der Mann wortlos eine Schusswaffe unter seinem Oberschenkel hervor und zielt auf die beiden Beamten.Plötzlich fällt ein Schuss ...Eine gefühlte Ewigkeit blicken der Polizei-Hauptmeister und sein Kollege in die Mündung der Waffe. Dann fällt ein Schuss. Der Kollege stürzt zu Boden. Daraufhin schießt auch Mike Muche – mehrmals. Was er in diesem Moment fühlt, hat er in einem Buch festgehalten.„Beim dritten Schuss sehe ich den Riesen wanken. Warum senkt er seinen Arm nicht? Ich hab doch getroffen, er muss fallen – er muss! Ich will nicht sterben! Vierter Schuss, er fällt nicht. Zielt weiter mit seinen wahnsinnigen Augen auf mich. Fünfter Schuss – jetzt fällt er zu Boden: langsam, ganz langsam.“Erst später stellt sich heraus, dass der erste Schuss aus der Waffe des anderen Polizisten kam. Er hatte daneben geschossen ist unter Schock zu Boden gefallen. Der Mann, den Mike Muche erschossen hat, hatte lediglich eine Schreckschusspistole. Hinzu kam, dass sein Opfer kein Unbekannter ist. Mike Muche kennt die Eltern, hatte mit ihnen Silvester gefeiert.Lähmende SchuldgefühleHeute ist Mike Muche frühpensioniert. Sein Leben ist geprägt von Angst und Alpträumen. Nach 30 Jahren im Polizeidienst muss Muche erkennen, dass er diesen Beruf für immer an den Nagel hängen muss. Noch einmal versucht er, sich in einem Streifenwagen zu setzen und Dienst zu tun – in Panik verlässt er die Streife.Seit dreieinhalb Jahren ist Mike Muche bei einem Therapeuten in Behandlung. Langsam lernt er mit den immer wieder kehrenden Angstgefühlen umzugehen. Mike Muche leidet an der sogenannten posttraumatischen Belastungsstörung. Niemals hätte er geglaubt, dass ihn ein solches Ereignis einmal so aus der Bahn werfen würde.Christian Knorr ist Facharzt für psychosomatische Medizin. Er sieht die Entwicklung bei Mike Muche immerhin positiv. Sein Patient hat immer hin wieder Lebensfreude, hat sich nicht total zurückgezogen oder ist in eine Sucht abgeglitten. Allerdings, schränkt Knorr ein, wird er nie wieder im Polizeidienst arbeiten können.

0Ein Mann mit zwei Leben

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Bei einem Polizeieinsatz in Schweinfurt im März 2004 tötet Mike Muche in Notwehr einen Menschen. Er selbst stirbt auch. Über sein Trauma hat er ein Buch geschrieben.Es ist Montagabend. Nachtschicht. Wird wahrscheinlich ein ruhiger Abend. Die Rumtreiber sind noch erschöpft vom Wochenende, schonen ihre Geldbeutel und ihre Leber. Diese Nacht werden wir keinen Stress haben. Aber wir werden auf grausame Art vom Gegenteil überzeugt. Diese Nacht wird es uns zeigen. Nicht jeder Montag ist ruhig. Es reicht einer, um dein Leben zu ändern.Für Mike Muche ist dieser alles verändernde Montag der 30. März 2004. Und es sind diese Worte, mit denen er beginnt, die für ihn verhängnisvolle Nacht im Dienst der Schweinfurter Polizei niederzuschreiben. Eine Nacht, die er bis heute Tausend Mal durchlebt hat und die immer noch andauert. Die ihn in ein tiefes schwarzes Loch gesogen hat, in einer Weise, die er sich in seinen schlimmsten Träumen nicht hätte vorstellen können. Schlimme Träume hat er seither meist mehrmals pro Woche, Gewaltträume. Von bedrohlichen Waffenmündungen. Von Menschen ohne Händen. Von Kugeleinschlägen in seinem Körper. „Ich habe seit dem Tag keine Nacht mehr durchgeschlafen, sagt der 51-Jährige an diesem verregneten Dezembermorgen in einem Würzburger Café. Wieder ein grauer, kalter Montag. Mehr als viereinhalb Jahre später. „Aber man gewöhnt sich daran. Ich bin froh, dass ich die Albträume habe – denn wenn ich nicht froh wäre, hätte ich sie auch.