Wenn die Angst zu Hause wohnt!
Martha Bülow
EUR 15,90
EUR 9,99
Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 158
ISBN: 978-3-95840-702-2
Erscheinungsdatum: 30.01.2019
Hineingeboren wird Martha in eine ganz normale Familie. Glücklich und wohl behütet wächst sie auf, bis zu dem Tag, als ihr Vater beschließt zu sterben. Sie ist vier, ihre Mutter verliert den Halt und Martha wird bald auf ungeheuerliche Weise mit einem neuen Stiefvater konfrontiert.
Wenn die Angst zu Hause wohnt!
Es war ein milder Frühlingstag im Jahre 1972. Die warmen Sonnenstrahlen fielen in den kleinen Wagen, in dem Mia und Paul etwas bedrückt und nachdenklich saßen. „Meinst du, es ist eine gute Idee?“
Paul schaltete einen Gang höher. „Die einzige, die mir einfällt.“
„Ich hoffe, du hast recht.“
Sie waren auf dem Weg zu Pauls Schwager, von dem sie sich Unterstützung in dieser heikel verzwickten Situation versprachen. Mia war schwanger! Gerade sechzehn!
Ihre Mutter würde sie umbringen, wenn sie davon erfuhr! Oder zumindest einen riesigen Aufstand machen. Paul als ihr Betreuer der Kirchenfreizeit, fast zehn Jahre älter und jetzt Vater ihres Kindes.
Was auch immer passierte, sie liebten sich und würden für immer zusammenbleiben.
Das stand fest!
„Da vorne ist es.“ Paul zeigte zu einem Grundstück mit einer riesigen Baustelle. „Hier!“ Mia schaute sich verwundert um. „Habe dir doch gesagt, dass Hanna und Georg mit seinen Geschwistern ein Mehrfamilienhaus bauen.“ Sie kamen auf dem Hof zum Stehen. „Da vorne, das kleine Haus da.“
Paul stieg aus. „Dort wohnen sie.“ Ein wunderschönes, ungefähr dreißigjähriges Haus blickte sie etwas düster an.
„Vielleicht hätten wir uns doch anmelden sollen?!“ Mia stieg zögernd aus.
„Ach Quatsch“, lachte Paul. „Georg hat Urlaub und wird am Bau arbeiten. Meine Schwester ist in ihrem Kindergarten und Martha nimmt sie immer mit. Wir können also in Ruhe mit Georg reden.“
Beide gingen langsam zu dem Neubau, der sein Richtfest schon feiern durfte und darauf wartete, Fenster und Türen zu bekommen.
„Hallo Georg! Überraschung!“ Paul ging ein Stück die Treppe hoch und rief fröhlich weiter.
Mia blieb lieber unten stehen. „Ich glaube, hier ist keiner“, meinte sie nach einigen Minuten.
„Wahrscheinlich ist er noch im alten Haus, lass uns rübergehen.“ Paul sah sich um. „Sein Wagen steht hier, also muss er auch irgendwo sein.“ Der Schäferhund bellte aus dem Zwinger heraus und Paul lief hin, um ihn zu begrüßen.
Mia flößte der mächtige Hund etwas Angst ein und sie schlenderte lieber schon zum alten Haus rüber. Paul, der inzwischen den Zwinger geöffnet hatte, tollte mit Rex ausgelassen herum, bis er einen markerschütternden Schrei hörte. „Paul!!! Paul!!!“ Mia wurde immer hysterischer.
Er konnte Rex nicht mehr halten und rannte hinter ihm her zum Haus, vor dem Mia wie angewurzelt stand.
„Georg!!!!“ Er baumelte an einem großen Haken im Türrahmen! Paul rang nach Luft und brauchte einen Moment, um sich zu fangen.
