Verspielte Freiheit

Verspielte Freiheit

Tagebuch der Gedanken und Reflexionen eines Freimaurers

Helfried Blühdorn


EUR 20,90
EUR 12,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 368
ISBN: 978-3-95840-050-4
Erscheinungsdatum: 27.04.2016

Leseprobe:

Vorwort und Einführung

„Mit dem Alter wird man törichter und weiser.“

„Es ist eine große Torheit, allein weise sein zu wollen.“

Es ist durchaus üblich, Lebenserinnerungen niederzuschreiben. Auch in meiner Familie konnte ich diese Praxis nachvollziehen. Mein Großvater aus der mütterlichen Linie war dafür ein imposantes Beispiel; sogar Geschichtsforscher haben sich mit seinen Niederschriften beschäftigt. Die väterliche Linie beschränkte sich nachvollziehbar – vieles ist wahrscheinlich durch Nachkriegswirren verloren gegangen – auf die Niederschrift einer ehrwürdigen, im Original erhaltenen Familienchronik, die immerhin seit dem 17. Jahrhundert kontinuierlich fortgeschrieben worden ist. Dem Drang, Vergangenes festzuhalten, bin ich gefolgt. Jedoch in einem ganz anderen Sinne. Seit rund drei Jahrzehnten – exakt ab 1987 – ist es mir zur Gewohnheit geworden, meine kreisenden Gedanken niederzuschreiben. Daraus sind u. a. Vortragsreihen entstanden, meistens im Umfeld der Freimaurerei. Die gedanklichen Reflexionen wurden geprägt und sicherlich auch weiterentwickelt durch diese meine seit 1986 andauernde Zugehörigkeit zur Großen Landesloge der Freimaurer von Deutschland (GLLFvD), auch aufgrund seiner undogmatisch christlichen Ausrichtung Freimaurerorden genannt. Das Phänomen Mensch, Umwelt und Schöpfung stand für mich im Vordergrund von Betrachtungen, die im Kontext mit unserer Geschichte und Kultur immer Fragen aufgeworfen haben, Fragen, die sich mit uralten Grundthemen beschäftigen: Woher komme ich? Was bin ich? Wo gehe ich hin? Dies sind sehr persönliche Fragen, die jeder für sich beantworten muss. So auch ich. Es blieb nicht aus, dass sich die Fragestellungen auf die gesellschaftlichen Strukturen insgesamt ausweiteten; sie sind miteinander verwoben. Das Ich und das Wir sind nicht trennbar, aber in ihrer Polarität auch Ursache von natürlichen und notwendigen Spannungen und Wechselbeziehungen. Das vorliegende „Tagebuch der Gedanken und Reflexionen“ stellt insofern immer einen persönlichen Bezug her, ist keine wissenschaftliche Abhandlung, sondern ein Spiegelbild konkreter und geistiger Erlebnisse meiner Lebensabschnitte mit daraus resultierender Nachbearbeitung durch Niederschreiben im „Tagebuch“.

Die Erlebnisse sind bereichert worden durch Begegnungen und Gespräche, Anregungen vielfacher Art und Schriften, die mir seit meiner Schulzeit als wertvolle Begleiter Wege und Gedanken aufzeigten. Die Faszination auf diesem Weg: Die Bereicherungen finden kein Ende, sie schreiten weiter und weiter voran mit der Erkenntnis, dass es keine abschließende Erkenntnis geben wird – gut so. Auch das Niederschreiben dieser Abhandlung ist für mich ein Teil des Weges zur Erkenntnis. Meine Reflexionen sind zwar auch durch die Freimaurerei geprägt, sollen diese jedoch nicht umfassend erklären – dies ist jedoch als Nebenwirkung durchaus beabsichtigt. In vielen Fällen wird der geneigte Leser sich fragen, was dieser oder jener Gedanke mit Freimaurerei zu tun haben mag. Die Antwort ist einfach: Freimaurerei ist lebensnah, sie ist geradezu eine Aufforderung, sich der Vielfalt des Lebens mit Geist und Sinnen zu erfreuen – auch kritisch, denn eine Streitkultur zum Erkämpfen des Besseren und Guten ist Bestandteil eines bewussten Lebens. Auch Niederlagen gehören dazu. Und ich kann für mich etwas Bemerkenswertes feststellen: Mit diesem Bewusstsein geht trotzdem einher eine wachsende innere Ruhe und Zufriedenheit – das Finden des inneren Friedens. Für viele mögen diese als Gegensätze sich darstellenden Einstellungen – Zufriedenheit einerseits und Streitkultur andererseits – unvereinbar sein. Seien Sie versichert: Sie sind es. Sie sind die Energie des Lebens, welches uns durch unseren Schöpfer eingehaucht worden ist; wir bleiben Suchende.

