Westallee 1950

Westallee 1950

Erzählung

Dieter von Herz


EUR 16,90
EUR 13,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 200
ISBN: 978-3-99131-258-1
Erscheinungsdatum: 30.06.2022

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Einleitung

Vater Hans stand plötzlich vor der Tür. Es war Juni 1945. Keiner hatte ihn erwartet. Seine Frau Gisela arbeitete in der Küche. Ihre Schwester Maria und der Schwager Manfred Curry ordneten Papiere im Büro. Sie alle wussten durch Kameradenberichte, dass er überlebt hatte. Nach den massiven Gefahren in den Jahren des Krieges im Osten verliefen die letzten Monate am Gardasee kurz vor der Kapitulation geradezu köstlich. Wein, Gesang und wie bei Hans nicht anders zu erwarten: Weiber. Sein Hang, fremden Röcken nachzusteigen, war bereits vor Kriegsbeginn in den Hannoveraner Studentenkreisen bekannt gewesen.
Hans von Herz konnte seit Beginn des Hitler-Regimes eine gewisse Distanz zu den Organisationen der Nationalsozialisten wahren. Weder NSDAP noch Waffen-SS hatten an seine Türe geklopft. Er galt als unabkömmlich, als Experte im Bahn- und Straßenwesen. Seine Tätigkeit im Krieg beschränkte sich auf die Planung und Instandhaltung von Bahngleisen und Straßen. Die Amerikaner fingen ihn 1945 in Norditalien, befragten ihn und ließen ihn laufen.
14 Jahre später erzählte er mir, wie sich die Dinge damals zugetragen hatten. Wir unternahmen anlässlich meines Abiturs eine Reise nach Norddeutschland. Hans besaß seit Kurzem einen gebrauchten, roten Skoda, den er mit großem Vergnügen durch den noch spärlichen Verkehr steuerte. Es ging nach Meppen, Aurich, Haren an der Ems und nach Papenburg, der Vorfahren wegen. In den Kirchenbüchern mit Hochzeitseintragungen und Taufregistern verfolgten wir die Spuren früherer Personen mit Namen ‚von Herz‘. Den geschichtlichen Boden des Emslandes erforschten wir erfolgreich, entdeckten zahlreiche Vorfahren, aber 1638 war Schluss. In der Benediktinerabtei von Kornelimünster bei Aachen enttäuschte man uns mit dem Satz, den die Geistlichen bereits häufiger zu sagen gezwungen waren:
„Hier endet es meist, der Dreißigjährige Krieg hat nichts übriggelassen. Sämtliche Kirchenbücher sind verbrannt.“
Damit schienen alle weiteren Wege zu den Ahnen blockiert zu sein. Mein Vater verabschiedete sich, nicht sonderlich enttäuscht über das jähe Ende des gemeinsamen Abenteuers, und kehrte nach Wilhelmshaven zurück; eine langjährige Liebschaft, die er neben seiner zweiten Frau pflegte und der Beruf erwarteten ihn. Ich hatte plötzlich viel freie Zeit. Wieder einmal wollte ich mein geliebtes Frankreich bereisen.
Mehr durch Zufall stieß ich auf die Kathedrale von Bourges, ein gotisches Meisterwerk. Sie wurde in der Blütezeit der französischen Gotik errichtet, in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Beim Gang durch die Apsis erblickte ich in einem Kirchenfenster mein Wappen – das Wappen der Familie von Herz (drei Muscheln und drei Herzen). Überrascht blieb ich stehen. Es war kunstvoll abgebildet auf dem Heck eines mächtigen Segelschiffs, das einem bedeutenden Kaufmann der damaligen Zeit gehört haben musste. Nicht einmal acht auf vierzehn Zentimeter groß war es, so schätzte ich. Und obgleich es sehr alt war, fand ich die auf Glas eingebrannten Farben in erstaunlich gutem Zustand vor. Wie aber war es hierher gelangt? Mein Familienwappen, mitten im geografischen Zentrum Frankreichs, in dem an kulturellem und landwirtschaftlichem Reichtum gesegneten Berry? Hatte ich etwa französische Vorfahren, von denen ich nichts wusste? Konnte es denn wirklich einen Zusammenhang zwischen Bourges und dem Emsland als Herkunftsregion der Sippe von Herz geben? Wen könnte ich darüber befragen?
Und ich hatte Glück, denn ich traf eine Dame, die mir kompetent Auskunft geben konnte. Madame Bouvier verkaufte im Shop Bücher und Ansichtskarten. Sie entpuppte sich als bewanderte Kunsthistorikerin. Im Hauptberuf leitete sie halbtags die Bibliothek im Rathaus der Stadt. Niemand störte uns, denn in der weiter anschwellenden, flirrenden Hitze gingen alle anderen Menschen an kühlere Orte. So entwickelte sich ein informatives Gespräch.
„Also“, erklärte sie freundlich, „das Wappen gehört zu dem königlichen Vermögensverwalter Jacques Coeur. Als erfolgreicher Kaufmann besaß er zahlreiche Schiffe, die im Mittelmeer unterwegs waren. 300 Kontoren unterhielt er dort; mit seinem Reichtum finanzierte er seinem König sogar Kriege. Aber, Pardon, wie war gleich noch Ihr Name?“, fragte sie, sich leicht nach vorne neigend.
„Dieter von Herz“, antwortete ich bereitwillig.