„Mia, schnell, hilf mir ihn zu halten!“ Sie versuchte ihn an den Beinen oben zu halten. Paul holte aus der Küche ein Messer und schnitt den Strick durch. Als Georg zur Erde sackte, wurde er gerade noch von beiden aufgefangen. Der Hund wich nicht von Herrchens Seite.
„Mia, such das Telefon und ruf den Krankenwagen!“, schrie Paul und begann die Wiederbelebungsmaßnahmen.
„Krankenwagen ist unterwegs!“ Mia sackte erschöpft und kreidebleich auf die Treppe.
Pauls Herz jagte, der Schweiß tropfte von seiner Stirn, aber er ließ keine Sekunde nach. „Er atmet!“
Sie hörten die Sirenen näher kommen. Die Rettungssanitäter kamen die Einfahrt herunter gerannt.
„Halten Sie den Hund fest! Zur Seite treten“, bat der Notarzt.
„Da haben Sie ihn ja in letzter Sekunde gefunden!“, meinte er anerkennend. „Er wird durchkommen!“ Sie nahmen ihn im Krankenwagen mit, wer weiß wie lange er ohne Sauerstoff war!
„Wir müssen Hanna informieren!“ Paul brachte Rex in den Zwinger. Betreten, den Schock noch in den Gliedern sitzend, machten sie sich auf den Weg zum Kindergarten. Da er nur ein paar hundert Meter entfernt war, gingen sie zu Fuß. Paul wäre jetzt sowieso nicht in der Lage gewesen, mit dem Auto zu fahren. Die Kinderstimmen waren schon zu hören, als sie um die Ecke bogen. Um zum Eingang zu gelangen, mussten sie am Außengelände vorbei, das von einem Maschendrahtzaun und kleinen Büschen eingefasst war. Prompt wurden sie von der vierjährigen Martha entdeckt. „Paul, Paul, Onkel Paul ist da!“ Sie stürmte zu ihnen an den Zaun und begleitete sie ausgelassen hüpfend zum Eingang.
Hanna schaute aus dem Fenster, winkte fröhlich und machte sich ebenfalls auf den Weg zum Eingang. Martha sprang auf Pauls Arm und drückte ihn fest an sich. „Wer ist die Frau?“, fragte sie neugierig.
„Das ist meine Freundin Mia“, antwortete Paul. In seiner Stimme war der Kloß deutlich hörbar, was Hanna sofort stutzig machte. „Was ist passiert?“
„Martha, magst du der Mia nicht mal den Kindergarten zeigen? Und ich unterhalte mich mit deiner Mama. Ja?“ Paul versuchte lässig rüberzukommen.
„Ja gut, kann ich machen.“ Martha zog Mia mit sich mit.
„Was ist los? Ich merke doch, dass irgendwas ist!“ Hanna konnte vor Anspannung kaum atmen.
„Können wir irgendwo ungestört sprechen?“
„Ja klar, im Mitarbeiterraum.“
Paul setzte sich Hanna gegenüber, hielt ihre Hände und holte tief Luft.
Martha hatte Mia inzwischen durch den gesamten Kindergarten geführt und Mia wurde gerade etwas unwohl. „Was hast du denn?“, wollte Martha wissen. Mia überlegte einen Moment, sie hatte die Kleine vom ersten Augenblick an in ihr Herz geschlossen, darum beschloss sie, ihr das Geheimnis zu verraten. „Ich bin schwanger! Ich habe ein Baby in meinem Bauch!“
„Ein Baby? Von Onkel Paul?“ Mia war ganz aufgeregt! Freudig hüpfte sie über den Flur, als Mama und Paul zu ihnen kamen.
„Papa hatte einen Unfall und ist im Krankenhaus. Aber es ist nichts Schlimmes!“ Hannas Stimme zitterte.
„Papa ist im Krankenhaus! Ich will auch da hin!“ Marthas Herz raste plötzlich ganz schnell, Angst stieg in ihr hoch und haftete sich wie ein klebriger Mantel an ihr fest.