“ Mike Muche ist ein stattlicher Mann. Lässige, schwarze Kleidung, Schnauzer, glitzernder Stecker im linken Ohr. Eine Mischung aus Horst Schimanski und Armin Mueller-Stahl, so und so. Äußerlich haben die zermürbenden Nächte Mike Muche nicht gezeichnet. Die Schlaflosigkeit hat weder schwarze Ringe unter seinen wachen blauen Augen gemalt noch tiefe Furchen in sein solariumgebräuntes Gesicht gegraben. Dass es in ihm anders aussieht, das verraten jedoch allein seine Träume. Sie sind Teil des Traumas, mit dem er seit mehr als viereinhalb Jahren lebt, leben muss. In einem Buch, das am 14. Oktober erschienen ist, hat er versucht, es zu verarbeiten. Es trägt den Titel: „Ich habe getötet. Chronik eines Polizistenlebens.“Telefonische Mitteilung über einen Familienstreit in der Innenstadt. Wohnung ganz oben. Ich klopfe mehrmals. Kein Geschrei – keine laute Musik oder lauter Fernseher. Trügerische Stille. Dann von innen eine leise Frauenstimme: „Wer ist denn da?“ Wer soll wohl da sein kurz vor 23 Uhr? Der Briefträger? Milchmann? Der Drücker der Zeitungskolonne? Die Frau, die öffnet, ist noch jung. Sie ist äußerlich unverletzt, extrem ruhig und gefasst. Völlig untypisch für einen Familienstreit. Ganz hinten im Wohnzimmerbereich erkenne ich einen Mann am Boden sitzen. Fast eine Glatze. Spitzbart. Riesenschädel. Meine fast schon gelangweilte Frage „Was war denn los?“ ist noch nicht ganz im Raum verklungen, als die sitzende Gestalt plötzlich ohne Vorwarnung seinen rechten Arm hebt und ich mit Entsetzen in die große, runde Öffnung einer Schusswaffe blicke. Das silberne, glitzernde Teil hat für mich die Ausmaße einer mittelalterlichen, riesigen Kanone. Groß – glänzend – bedrohlich – tödlich ...In diese Mündung hat Mike Muche Tausend Mal geblickt. Sie ist der Eingang zu seinem schwarzen Loch, sie hat ihn aufgesaugt. „Ich kann nicht mit Worten ausdrücken, wie sich Todesangst anfühlt“, sagt er heute. „Ebenso wenig, wie man Angst trainieren kann.“ Auch nicht in 30 Jahren Polizeidienst. „Selbstverständlich werden unsere Beamten in der Aus- und Fortbildung auf Extremsituationen vorbereitet“, sagt Manuel Rösch, Pressesprecher des Polizeipräsidiums Unterfranken. Etwa in speziellen Einsatztrainings im Verband der Bayerischen Bereitschaftspolizei. Dort würden jährlich, in der Regel in vier Modulen, unterschiedliche aktuelle Themen praktisch trainiert sowie rechtlich und psychologisch besprochen. Vor allem muss ein Polizist wissen, wie er mit seiner Schusswaffe umgehen und in welcher Situation er überhaupt von ihr Gebrauch machen darf. Anlassbezogen, so Rösch, führe das Polizeipräsidium Unterfranken zudem Workshops durch, die Beamte gezielt auf belastende Situationen vorbereiten. Dennoch gelte: „Ein Schusswaffengebrauch gegen eine Person ist immer eine psychologische Ausnahmesituation.“ Röschs Kollege Karl-Heinz Schmitt ergänzt: „Kein Polizist schießt gerne. Die meisten kommen während ihrer gesamten Berufszeit um Einsätze herum, bei denen das nötig ist.“ Nicht so Mike Muche. Wohin mit meinem großen Körper? Weg aus der Schusslinie! Der Kaminismus! Warum habe ich gerade heute meine Schutzweste nicht an? Du faules Schwein. Ich stehe zitternd hinter dem kalten Beton des Kamins. An meiner Seite der Kollege, dessen spürbare Angst mich anspringt. Ich habe noch niemals auf einen Menschen geschossen. Und ich will das auch nicht. Kann das nicht. „Knarre weg!! Knarre weg!!