Das „Tagebuch“ kann und soll keinen zeitlichen Ablauf meiner Erkundungen wiedergeben; das wäre widersinnig, denn die Gedanken und Reflexionen stellen sich entwickelnde Bezüge her, die im Laufe der Jahre ausgeweitet worden sind und vor- und zurückschauend ein komplex verwobenes Netzwerk bilden.

Damit kommen wir bereits zu einem mich ständig bewegenden Ansatz: Das Netzwerk von Gedanken und Reflexionen ist eine Erklärung dafür, dass gesprochene und niedergeschriebene Worte größtenteils ungenau verstanden werden, da sie beim Zuhörer bzw. Leser niemals die im Kopf des Vermittelnden zeitgleich ablaufenden Reflexionen und Verknüpfungen widerspiegeln können. Dieser nicht harmonisierende Vorgang – ein unlösbarer Konflikt! – ist Erklärung für viele Missverständnisse, die beim Zuhören und Lesen entstehen und zur vorschnellen Ablehnung der Gedanken des Vermittelnden führen können. Zur Harmonisierung des gegenseitigen Verstehens gehören der Wille zur Wahrnehmung und die Geduld, Erkenntnisse reifen zu lassen. Der wohldosierte Umgang mit der Zeit „in Besinnung“ ist dabei ein stützender Faktor, aber nur, wenn wir dem Treiben widerstehen, welches uns in einer schnelllebigen Zeit vorgegeben wird, weil wir meinen, uns dem immer schneller werdenden Tempo der durch IT-Prozessoren erzeugten Maschinentakte anpassen zu müssen – als Huldigung an den Gott Mammon. Denn: Zeit ist Geld. Welch ein Wahnsinn! Wahrnehmung und Erkenntnis werden bei diesem Vorantreiben zielstrebig dezimiert – methodisch, eiskalt, präzise. Das ist unmenschlich und unnatürlich.
Bin ich spießig (La Rochefoucauld: töricht)? Die Frage stelle ich mir selbstkritisch. Denn die Verhaltensweisen vieler Mitmenschen kommen mir äußerst seltsam vor. Mir begegnen immer häufiger Ignoranten, Egoisten und Rüpel. Sehe ich dies alleine so? Stehe ich mit meinen Beobachtungen allein auf weiter Flur? Die hastende Gesellschaft – unsere Gesellschaft – scheint mir immer mehr aus den Fugen geraten zu sein. Erwarte ich zu viel? Leide ich als zänkischer Alter rückblickend an verzerrten Wahrnehmungen? Über das Phänomen der Wahrnehmung möchte ich nähere Betrachtungen anstellen. Wahrnehmung als Voraussetzung für Erkenntnis ist gleichzeitig ein Schlüssel für Freiheit. Es scheint dringend geboten, diese unsere Freiheit als erquickende Lebensbegleitung in Erinnerung zu rufen. Die Sache hat nur einen Haken: Freiheit funktioniert nur in Verantwortung, mit dem freien Willen zur Selbstbestimmung unter Achtung von Mitmenschen und Umwelt – in Würde und Demut. Also doch spießig? Nun ja, ich bekenne mich mit dieser Schrift zu meinen Erfahrungen und Prägungen – diese können nur eine Anregung sein. Ich bekenne auch: Mein Freiheitsdrang ist stark ausgeprägt. Deshalb bin ich, im Gegensatz zur weitläufigen Auffassung über Menschen im Alter, nicht der „in Weisheit älter und geduldig Werdende“, sondern es treibt mich eine innere Kraft, Änderungen anzustiften. Aus zweierlei Gründen: Zunächst würde ich mich schuldig fühlen, meine persönlichen Überzeugungen zu verschweigen. Ein „Anecken“ bei manchen Zeitgenossen ist dabei nicht zu vermeiden. Zum anderen spüre ich die Verpflichtung, meine gesammelten Erfahrungen und Erkenntnisse weiterzugeben – auch mit dem Wissen, dass es keine allgemeingültigen Erkenntnisse geben kann. Aber ich lebe in der Überzeugung, eine Gesellschaft, die den Anspruch erheben will – sollte! – in einer menschenwürdigen Kultur (welcher?) zu leben, muss den Weg zum Besseren in einem weitgehenden Konsens der Werte und Normen immer wieder suchen und leben. Dies ist ein ewig andauernder Prozess, so wie die Schöpfung nicht ein einmalig abgeschlossener Akt war, sondern als Motor des Lebens weiter voranschreiten will. Wir sind Mitgestalter, sogar Verwalter dieser göttlichen Vorgabe. Damit haben wir eine ungeheure Verantwortung übernommen.