„Das geht nicht, da dürfen keine Kinder rein. Mia, kannst du mit ihr bei uns zu Hause warten?“, bat Hanna sie. „Ich habe keinen Führerschein! Und Paul, kannst du mich hinfahren?“
Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen die beiden wieder. „Wo ist Martha?“, suchend blickte Hanna sich um.
„Sie wollte unbedingt in den Zwinger.“ Unsicher, etwas falsch gemacht zu haben, suchte Mia Pauls Blick.
„Ach, da hätte ich selber draufkommen können! Zu Rex geht sie immer, wenn sie Angst hat oder traurig ist.“ Ein müdes Lächeln huschte auf Hannas Gesicht, als sie ihre kleine Martha neben Rex gekuschelt fand.
„Wie geht es ihm denn?“, fragte Mia vorsichtig.
„So weit ganz gut“, meinte Paul. „Guck mal, jetzt kommen sie! Seine Schwester, sein Bruder und sein Schwager.“ Paul schien wenig begeistert zu sein.
„Wie kann er uns das antun? Was sagt er denn?“
„Nichts“, flüsterte Paul. „Er kann sich an nichts erinnern und wir sollen ihn darauf nicht ansprechen.“
„Sagt wer?“ Seine Schwester lief unruhig auf und ab.
„Die Ärzte!“, warf Paul ein.
„Wie lange bleibt er da?“
„Haben sie nicht gesagt. Hauptsache er erholt sich wieder richtig“, murmelte Paul leise.
Hanna war am Zwinger und versuchte Martha wach zu bekommen. Der Hund hatte eine enge Bindung zu ihrer Tochter und gehorchte eigentlich nur ihrem Mann. Sie selber kam mit ihm nicht klar! Ehrlich gesagt hatte sie sogar Angst vor ihm! Endlich wachte Martha auf. „Wo ist Papa, kann ich jetzt zu ihm?“
„Er kommt in ein paar Tagen nach Hause“, antwortete sie gequält.
Nachdem Georgs Schwester samt Familie gegangen war, bereiteten Paul und Mia ein paar Brote zu und natürlich blieben sie über Nacht.
Am nächsten Morgen war Oma plötzlich da. Hanna war erleichtert, ihre Mutter bei sich zu haben. Paul und Mia ergriffen beim Frühstück die Gelegenheit, Oma zu sagen, dass sie Eltern werden würden und noch in diesem Jahr heirateten. Oma biss von ihrem Toast ab und meinte: „So liegen Freude und Leid immer beieinander.“ Aus ihrer Kaffeetasse einen Schluck schlürfend, fügte sie mild lächelnd hinzu: „Meinen Segen habt ihr. Aber deine Mutter, Mia, sieht das bestimmt nicht so gelassen!“
Oma blieb ein paar Tage und Hanna fuhr jeden Tag mit dem Zug ins Krankenhaus.
So plätscherten die Tage dahin. Endlich war es dann so weit! Papa kam nach Hause!
Martha durfte ihn sogar mit abholen. Der Weg zum Krankenhaus schien ewig zu dauern, doch endlich hielten sie auf dem großen Parkplatz. Als sie die große Treppe hochgingen, platzte Martha fast vor Freude und war als Erste oben angekommen. Als sie den langen grauen Flur entlanggingen, rief ein Arzt nach Hanna.
„Ich wollte nur nochmals darauf hinweisen, dass wir dringend mit seiner Mutter reden müssen. Es muss in seiner Kindheit etwas Traumatisches passiert sein! Bitte versuchen Sie, noch mal mit ihr zu sprechen“, sagte er eindringlich.
„Ich versuche es noch mal, aber wenn sie was nicht will …“, resignierte Hanna.
„Da ist er!“ Martha stürmte auf ihren Papa zu und sprang in seinen Arm.