“ Mein Schrei – mein Befehl – mein Flehen – meine Hoffnung ... Keine Reaktion. Dieser Sack sagt nicht mal einen Ton. Glotzt nur mit stumpfem, starrem Blick. Und die Mündung wird immer größer. Warum gehorcht mir mein Zeigefinger nicht? Deine Hand zittert ohne Ende. Dein Arm – dein ganzer Körper. Rede es dir nur ein, du feige Sau! Du hast Angst, auf einen Menschen zu schießen!! Er steht auf. Mit gestrecktem Arm kommt er auf mich zu. Ein Riese – ein bewaffneter Goliath mit wahnsinnigen Augen. Die Waffe genau auf meinen Kopf gerichtet ... Ich bin plötzlich ganz alleine in dieser düsteren Wohnung. Es hat sich alles reduziert auf mich und diese übergroße Mündung.Mike Muche legt seine Hände auf den Cafétisch. Ein massiver Silberring am rechten Ringfinger, ein dazu passender Armreif am linken Handgelenk. Gepflegte Hände, gebräunte Hände, ohne gelbe Flecken von den 50 Zigaretten, die er täglich raucht. Er öffnet sie, als wolle er zeigen, dass er nichts darin versteckt hält. Dann erklärt er: „Bis heute muss ich bei anderen Menschen sehen, dass sie leere Hände haben. Auch wenn ich nur über den Weihnachtsmarkt schlendere und mein Blick jemandem in der Masse begegnet, der seine Hände in den Jackentaschen vergräbt, wird mir immer noch unwohl.“ Tausend Mal haben verborgene Hände in Mike Muche Panik ausgelöst.Ich muss weg hier. Sofort. Renne ... durch die gefährliche Schusslinie. Die kurze Strecke bis zur Tür fliege ich fast. Ich bin draußen – geschafft. Der erste gesteuerte Gedanke nach der Flucht: Mein Zwergenkollege! An der Wohnungstüre sehe ich den Riesen vor meinem kleinen Gustav stehen. Ich renne auf beide zu. Bevor ich angekommen bin, tritt der Bewaffnete plötzlich zurück, hebt erneut und blitzschnell seinen Arm. Die Waffe ist auf Gustav gerichtet. Aus zirka einem Meter. Ein Schuss!!! Mein Gustav fällt nach hinten auf den Rücken. Der Arm schwenkt nun wieder in meine Richtung ... Todesangst!!! Jetzt werde ich hingerichtet! Die Mündung hat eine unvorstellbare Größe erreicht. Sehe nur noch dieses fürchterliche Loch. Sterben oder Leben ... Leben oder Sterben ... Mein Finger krümmt sich endlich von alleine und der Schuss verlässt meine Waffe. Warum reagiert er nicht? Warum fällt er nicht? Ich schieße wieder. Keine Reaktion. Beim dritten Schuss sehe ich den Riesen wanken. Warum senkt er seinen Arm nicht? Ich will nicht sterben. Vierter Schuss. Fünfter Schuss. Jetzt fällt er zu Boden. De Arm senkt sich. Das übermächtige Loch zielt nicht mehr in mein Gesicht, saugt mich nicht mehr auf. Ich lebe lebe lebe ...Diese Nacht des 30. März 2004, die sich binnen Minuten abspielt, überleben zunächst alle drei Männer. Der Bewaffnete, der mit drei Treffern im Bauchbereich ins Krankenhaus eingeliefert und dort notoperiert wird. Gustav, der als Erster geschossen, ihn aber verfehlt hatte: Aus Panik ließ sich der Polizist nach hinten fallen und stellte sich tot. Und auch Mike Muche überlebte. Zumindest sein Körper, seine Hülle, bleibt unversehrt. „Aber schon im Moment damals habe ich etwas gemerkt“, sagt er heute.Dass ich doch gestorben bin in der kleinen Dachwohnung. Nicht durch den Einschlag einer Kugel. Anders. Wer überlebt hat, ist nicht der Mike von früher. Es wird mir bewusst, dass ich mein erstes Leben beendet habe. Im Alter von 46 Jahren.Es ist nicht der einzige Tod, den Mike Muche stirbt. Bereits wenig später in dieser Nacht teilen ihm seine Kollegen von der Kripo mit, dass der Mann keine scharfe, sondern eine Schreckschusswaffe hatte. Zwei Tage später erliegt er im Krankenhaus seinen schweren Verletzungen. Der Mann war 35. Mike Muche hat ihn erschossen. Er kannte ihn nicht. Aber er kennt seine Eltern und seinen Bruder – sie sind seit langem Freunde von ihm. Drei Monate zuvor hatte Muche mit den dreien Silvester gefeiert. Er hat ihnen den Sohn und Bruder genommen. Der Bruder hat ihm verziehen: „Ich konnte erst drei Monate nach dem Vorfall mit ihm sprechen. Wir haben zusammen geweint.