Vorangestellt sei ein mir immer wieder in Erinnerung gebrachtes Erlebnis, welches Wahrnehmung, bzw. die Ausschaltung derselben, recht anschaulich schildert:

An einem sonnigen Herbsttag saß ich im ICE. Von Süddeutschland kommend fuhr dieser in Richtung Berlin. Der Zug erklomm im Bereich der Kasseler Berge die Berghänge, tauchte wiederholt in die Dunkelheit der die Gipfel und Bergrücken durchschneidenden Tunnelröhren ein, kam aber immer wieder in die strahlende Helle des Tages. Das flirrende Licht fing sich in den Bäumen der vorbeiziehenden Wälder. Es funkelte und sprühte; die herbstlichen Farben leuchteten. Ein wunderschöner Anblick! Pure Natur. Ein Erlebnis, bei dem auch wohlige Wärme hautnah durch das Zugfenster drang. Neben mir saß ein junger Mann, der seinen am Vordersitz befestigten Klapptisch heruntergelassen hatte und das übliche „Werkzeug“ wie auch einige andere Mitreisende nutzte, einen Laptop. Die verstöpselten Ohren anderer geistesabwesend dreinschauender Passagiere und die Gruppe der „Nonsens“-Telefonierer sollten ebenfalls erwähnt werden. Mein Nachbar blickte intensiv auf den Bildschirm, ohne Unterbrechung, ohne Beachtung seiner Umgebung: Er betrachtete einen sonnigen Herbstwald. Die Alternative in freier Entscheidung: Bildschirm ausschalten? Warum – diese Frage stelle ich mir immer wieder – wird die verfremdete, virtuelle Welt im eingeengten Guckkasten der realen Welt, die weit mehr zu bieten hat, vorgezogen? Lebendige Wirklichkeit ist, bewusst gelebt, nicht zu überbieten.

Die Ausblendung der Realität durch die Droge Smartphone führt inzwischen zu akuten Verkehrsgefährdungen; so berichten es mehrfach die Medien und ich selbst kann dies häufig registrieren: Seien es die Autofahrer mit dem Gerät am Ohr oder Fußgänger, die wie Blinde auf die Fahrbahn laufen. Ein Bildbericht aus dem asiatischen Raum zeigt aus einer Großstadt einen breiten Fußgängerweg, dem durch Kennzeichnungen auf dem Boden eine „Fahrspur“ für Fußgänger mit Smartphonenutzung zugewiesen ist, damit die untätigen „normalen“ Fußgänger nicht angerempelt werden. Die Anpassung an die Nichtwahrnehmung wird also unterstützt und damit die Förderung der Dummheit.

Eine weitere Situation schildert die Unfähigkeit, Wahrnehmung zu wollen:

Eine Gruppe von 20 Personen unterhielt sich über verschiedene Lebenssituationen. Einer der Beteiligten, als Personalleiter in einer mittelständischen Firma angestellt, bekannte sich zu einer Beziehung, die er über das Internet aufgebaut hatte. Die virtuelle Beziehung, als solche gepflegt, brachte – sehr selten – auch direkte persönliche Kontakte zustande. Offensichtlich wurde die rein virtuelle Beziehung bevorzugt. Als am Gespräch Beteiligter werde ich die weiteren Äußerungen des Personalleiters wiedergeben: „Gelegentlich telefonieren wir miteinander. Dabei kann es passieren, dass wir uns streiten. Wir einigen uns dann, das Gespräch zu beenden und legen die Telefonhörer auf. Wir wollen aber weiterhin kommunizieren, ohne dabei unsere Stimmen zu hören. Deshalb geht jeder von uns an seinen Computer und wir tauschen auf diesem Wege unsere Gedanken aus.“