Die Tage zu Hause waren toll! Wenn sie mit Mama nach Hause kam, wartete Papa schon und sie spielten mit Rex im Garten, bauten Sandburgen, schaukelten zusammen und abends brachte er sie ins Bett. Eine schöne Zeit! Aber auch die schönste Zeit ging einmal zu Ende und morgen war Papas letzter Tag, bevor er wieder arbeiten ging.
„Den letzten Tag machen wir beide uns besonders schön“, meinte er zu Martha. „Ich hole dich mittags schon ab und wir spielen zusammen bis Mama kommt! Na, was sagst du dazu?“
„Super!“ Martha strahlte bis über beide Ohren.
Am nächsten Morgen fühlte Martha sich zum Bäume-Ausreißen gut und stark. Allen im Kindergarten berichtete sie, dass sie vorm Mittagessen von Papa abgeholt werden würde. Die Zeit verging so langsam. Als ihre beste Freundin Sabine sie fragte, ob sie in den Familienraum wollten, wo die große Kiste mit den Verkleidungsstücken stand, sagte sie sofort Ja. Da konnte man ohne Kindergärtnerin spielen, solange man sich an die Vereinbarungen hielt. Super, sie durften rein! Als sie eine Weile am Kleider an- und ausziehen waren, ging die Tür auf und die Kindergärtnerin schob Thomas rein und meinte: „Er möchte mit euch spielen. Seit nett zu ihm.“
„Na super!“, Martha war die Begeisterung ins Gesicht geschrieben. „Was willst du denn hier?“
„Du kannst da hinten in der Ecke spielen!“, sagte Sabine bestimmend. „Wir wollen allein spielen!“
„Ihr müsst aber mit mir zusammen spielen! Sonst sage ich es und ihr müsst raus!“
Jetzt fiel es Martha wie Schuppen von den Augen, was sie alles gegen diesen Klugscheißer hatte. Es ergab ein Wort das andere, bis sie schließlich aufstand und ihm eine Backpfeife gab. Mit großen Augen starrte er Martha an. „Das sage ich!!! Aua, aua, aua!!!“ Mit diesen Worten rannte er aus dem Zimmer.
„Das gibt Ärger!“, meinte Sabine trocken. „Am besten verstecken wir dich irgendwo!“
„Hier kann man sich nirgendwo verstecken!“ Suchend sah sich Martha um. Noch nie zuvor hatte sie jemanden gehauen! Langsam stieg die Angst in ihr hoch.
„Doch!“, leuchteten Sabines Augen. „Da in der Kiste.“ Sie zeigte auf die große Holzkiste mit dem schweren Deckel, in die gut fünf bis sechs Kinder passen würden. Zusammen schoben sie den Deckel etwas zur Seite und Martha verschwand in der Kiste. Gerade als Sabine sie mit aller Kraft geschlossen hatte, ging die Zimmertür auf und Thomas kam heulend mit der Kindergärtnerin rein. Martha hielt die Luft an und fühlte ihr Herz pochen. Durch ein winziges Astloch kam ein Lichtstrahl zu ihr hinein. „Wo ist sie?“ Die Stimme der Kindergärtnerin klang genervt. Sabine zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung“, brachte sie heraus.
„Na gut“, lächelte die Kindergärtnerin. „So viele Möglichkeiten gibt es ja nicht.“
Martha hörte Schritte näher kommen. Jemand klopfte auf den Deckel. Jetzt wurde der Deckel aufgeschoben und der Kopf der Kindergärtnerin war sichtbar. „Na, dann komm mal wieder da raus.“
Zögernd kletterte sie aus der Kiste. „Warum hast du Thomas gehauen?“
Sabine und Martha erklärten alles ausführlich, Martha entschuldigte sich und alles war wieder gut.
Thomas wollte plötzlich nicht mehr mitspielen, sondern lieber nach draußen. So waren sie wieder allein.