“ Die Mutter kann das offenbar nicht – oder noch nicht. Das erkennt Mike Muche in ihren Augen, wenn er ihr gelegentlich in Schweinfurt begegnet: in ihnen wähnt er immer noch Hass. Der Vater des Toten ist selbst im Frühjahr gestorben. „Ich glaube an Schicksal“, sagt Mike Muche an diesem Dezembermorgen. „Man bekommt alles im Leben zurückbezahlt. Für mich war das eine Abrechnung für früher. Da war ich ein richtiger Drecksack.“ Auch darüber schreibt er in seinem Buch. Von Exzessen, von Untreue, von zwei gescheiterten Ehen.Was in meiner späten Jugend und in der Phase des frühen Erwachsenseins für ein schlechter, charakterloser Mensch war. Aber dazu stehe ich und bin mir meiner vielen Fehler und Schwächen sehr bewusst. Es ist eine wirklich ernst gemeinte Entschuldigung an all die Menschen, die ich verletzt habe. Ich hoffe von ganzem Herzen, dass sie diese Entschuldigung annehmen, nachdem sie gelesen haben, dass ich für meine Verfehlungen hart sehr hart bestraft wurde.Warum? Warum nur, fragt man sich beim Lesen des Buches und während des Gesprächs, verkettet dieser Mann seine berufliche Lebenslinie so untrennbar mit seiner privaten, und warum geißelt er sich so sehr mit dieser Kette? Warum nur versucht er die für ihn schicksalhafte Nacht nicht als das zu akzeptieren, was sie war: ein – wenn auch tragischer – Dienstunfall? Das in solchen Fällen obligatorische Ermittlungsverfahren hat die Staatsanwaltschaft rasch eingestellt, seine Unschuld hat er Schwarz auf Weiß: Es war vermeintliche Notwehr, Putativnotwehr im Fachjargon. Mike Muche nimmt einen tiefen, hastigen Zug von seiner Zigarette und bläst eine Rauchwolke in die Winterluft, draußen vor dem Café. Als müsste er Dampf ablassen, weil er der Frage überdrüssig ist. Dann antwortet er freundlich, aber bestimmt: „Das so zu sehen, wollte mit mein erster Psychologe schon immer einreden. Ich hab’s auch versucht. Aber zu wissen, dass mich keine Schuld trifft, weil ich nur um mein kleines bisschen Leben gekämpft habe, hilft mir nicht weiter. Es geht nicht. Es geht einfach nicht.“ Sätze, die Mike Schimanski Muche nicht leicht über die Lippen kommen. Denn eigentlich ist sein Lebensmotto das genaue Gegenteil davon: Geht doch! An vielen Stellen im Buch zu lesen, mal selbstmotivierend, mal selbstironisch. Seit der Nacht des 30. März 2004 aber geht alles in seinem Leben einen anderen Gang. Oder eben: Es geht gar nicht mehr. Seine Gesundheit rebelliert. Bluthochdruck, Gehörsturz, stressbedingte Magenprobleme, Geschwüre in der Speiseröhre. Mein Körper und mein Geist geben auf. Der Akku ist leer. Die Batterien laden sich nicht mehr auf. Ich gehe in die Klinik.Drei mehrwöchige Aufenthalte in psychosomatischen Kliniken hat Mike Muche inzwischen hinter sich, der letzte ist ein Jahr her. Weihnachten und Silvester 2007 verbringt er am Chiemsee. „Dort rieten mir die Ärzte, meine Geschichte als eine Art Nebentherapie niederzuschreiben. Meine Sozialtante vom Polizeipräsidium brachte mich später auf die Idee, das Ganze als Buch zu veröffentlichen.“ Die Frau vom Sozialen Dienst ist eine derjenigen, die Mike Muche von Seiten der Polizei betreuen, auch mit einem Psychologen des Zentralen Psychologischen Dienstes führt er viele Gespräche. „Die Nachbetreuung ist essentiell in solchen Fällen“, sagt Pressesprecher Manuel Rösch. „Sie werden auch in unseren Dienststellen auf- und nachbearbeitet. Das ist besonders wichtig, denn nach dem Einsatz ist vor dem Einsatz.