Angesichts dieses Bekenntnisses war ich verblüfft. Wie es den anderen Gesprächsteilnehmern erging, konnte ich nur vage vermuten. Von Zustimmung bis Ablehnung waren die Reaktionen, welche ich nur an den Gesichtszügen der Zuhörer meinte ablesen zu können, denn es wagte keiner die Schilderung der virtuellen Kommunikation mit Filterfunktion aufzugreifen und das Für und Wider offen zu diskutieren. Ich wagte dagegen ein Hinterfragen. Reaktion: heftige Abwendungen. Es herrschte bei allen anderen Zuhörern völlige Sprachlosigkeit – bezeichnend für eine Gesellschaft mit stetig wachsender Zahl von Einzelgängern (nichtssagend neudeutsch: Singles) und „eigenverantwortlichen Individualisten“!
An den aufgezeigten Beispielen, die beliebig ergänzt werden können, sollen Hinweise bzw. Fragen aufgeworfen werden, die zur Thematik hinführen sollen, nämlich zu Fragen, die mich ständig, seit Jahren, meist beeinflusst durch mich berührende Ereignisse, beschäftigt haben:

- Was nehmen wir noch wahr? Wie nehmen wir uns wahr? Offensichtlich ist bei vielen Menschen die Wahrnehmungsfähigkeit verkümmert. Warum? Wollen wir noch alles wahrnehmen, oder bevorzugen wir Filterfunktionen als Abschottung und Auslese?
- Wie können wir ohne Wahrnehmungsfähigkeit für uns Entscheidungen treffen? Die Differenzierung von Urteilen und Verurteilen ist dabei einzubeziehen, auch die Thematisierung der Toleranz.
- Wie können wir ohne Wahrnehmungsfähigkeit denken, fühlen und handeln?
- Unterstützt die sogenannte Informationsgesellschaft die Fähigkeit zur Wahrnehmung?
- Wie gestalten sich mitmenschliche Beziehungen bei verminderter Wahrnehmungsfähigkeit?
- Ist ohne Wahrnehmungsfähigkeit Freiheit eine anzustrebende Lebensqualität? Wie steht es mit unserem „freien Willen“? Wie und in welchem Umfang werden wir manipuliert?
- Welche Entwicklungen sind beim Umgang von Mensch zu Mensch zu erwarten?
- Welche Wertvorstellungen sollen wir aufgreifen und entwickeln? Wollen wir eine Hinwendung zu mehr Verantwortung, Selbstbestimmung und Leben in Würde?
- Die Dualität von Haben und Sein, von Geist und Materie muss wieder auf ein „vernünftiges“ Verhältnis gebracht werden. Die Überbetonung des Habens macht uns unzufrieden – raubt uns die Freiheit, ein humanes Leben in Erfüllung und Würde gestalten zu können.
- Der Wille ist Voraussetzung für Erkennen (Wahrnehmung) und Handeln. Erkennen und Handeln kann aber nicht mehr einer zahlenmäßig kleinen Gruppe oder gar dem Einzelnen überlassen werden. Die Gefahren der Welt müssen jeden zum „Besinnen“ auf Wesen und Werte führen.

Ein Schlüsselbegriff wird wie ein roter Faden die Kapitel durchziehen: Wahrnehmung. Wahrnehmung (will heißen: Wahrheit aufnehmen! Mit allen Sinnen!) ist Offenbarung einer Vielfalt, die durch Vernetzung der Sinngehalte (das ist Bedingung!) Erkenntnis schafft und damit die Basis für Wollen und Handeln – und Freiheit. Und: Vernetzte Vielfalt ist Fundament der Philosophie, der – in der Übersetzung – „Liebe zur Weisheit“.

Wahrnehmung als Schlüsselbegriff bedarf einer sich bereits aus Vorgesagtem notwendigen Eingrenzung: Unter Wahrnehmung ist im folgenden Kontext nicht die Wahrnehmung des anderen (im Sinne eines gegenseitigen Erkennens selbstverständlich notwendig), sondern meine eigene Wahrnehmung angesprochen. Nur sie ist maßgebend für die Frage: „Was bin ich?“ und die daraus mögliche Schlussfolgerung: Erkenne dich selbst! Dies ist eine typisch freimaurerische Grundhaltung, ja sogar Voraussetzung, um in sogenannten Erkenntnisstufen (Graden) auch tatsächlich Erkenntnisse erlangen zu können, die eigenen Willen und eigene Handlungen hilfreich leiten, und zwar als individuelle Außenwirkung, nicht als Präsentation von Freimaurerei. Dies ist das Hauptziel des Arbeitens am „rauen Stein“, der wir im maurerischen Terminus selber sind. Die Ausrichtung auf die alleinige Wahrnehmung anderer (die sollen sehen: mein neues Auto …, meinen Besuch in der Kirche …, mein Mobiltelefon) ist kontraproduktiv und fördert nicht die eigene Erkenntnis – im Gegenteil: nur Eitelkeit, Selbstsucht und innere Leere.