„Und aus welchem Teil Deutschlands kommen Sie?“
„Gebürtig aus dem Emsland“, sagte ich und fügte erklärend hinzu:
„Haren, Papenburg, Aurich, in den Kirchenbüchern dieser Gemeinden findet man unseren Namen. Pfarrer, Richter und Geldverleiher – das waren die Berufe, die sie ausübten. Also nichts Hochwohlgeborenes.“
Ihre dunklen, südfranzösischen Augen blitzten wie elektrisiert.
„Oh, dort oben, im nördlichen Teil Deutschlands kenne ich mich zufällig gut aus. Mein Mann kommt aus Krefeld. Von Herz, war ihr Name?“
Fast liebkosend formte sie den Namen mit ihrer Zunge, „von Herz? Und Sie sind katholisch?“
Ich bejahte.
„Für das Emsland ist das ja üblich“, meinte sie. Ich schaute sie lange an, zögerte und meinte dann doch nachhaken zu müssen:
„Pardon Madame, aber gestatten Sie mir die Frage, was hat Sie erstaunt, als Sie meinen Namen hörten?“
„Wenn Sie etwas Zeit haben, will ich Ihnen gerne meine Vermutung erzählen.“
Sie bot mir einen Stuhl an, setzte sich ebenfalls, dann erst fuhr sie fort:
„Im 15. Jahrhundert herrschte in Frankreich König Charles VII, genannt ‚Der Siegreiche‘. Als sein Argentier, das heißt als sein Vermögensverwalter, fungierte der legendäre Jacques Coeur. 1395 in Bourges geboren, wurde er 1440 in den Adelsstand erhoben. Zwei Jahre später zählte er bereits zu den Mitgliedern des königlichen Rates.“
Gespannt folgte ich den weiteren Ausführungen von Madame Bouvier.
„Jacques de Coeur, so hieß er nun, hatte fünf Kinder: Jean, Henri, Geoffroy, Ravant und Perette. Als reichsten Mann Frankreichs beneideten ihn viele Menschen und nach Jahren erfolgreicher Arbeit fiel er wegen angeblicher Veruntreuung königlicher Gelder in Ungnade.“
Madame Bouvier atmete tief durch, um fortzufahren:
„Sicher ist, dass um religiös motivierter Querelen aus dem Weg zu gehen, ein, uns nicht bekannter, Nachkomme seiner Familie Frankreich in Richtung Norddeutschland verließ. Er wurde und soll, dies jedenfalls berichten polizeiliche Akten aus dieser Zeit, danach an einer nördlich von Köln gelegenen Grenzstation als Zöllner, als Douanier, gelebt haben.“
Ich glaubte diese Informationen bestätigen zu können:
„Meine Urgroßmutter Franziska murmelte mit ihren fast hundert Jahren stets etwas von einem „Dommier, Dounnier“, wenn wir über unsere Vorfahren sprachen. Ich hatte sie im Verdacht, dass sie das etwas schwierige Wort „Douanier“ (Zöllner) nicht richtig aussprechen konnte.“
Madame nahm den Faden auf und fuhr fort:
„Auf der anderen Seite des Rheins lockte ihn wohl ein hübsches Mädchen. Mit einem kleinen Kahn setzte er des Nachts über und verschwand nach Norden ins Emsland. Fortan nannte sich Jean de Coeur Heinrich von Herz und heiratete das Mädchen, das dem Katholizismus und damit auch seinem Religionsbekenntnis, angehörte.“
Wenn das alles stimmte, dann hatte ich die Barriere des Dreißigjährigen Krieges überwunden. Und war mitten im 15. Jahrhundert angekommen. In gleißendem Weißgold strömte das Sonnenlicht durch den Verkaufsraum; der mir mitsamt seinen Regalen, Karten und Büchern im Laufe des Gesprächs immer heller geworden zu sein schien. Die Hitze nahm zu und wurde fast unerträglich. Eine dicke, unappetitliche, blauschwarze Fliege glaubte sich an einem Schweißtropfen über meiner linken Augenbraue gütlich tun zu müssen. Ich verscheuchte sie und begann von einem kühlen Pils zu träumen.
„So erklärt sich die Sache mit ihrem Wappen. Sehen Sie, meine Vermutung war richtig. Ihre Vorfahren kommen hier aus dem Berry. Voila“, schloss Madame.
Warum nicht, dachte ich, nachdem ich mich mit Dank verabschiedet hatte und in ein kleines Lokal gegangen war, denn ich liebte es, Restaurants zu besuchen. Und das Berry war und ist für gutes Essen bekannt. Nach dem kühlen Bier kam zu den Rognons a la Moutarde de Dijon ein filigraner, weißer Burgunder auf den Tisch. Davon verstehen sie eine ganze Menge, die Franzosen, dachte ich bei mir.
Latein beherrschten damals außer den Priestern nur eine Handvoll Gebildeter. Die Geistlichen nutzten ihre Kenntnisse, um ihr Wissen so festzuhalten, dass nicht jeder mitlesen konnte. Ihre Informationen erhielten sie aus der Ohrenbeichte, die bei Katholiken üblich ist. Es konnte geschehen, dass in dem Kirchenbuch unter dem Namen der Braut geschrieben stand: „non virga est“, ist keine Jungfrau. Oder unter dem Namen des Bräutigams las man „moechus“, ein Hurenbock. Pikant fand ich den Eintrag, das Kind Hans-Werner sei nicht von dem im Taufregister vermerkten Vater, sondern von dem Herrn Apotheker. Zweifellos hatten die Pfaffen eine diebische Freude.