“ Zu den Rädchen, die bei innerhalb der Bayerischen Bereitschaftspolizei in brisanten Fällen wie diesen ineinandergreifen, gehören auch ein Seelsorger und eine Selbsthilfegruppe. Sie trifft sich alle drei Monate in Nürnberg, Mike Muche ist regelmäßig dabei. Alle Polizisten dort haben Ähnliches erlebt wie er, wurden im Einsatz Täter oder Opfer – oder beides zugleich. In Unterfranken haben nach Angaben des Polizeipräsidiums in den vergangenen sechs Jahren insgesamt drei Polizeibeamte in Notwehr einen anderen Menschen erschossen; in Bayern waren es laut dem Staatsministerium des Inneren im gleichen Zeitraum ??? Beamte. Viele von ihnen leiden jahre- oder gar jahrzehntelang.Auch Mike Muche ist immer noch in ambulanter psychosomatischer Behandlung. Sein Arzt und Psychotherapeut Christian Knorr aus Veitshöchheim hat eine posttraumatische Belastungsstörung bei ihm diagnostiziert. „Das ist keine eigene psychische Krankheit, sondern eine Störung, die gesunde Menschen in Folge eines traumatischen Erlebnisses erleiden – einer Situation, der sie hilflos ausgeliefert sind, in der sie nicht weder kämpfen noch fliehen können“, erklärt Knorr. Ein Unfall, ein Überfall, ein Übergriff mit sexueller Gewalt etwa. „Ein Trauma bedeutet eine Verletzung der Seele. Sie hat meist auch körperliche Auswirkungen wie Änderungen der Gehirnfunktionen und –strukturen. Bei manchen Patienten verkleinert sich beispielsweise der Hippocampus.“ Die Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung treten laut Knorr in der Regel nicht unmittelbar auf, sondern erst Wochen oder Monate nach dem Erlebnis. Dazu zählen so genannte Intrusionen: Gefühle, Gerüche, Gedanken und vor allem Bilder des Traumas – wie die Waffenmündung im Fall von Mike Muche. Außerdem Übererregungen (Hyperarousel), sprich ständige innere Unruhe, Rast- und Schlaflosigkeit, sowie Schmerzen und Vermeidungen: Der Patient muss sich allem entziehen, was mit dem Trauma zu tun hat. „Herr Muche konnte sich zum Beispiel nicht mehr in einen Streifenwagen setzen.“Erster Nachtdienst nach dem Vorfall: Fahren Sie zu einem Familienstreit! Mein Herz schlägt bis zum Hals – im Kopf sind die gleichen Bilder ... Aber ich bin stark. Nur Schwächlinge zeigen Angst. Ich kämpfe jede Minute in diesem beschissenen Streifenwagen mit meiner Furcht. Ich kämpfe mich von Schicht zu Schicht. Meine Arbeit leidet unter meinem Erlebnis. Ich verändere mich. Ich werde zornig, wütend, aufbrausend ... Ich raste aus bei der Aufnahme eines Kleinunfalls, nur weil der Beteiligte die Hände in seiner Jacke hat. Er weiß nicht, was dieser durchgeknallte Bulle hat. Ich schon. Angst! Nichts als Angst! Ich bin eine Gefahr für mich, meinen Streifenpartner und vor allem für den Menschen, der mir im Einsatz über den Weg läuft ...„Wenn ich weiter so meinen Dienst gemacht hätte, hätte ich einen Unschuldigen erschossen.“ Davon ist Mike Muche heute noch überzeugt. Es geht nicht mehr. Das schwarze Loch ist zu tief, der Sog zu stark. Kein ganzes Jahr verbringt er nach dem Vorfall zwischen seinen Klinikaufenthalten insgesamt im Dienst. Mit der posttraumatischen Belastungsstörung, die eine Depression nach sich zieht, kann er nicht mehr als Polizist arbeiten. Sich das nach 30 Jahren im Dienst eingestehen zu können, „das war das Schlimmste“. Ein abschließendes psychologisches und psychiatrisches Gutachten bestätigen seine Dienstunfähigkeit. Im Juli 2007 