Wenn von Wahrnehmung die Rede ist, gehört also auch als Folge der Begriff Erkenntnis dazu. Diese ist, wie bereits angedeutet, eine häufig genutzte Begrifflichkeit in der Freimaurerei. Erkennen hat im Vergleich zum Kennen den Charakter des Neuen, des Hinführens zu weiterem Wissen und Verstehen. Auch ist in der neuzeitlichen Philosophie Erkenntnis ein Grundbegriff – zu Recht, denn Philosophie kennzeichnet sich insbesondere durch Offenheit und Einbeziehung vieler Wissensgebiete. Es existiert keine einheitliche Definition des Begriffs Erkenntnis. In erster Annäherung kann man Erkenntnis als den Prozess und als Ergebnis eines durch Einsicht oder Erfahrung gewonnenen Wissens bezeichnen. Aspekt der Erkenntnis ist Wirklichkeit, welche das Wissen aus dem Bewusstsein (Bereiche: Verstehen, Urteile, Begriffe, Erinnerung, Erscheinung, Introspektion) und Unterbewusstsein (Bereiche: Einbildung, Fantasie, Träume, Intuition, Aufmerksamkeit) schöpft. Der Begriff der Erkenntnis umfasst das Ergebnis (das Erkannte) und den Prozess des Erkennens (den Erkenntnisakt). Erkenntnis kann sich nicht isoliert einstellen, sie beinhaltet immer die Beziehung zwischen einem erkannten Subjekt und etwas Erkanntem (Objekt). Erkenntnis kann sich ebenso auf einen Sachverhalt wie auf einen Prozess beziehen. Ähnlich wie Wissen ist Erkenntnis mit dem Anspruch der Richtigkeit verbunden. Erkenntnisse sind subjektiv betrachtet immer wahre Erkenntnisse. Sie beinhalten das Verstehen von Zusammenhängen. Diese Definitionen im Vorwort erschienen mir bedeutsam, sollen aber nicht wissenschaftlich vertieft werden, da die Wissenschaft immer kontroverse Definitionen aufwirft. Dies gilt auch für weitere in den Kapiteln auftauchende Begriffe wie Wille, Geist, Vernunft, Materie, Tat und Handlung. In den nach Lösungen greifenden Schlusskapiteln wird auch der für mich wichtige Begriff Mystik aufgenommen. In diesem Zusammenhang kommen wir auf den Mystiker Meister Eckhart, der zwar als Mystiker bezeichnet wird, dem aber von einigen Geisteswissenschaftlern diese Einstufung heftig aberkannt wird. Dispute dieser Art will ich nicht aufgreifen, sie entsprechen nicht meinen Zielsetzungen. Vielmehr sollen – ganz im Sinne von Meister Eckhart – praktisch nachvollziehbare Ansätze dargestellt werden, die konkret in unser Leben eingreifen müssen. Genau dieser Anspruch ist in vielen wissenschaftlichen Erörterungen (Dispute des Selbstzwecks) zu vermissen. Diese vergängliche Selbstzweckwissenschaft, auch als Pseudowissenschaft unter anderem in Medien verbreitet, ist aus der gesellschaftlichen Zerrissenheit, auf die noch eingegangen wird, ein deutlich nachvollziehbares (Spiel-)Feld kontroverser Diskussionen. Das Unheilvolle: Diese Art „Wissenschaft“ ist Ursache und Wirkung gleichermaßen: Ursache deshalb, weil unsere Gesellschaft der Nährboden ist und Wirkung deshalb, weil eine derartige „Wissenschaft“ weitere gesellschaftliche Zerrissenheit zusätzlich fördert – ein Teufelskreis. Und: Die Wissenschaft in Freiheit ist ohne Verantwortung im Konsens von Werten und Ordnungen auch den Gefahren des Missbrauchs unterworfen.