1945 - Heimkehr von Hans

Hans von Herz stand ganz plötzlich vor der Tür. Mit seinen 35 Jahren lag das Leben noch vor ihm. Er hatte zunächst gezögert, hatte in der vorwärtsgreifenden Bewegung leicht innegehalten, um dann aber doch die schwere Glocke zu läuten. Ihr mächtiger Klang hallte lange nach. Es war ein massiver, aus Kupfer mit etwas Zinn gefertigter Klangkörper, überreich mit Pflanzen und Ranken verziert. Die Glocke passte zu dem eindrucksvollen Häuserkomplex, den Vater Hans vom Süden, vom See kommend, genauer gesagt vom blauen Ammersee aufsteigend, schon von Weitem erblickt hatte. Dominierender hätten die drei vor ihm liegenden, ineinander geschachtelten Häuser nicht dastehen können. Großzügig gebaut, beherrschten die Villen die bucklige Anhöhe; vor ihnen erstreckte sich eine große Wiese, voll besetzt mit rotgoldgrüngelben Schlüsselblumen. Er liebte diese Wiese.
Hans saß da und blickte zufrieden hinunter auf den Ammersee, der blaugrauschwarz, gestopftem Samt nicht unähnlich, vor ihm lag. Hinter dem See, weiter südlich erhob sich dunkel und nachtmächtig wie ein Schatten das Kloster Andechs. Nach einer Weile stand er auf, reckte die Glieder und wandte sich nun hinauf, dem Curry-Anwesen entgegen. Von der rückwärtigen Seite bot ein wuchtiger Eichenwald Schutz.
Ehefrau Gisela hatte sein Kommen ebenso wenig bemerkt wie der Rest der Familie. Sie bereiteten gerade das Essen vor; ein Tag wie jeder andere und trotzdem strahlte die Mittagstafel eine vornehme Eleganz aus. Acht Gedecke, mit Sorgfalt gesetzt, erwarteten die Familie. Vier Kinder, Großmutter Sophia, ihre Töchter Gisela und Maria sowie Schwiegersohn Manfred schauten mit Vorfreude auf die Forellen mit gebutterten Jungkartoffeln. Beides kam aus eigenen Ernten.
Der kräftige Klang der Glocke verstummte. Dr. med. Manfred Curry, Giselas Schwager, Hausherr, Mediziner und amerikanischer Forscher, durchschritt gemächlich die geräumige Diele und öffnete mit Bedacht Hans von Herz die hohe, eichenschwere Doppeltüre.
Gisela von Herz, in Pirna bei Dresden 1919 mit dem Mädchennamen Hermkes zur Welt gekommen, war seit 1939 mit Hans verheiratet, Gisela hatte sich gut auf diesen Moment jetzt nach seiner Rückkehr vorbereitet. Heute mit ihren 26 Jahren als erwachsene, gutaussehende Frau, heute wusste sie genau, was sie wollte: Das war die Scheidung. Jetzt und sofort und ohne Verpflichtungen gegenüber einander. Die beiden Kinder sollten bei ihr bleiben: Helmuth, zwei Jahre alt, und ich, der den fünften Geburtstag erst vor einigen Wochen begangen hatte. Die Scheidung zog sich lange hin.
Einen neuen Mann gab es nicht. Sehnsucht nach einem Freund, einem Begleiter, Sehnsucht nach Geborgenheit und Zärtlichkeit beschlich Gisela von Zeit zu Zeit. Bereit für eine neue Begegnung war sie jedoch noch nicht. Einige Verehrer lauerten; sie beachtete sie nicht, obwohl es Männer zu dieser Zeit nicht im Überfluss gab. Der Zweite Weltkrieg hatte erst vor einigen Wochen sein Ende gefunden. Millionen Soldaten waren gefallen oder darbten noch in Gefangenschaft. Adenauer holte Zehntausende aus Russland raus.
Giselas Bild von einem Mann hatte in ihrer Jungmädchenzeit Vater Jakob geprägt. Sie war eine Vatertochter. Er arbeitete als Entwickler von Lokomotiven bei der Hannoverschen Hanomag AG. Liebe, Respekt und Zärtlichkeit im Umgang mit der Familie waren bei ihm zu Hause. Mit der Tochter unterhielt er sich häufig und lange. Das war zu dieser Zeit eher die Ausnahme. Die Väter zogen sich normalerweise aus den Familien zurück: Ins Herrenzimmer oder in die Bibliothek zu Zigarren, Zeitung und Zitronenlikör.