wird er deswegen vorzeitig in den Ruhestand versetzt. In Unterfranken ist der Fall Muche laut Polizeipräsidium in den vergangenen Jahren der einzige Fall von Schusswaffengebrauch in Notwehr mit diesem Ausgang. Für Mike Muche ist es ein Befreiungsschlag.Ich bin es leid, jedem meine Situation zu erklären und mich ständig verteidigen zu müssen. Ich hätte so gerne eine Narbe, eine für alle sichtbare Verletzung. Einen Durchschuss an der Schulter. Schaut alle her – von meinem Schusswaffengebrauch. Verständnis pur – ach Gott, der arme Mike. Logisch, dass der noch so leidet! Wahrscheinlich schmerzt die Wunde bei Wetterumschwung noch sehr ... Aber ich habe keine sichtbare Narbe, die ich zeigen könnte. Meine Narbe sitzt so tief in meiner Seele, dass nur wenige Menschen sie sehen können. Ich müsste den ganzen Tag mit Tränen in den Augen herumlaufen und die Mundwinkel sollten bis zu den Brustwarzen hängen. Vielleicht noch einen gebeugten, schleppenden Gang? Wollt ihr das sehen?Mike Muche hofft, dass all die Skeptiker ihn dank seines Buches nun besser verstehen werden. „In Polizeikreisen, so sagt er, sei die Reaktion darauf einhellig positiv. „Einige Kollegen haben sogar gesagt, sie hätten es in einem Zug gelesen, weil es so spannend und stellenweise so lustig war.“ Es lächelt, auch ein bisschen stolz. Um im nächsten Moment wieder ernst zu werden. „Mein Buch soll aber auch denjenigen die Augen öffnen, die dem Irrglauben aufsitzen, dass man in diesem Beruf alles verarbeiten kann.“ Ob er seine posttraumatische Belastungsstörung jemals loswerden wird – niemand weiß das. „Sie kann ein paar Jahre, aber auch ein Leben lang dauern“, sagt sein Psychotherapeut Christian Knorr. „Traumatische Erinnerungen altern nicht.“ Wichtig für den Gesundungsprozess das Patienten seien eine fachärztliche Traumatherapie und Verständnis vom Umfeld: „Nehmen Sie den Patienten so, wie er ist und mit dem, was er sagt. Und nehmen Sie ihn ernst angesichts dessen, was er erlebt hat.“Mike Muche hat im Dienst in Notwehr einen Menschen getötet. Und ist dabei selbst gestorben. Der Polizist, der seinen Namen trug, hat die Nacht des Montag, 30. März 2004, in der Schweinfurter Dachgeschosswohnung letztlich nicht überlebt. Auch nicht der unbeschwerte, der unerschrockene, der des Lebens so unersättliche Draufgänger Mike Muche. Der Mann, der sein zweites Leben lebt, hat zwar denselben Namen, doch ist er einer anderer. „Ich strukturiere heute jeden meiner Tage durch, versuche, mir Termine zu setzen um meine Freizeit mit schönen Sachen wie Sport, Sauna, Solarium zu gestalten.“ Er schiebt eine leere Kaffeetasse und eine Zeitung über den Tisch, deutet darauf wie ein Kriminalpolizist auf ein wichtiges Beweisstück. „Oder ich gehe in mein Lieblingscafé und lese Zeitung – jede einzelne Zeile, wie heute Morgen.“ Hauptsache, er kommt raus. Zu lange hat er sich abgekapselt. „Der soziale Rückzug war das Schlimmste.“ Zwei Dinge aber hat der neue Mike Muche doch vom Alten gerettet: seinen Optimismus und seinen Kampfgeist. „Ich blicke wieder positiv in die Zukunft und kämpfte jeden Tag um ein zufriedenes, lebenswertes Leben. Hier und heute sehe ich, wie das Tageslicht die Nacht verdrängt. Geht doch!“

5 Sterne
nur zu empfehlen - 09.12.2009
Katharina

Mike Muche ermöglicht es dem Leser, sich sehr gut in die Lage des Autors versetzen zu können. Er beschreibt verständlich, ehrlich und teilweise doch mit einem Hauch von Humor, wie es ihm erging.Ein gelungener Blick hinter die meist rauh wirkende Schale eines Polizisten, der eben auch nur ein Mensch ist.