Als sie eine Weile in Ruhe gespielt hatten, wurde Martha plötzlich ganz komisch, sie spürte einen Kloß im Hals und war ganz unruhig. „Was ist mit dir?“, fragte Sabine besorgt.
„Ich weiß nicht, ich glaube es ist was Schlimmes passiert!“ Martha schaute aus dem Fenster.
„Wie? Was passiert? Was meinst du?“ Sabine war sichtlich verwirrt.
„Mein Papa, mein Papa wollte mich doch abholen!“
„Der kommt schon noch!“
„Nein, nein, es ist was Schlimmes passiert!“
„Was ist nur mit dir? Es ist doch alles wie immer!“
In diesem Moment hörten sie Polizeisirenen, immer mehr. Krankenwagen, Polizeiwagen und das viele Blaulicht an der Hauptstraße war durch einen Gang zwischen den Häuserreihen sichtbar.
„Mein Papa!“ Martha versuchte vergeblich eines der Fenster zu öffnen. „Mein Papa!“
Sie kauerte sich in eine Ecke und weinte. Sabine kam das alles komisch vor und sie holte lieber die Kindergärtnerin. Die setzte sich zu ihr und nahm sie in den Arm. „Es wird alles wieder gut“, versuchte sie zu trösten. „Möchtest du hier weiter mit Sabine spielen? Oder lieber mit mir mitkommen?“, fragte sie lieb.
„Hierbleiben“, flüsterte Martha resigniert.
Nach einer gefühlten Ewigkeit ging die Tür auf und Mama kam rein. Sie hatte rot verweinte Augen, ging langsam zu Martha, nahm sie auf den Arm und sagte: „Es ist was ganz Schlimmes passiert!“
„Ich weiß!“, unterbrach sie Martha. „Ich weiß, Papa ist tot!“
Als sie zu Hause ankamen, fuhren gerade Mia und Paul auf den Hof und hatten Oma mitgebracht. Mia nahm Martha auf den Arm und lächelnd meinte sie: „Komm, wir gehen zu Rex.“
Oma nahm Hanna in den Arm. „Der Herr allein weiß den Sinn von allem.“
Paul war sichtlich betroffen, hatte er doch den ersten Selbstmordversuch gerade noch verhindert, so kam er diesmal zu spät.
„Wo hat er sich denn erhängt?“, fragte er zaghaft.
„Im neuen Haus an einem Dachbalken“, konnte Hanna gerade noch sagen, bevor sie unter Tränen zusammenbrach. Der Notarzt hatte ihr bereits ein Beruhigungsmittel verabreicht, aber es zeigte in Anbetracht dieses Dramas nur geringe Wirkung!
Anscheinend hatte er alles gut geplant. Wollte seine Tochter abholen! Das hatte er noch nie gemacht! Aber dadurch hatte er die Gewissheit, dass alle an seinen neuen Lebensmut glaubten, weil er sich so fröhlich wie lange nicht mehr von ihnen verabschiedet hatte und alle sicher waren, dass es wieder bergauf ging. Wahrscheinlich wollte er nicht noch mal einen Überraschungsbesuch riskieren, der ihm wieder das Leben retten würde.
Aber das sind nur Vermutungen, auf die wir niemals eine Antwort bekommen würden!
Die Tage vergingen gedrückt langsam und hatten jede Freude verloren. Mit Oma, Mia und Paul fühlten sie wenigstens noch einen Hauch von Geborgenheit. Sie spielten mit Martha, kümmerten sich um die Mahlzeiten sowie den Haushalt und um Rex.
Aber natürlich mussten auch sie irgendwann in ihren Alltag zurück.
Irgendwann hatte sich auch Hannas und Marthas Alltag eingespielt, aber der Schleier der Traurigkeit hing schmerzhaft über den beiden. Abend für Abend stand die Kleine am Fenster und wartete auf die Wolke, die zu ihr runterkommen würde und sie weit hinauf zu ihrem geliebten Vater bringen sollte. Ihre Mutter brachte sie von dort aus ins Bett und kuschelte mit ihr, bis sie eingeschlafen war.