Zuwendung zu Kindern, die noch nicht volljährig waren, das war ein Feld, das den Müttern vorbehalten war. Jacob allerdings verhielt sich anders. Er widmete sich mit Freuden seiner Familie. Für ihn war das keine Belastung, im Gegenteil, er schätzte die wache, fröhliche Intelligenz seiner hübsch geratenen, achtzehnjährigen Tochter. Kurzum: ihre Jugend verlief glücklich.
Manfred Curry also, der Hausherr persönlich, öffnete Hans die Türe. Dass er einen amerikanischen Pass besaß, hatte das Leben während des Dritten Reichs erheblich erleichtert. Die Nazis ließen ihn unbehelligt. Man wollte die USA nicht provozieren.
Er stammte aus einer vermögenden Bostoner Juristenfamilie, zeigte keinerlei politisches Interesse und konnte eine arische Ehefrau Maria, geborene Hermkes, vorweisen. Ende der Zwanzigerjahre eingewandert, bewies er in unterschiedlichen Disziplinen wie Fotografie, Eiskunstlaufen, Segeln und Wetterkunde fast geniale Fähigkeiten. In seinem Hauptberuf als Krebsforscher gelangte er mit Fleiß und Begabung zu wichtigen Erkenntnissen, die die medizinische und akademische Welt beeindruckten. Seine industriellen Auftraggeber aus den USA gestatteten ihm ein unabhängiges Leben in finanzieller Sicherheit. Intellektuelle Freiheit war ihm angeboren.
Die straffe Körperhaltung von Manfred, damals noch nicht ganz 45 Jahre alt, ließ Vater Hans zögern; er fragte sich, ob er das Haus betreten dürfe. Drei Treppenstufen über ihm stand dieser kraftvolle, wenn auch nicht besonders groß geratene Amerikaner mit blaugrauem Haar und buchsbaumbuschigen Augenbrauen. Der Heimkehrer kam sich klein, ungelegen und stark reinigungsbedürftig vor. Beide Männer reichten sich ohne ein Wort die Hand. Sie blickten sich kaum an. Viel Gemeinsames gab es nicht zwischen ihnen bis auf die Tatsache, dass Hans als Diplomingenieur und Experte für das Bahnwesen keiner war, dessen man sich in der Familie hätte schämen müssen. Gleichwohl tendierten die Schnittmengen zwischen den beiden Männern gegen Null, in fast jeder Hinsicht.
Bevor das einsetzen konnte, was vielleicht die Bezeichnung Konversation oder gar Begrüßung verdient hätte, machte eine feste, sympathisch helle Stimme auf sich aufmerksam:
„Hans, guten Tag. Schön, dass du offensichtlich gesund bist, das macht die Sache leichter. Ich verlange die Scheidung, die beiden Kinder bleiben bei mir; mein Münchner Anwalt Dr. Lammer wird die Klage begründen, Manfred bringt dich im Gästehaus zum Bad, da kannst du dich waschen. Aus dem Kleiderschrank holt meine Schwester die für dich notwendigen Sachen, dann fährt Manfred dich zum Bahnhof und versorgt dich mit etwas Startgeld für das Zivilleben. Eine gute Zukunft für dich.“
Manfred drehte sich sprachlos um. Das war professionell, kühl und gnadenlos. Aber endlich, nach all den Enttäuschungen, die sie in der kurzen Ehe erlitten hatte, bevor Hans 1940 zur Wehrmacht eingezogen worden war, war es vor allem eines – konsequent.
Gisela hatte wie die meisten Deutschen geglaubt, spätestens 1941 sei der Spuk vorbei. Wilhelm II. war bereits im Ersten Weltkrieg dieser Fehleinschätzung erlegen. Es sollte nicht seine einzige Dummheit bleiben. Der international hochgeschätzte Kanzler Bismarck fehlte. Wilhelm II. hatte ihn entlassen, weil er zu stark geworden war. Absolutistische Herrscher mögen das nicht, vornehmlich wenn sie schwach sind.