5 Sterne
Ich verstehe das alles sehr gut - 14.10.2009
Eine Polizistin

Ich bin selbst Polizistin und ich kann alles bestens verstehen! Dieser Vorfall ist wirklich sehr schlimm. Die Angst, dass mir und meinen Kollegen auch so etwas passieren könnte, ist sehr sehr groß! Ist auch sehr gut beschrieben was wir Beamten alles aushalten müssen (vor allem das ansehen von Verstorbenen), denn wir machen doch auch nur unsere Arbeit!An den Autor:Lieber ehemaliger Kollege,ich wüsche dir, dass du mit deiner Angst einigermaßen gut zurecht kommst und wünsche dir nur das Beste!

4 Sterne
Die Geschichte geht unter die Haut... - 02.10.2009
nordlicht

Das, was dem Polizisten Mike Muche passiert ist, wünscht man wohl niemandem. Trotz allem scheint der Autor das Lachen nicht verlernt zu haben. Das Buch ist mit viel Charme und Witz geschrieben und der Autor lässt trotzdem das Geschehene nicht vergessen oder versucht es zu bagatellisieren. Herr Muche betont am Ende des Buches, dass er kein professioneller Autor ist. Ich hätte mir allerdings Kapitel gewünscht, in denen man mal Pausen machen kann und über das gelesene nachdenken kann. Außerdem wird ja doch ein längerer Zeitraum betrachtet. Ich wünsche dem Autor, dass es ihm bald besser geht.

5 Sterne
Genial und zugleich traurig! - 23.03.2009
Nicole Wedekind

Das Buch ist genial geschrieben, aber traurig zugleich.Mike hat seine Gefühle und Gedanken so gut beschrieben, dass man in dieser Situation richtig drin steckte und die Angst, die er gehabt haben muss (und leider immer noch hat) spüren konnte! Die Gänsehaut ließ mich bis zur letzten Seite nicht los! Auch wenn einem die nervigen "Allgemeinen Verkehrskontrollen" und "Laserauftritte" der Beamten manchmal sowohl den letzten Nerv (passiert ja immer dann, wenn man es grad nicht brauchen kann), als auch die grad nicht vorhandene Zeit rauben, sollte man nicht vergessen, was solch ein Beamter nicht vielleicht schon alles mit ansehen musste ...Um nicht ebenfalls ein Buch, sondern doch nur eine Bewertung zu schreiben:Dies ist ein Buch, das aufwühlt und bewegt! Ich persönlich finde es sehr empfehlenswert, allerdings nur für Menschen, die damit zurecht kommen!Mike wünsche ich, dass er es (auch Dank seiner beiden Anjas) schafft, den Zug umzuleiten bzw. sein STOPP-Schild im richtigen Moment auszupacken! Dieser Kampf ums tägliche Überleben und Glück ist bewundernswert und ich hoffe aus tiefstem Herzen, dass er ihn NIEMALS AUFGIBT! Und ich danke ihm, dass er sich vor allen Menschen mit diesem Buch so "entblößt" hat, denn solch eine Geschichte muss mal an die Öffentlichkeit gelangen...Weiterhin alles Gute für dieses schwere Los!!!!

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