Wenn sie morgens ihre Augen aufschlug, lag Hanna neben ihr, bis der Wecker beide in den Tag drängte. So war es immer, bis zu dieser einen Nacht! Wie gewohnt war Martha in Mamas Armen eingeschlafen, aber als sie diesmal aufwachte, war es noch stockdunkel und gespenstisch still. Vorsichtig tastete sie neben sich das Kissen ab. „Mama!“, flüsterte sie. „Mama!“ Jetzt wurde sie lauter und lauter, bis zum panischen Schreien. „Mama, Mama!“ Sie lauschte, doch niemand antwortete. Es war totenstill! Martha konnte ihr Herz pochen hören. Wo war Mama? Angst stieg in ihr hoch. Wenn ihr was passiert war! Langsam stieg sie aus dem großen Bett auf und knipste das Licht an. Vorsichtig öffnete sie die Schafzimmertür und blinzelte in den ebenso dunklen Flur.
Zitternd ging sie weiter bis zur Haustür, legte sachte ihre Hand auf die Türklinke und zog.
Aber die Tür ließ sich nicht öffnen. Sie drückte und zog nach Leibeskräften, aber sie blieb verschlossen. Links neben der Tür ging es in die Küche, sie ging rein, schaltete das Licht an und entdeckte das große Fenster, das auf Kipp stand. Von draußen waren Geräusche zu hören. Ein Klopfen, Hämmern und leise Stimmen. Martha zog sich einen Stuhl zum Fenster, kletterte hinauf und versuchte dieses Fenster, das dreimal so groß war wie sie, irgendwie aufzubekommen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit war es endlich offen und sie sprang mutig von der Fensterbank in die Dunkelheit. Einen Moment verharrte sie vor der geschlossenen Tür, bevor sie sich vorsichtig die sieben Stufen runter tastete, immer das Geländer fest umklammert. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit und sie sah das neue Haus, das von innen hell erleuchtet den einzigen Lichtpunkt weit und breit bot. Schritt für Schritt nährte sie sich dem Eingang. Rex bellte aus seinem Zwinger, der von der Dunkelheit verschlungen schien. Zitternd setzte Martha einen Fuß auf die erste Stufe, die zweite und dritte, dann endlich die letzte. Plötzlich spürte sie den Ärger, der gleich folgen würde. Die Tür war verschlossen. „Mama! Mama!“, rief sie, so laut sie konnte. Nichts! „Mama!“
Jetzt entdeckte sie die Klingel. Sie klingelte Sturm! Jemand drückte den Summer, Martha stemmte sich gegen die Tür und gelang endlich ins Haus.
Das Treppenhaus schien riesig, mit seiner Betontreppe ohne Geländer. „Mama! Mama!“
„Martha!“, rief Mama und guckte von ganz oben runter. „Ich komme.“
Erleichterung! Hanna rannte die erste Etage runter und wurde von Papas Schwester abgefangen.
„Mach weiter, ich bringe sie schnell wieder ins Bett.“ Mit lauten Schritten stampfte sie die Treppen runter und zog Martha wutschnaubend hinter sich her, steckte sie wieder ins Bett und ließ sie im dunklen Haus allein!
Von nun an folgten viele solcher Nächte. Nur dass Martha nicht mehr nachts aus dem Fenster kletterte, sondern Nacht für Nacht im verschlossenen Haus regungslos im Bett lag und darauf wartete, von ihrem Vater geholt zu werden, um auf einer Wolke in den Himmel zu fliegen.
Gab sie sich doch die Schuld für seinen Tod. Hätte sie bloß diesen Jungen nicht geschlagen!
Sie war davon überzeugt, dass dies ihre Strafe war und nahm sich fest vor, nie mehr böse zu sein!