1939 - Giselas Hochzeit

Mutter Gisela ging unberührt in die Ehe. Das war für jene Zeit nicht ungewöhnlich. Als erster Sohn kam ich, Dieter von Herz, im März 1940 zur Welt. Die Geburt meines jüngeren Bruders Helmuth im Jahr 1943 war nicht geplant. Es handelte sich um einen Unfall, der während eines Militärurlaubs geschehen war.
Gisela schloss keineswegs Frieden mit ihrem Zustand; sie hatte kein weiteres Kind von Hans gewollt. Aber eine Abtreibung war für sie unmöglich gewesen. Ihre Familie lebte eine fröhliche, rheinisch katholische Religiosität, die, angeführt von Großmutter Sophia Hermkes, alles erlaubt hätte, nur nicht eine Korrektur dieser Empfängnis.
Die Großmutter, von den Erwachsenen und uns Kindern liebevoll mit Söffchen gerufen, kam 1890 zur Welt. Sie hatte den Zusammenbruch der Alten Welt mit dem Untergang des Kaiserreichs mitgemacht. Sie erlebte ebenso den Zerfall der Weimarer Republik. Und auch noch das Ende des Tausendjährigen Reichs sowie den Wiederaufstieg der Bundesrepublik, nicht jedoch die Wende, also die Wiedervereinigung. An sie hatte Sophia immer fest geglaubt, aus historischer Erfahrung, wie sie sagte. Große Völker seien auf Dauer nicht teilbar; Polen etwa überlebte mehrfache Teilungen und sogar den vollständigen Untergang als Nation für 150 Jahre.
Nachdem Hans abgereist war, verfasste Gisela einen Brief für ihren Anwalt; einen Brief, in dem sie die Klage begründete: Fortgesetzter, frecher und rücksichtsloser Betrug mit anderen Frauen. Das war der Grund, warum sie die Scheidung forderte. Dass Hans bereits ein paar Tage nach der Hochzeit mit einer anderen Frau zusammen war und alle ihre guten Freunde davon erfuhren, das hatte sie tief verletzt. Dabei wusste sie, ihre Erscheinung, wenn auch noch etwas mädchenhaft, bezauberte jeden, dem sie begegnete. War die Erziehung, genauer die Vorbereitung auf die Ehe, unzeitgemäß gewesen? War sie doch noch zu sehr einem wilhelminischen Frauenbild gefolgt – einem Frauenbild, das ihre Mutter Sophia geprägt und vermittelt hatte, fragte ich mich.

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