Wenn von Erkenntnis die Rede ist, ist auch Gnosis einzubeziehen – auch hier gilt: im wissenschaftlichen Sinne wie häufig kontrovers interpretiert. Gnosis bezeichnet als religionswissenschaftlicher Begriff verschiedene religiöse Lehren, die von den „Gnostikern“ des Altertums bis zu gnostischen Elementen im Mittelalter und Wesenszügen im 19. und 20. Jahrhundert reicht – auch nicht christlichen. Von Bedeutung ist für die folgenden Betrachtungen vor allem die Feststellung, dass die Suche nach Erkenntnis ein uraltes Anliegen ist, ein Lebensprinzip, welches niemals aufgegeben werden darf. Nur auf dieser Basis ist im allumfassenden Sinne ein Überleben möglich. Ohne Erkenntnis sind wir verblendet und ohnmächtig, richtige Entscheidungen zu treffen und vernünftig zu handeln. Wahrnehmung und Erkenntnis müssen als grundlegende Basis für Entscheidungen und Handlungen wieder in den Mittelpunkt unseres Lebens gestellt werden. Wir sind auf dem besten Wege, das Lebensprinzip Erkenntnis als Prinzip für die gesamte Gesellschaft aufzugeben und an wie immer geartete Mechanismen, die uns beherrschen wollen und unseren Planeten Erde der Zerstörung preisgeben, abzutreten.

Im Vorfeld und während des Niederschreibens des „Tagebuches“ habe ich viele Gespräche geführt und musste mir gelegentlich die Meinung anhören, meine Darstellungen seien zu „anspruchsvoll und nicht für jedermann verständlich“. Diese Auffassung mag richtig sein. Aber: Meine Thesen in dieser Schrift finden damit eine Bestätigung. Eine weitere Beobachtung: Beim Lesen meiner Konzepte klang gelegentlich durch sicherlich wohlmeinende Kritiker der Hinweis an, die niedergeschriebenen Zeilen „fördern nur den eigenen Frust und zeigen die eigene Verdrängung“.

Vorwort und Einführung

„Mit dem Alter wird man törichter und weiser.“

„Es ist eine große Torheit, allein weise sein zu wollen.“

Es ist durchaus üblich, Lebenserinnerungen niederzuschreiben. Auch in meiner Familie konnte ich diese Praxis nachvollziehen. Mein Großvater aus der mütterlichen Linie war dafür ein imposantes Beispiel; sogar Geschichtsforscher haben sich mit seinen Niederschriften beschäftigt. Die väterliche Linie beschränkte sich nachvollziehbar – vieles ist wahrscheinlich durch Nachkriegswirren verloren gegangen – auf die Niederschrift einer ehrwürdigen, im Original erhaltenen Familienchronik, die immerhin seit dem 17. Jahrhundert kontinuierlich fortgeschrieben worden ist. Dem Drang, Vergangenes festzuhalten, bin ich gefolgt. Jedoch in einem ganz anderen Sinne. Seit rund drei Jahrzehnten – exakt ab 1987 – ist es mir zur Gewohnheit geworden, meine kreisenden Gedanken niederzuschreiben. Daraus sind u. a. Vortragsreihen entstanden, meistens im Umfeld der Freimaurerei. Die gedanklichen Reflexionen wurden geprägt und sicherlich auch weiterentwickelt durch diese meine seit 1986 andauernde Zugehörigkeit zur Großen Landesloge der Freimaurer von Deutschland (GLLFvD), auch aufgrund seiner undogmatisch christlichen Ausrichtung Freimaurerorden genannt. Das Phänomen Mensch, Umwelt und Schöpfung stand für mich im Vordergrund von Betrachtungen, die im Kontext mit unserer Geschichte und Kultur immer Fragen aufgeworfen haben, Fragen, die sich mit uralten Grundthemen beschäftigen: Woher komme ich? Was bin ich? Wo gehe ich hin? Dies sind sehr persönliche Fragen, die jeder für sich beantworten muss. So auch ich. Es blieb nicht aus, dass sich die Fragestellungen auf die gesellschaftlichen Strukturen insgesamt ausweiteten; sie sind miteinander verwoben. Das Ich und das Wir sind nicht trennbar, aber in ihrer Polarität auch Ursache von natürlichen und notwendigen Spannungen und Wechselbeziehungen. Das vorliegende „Tagebuch der Gedanken und Reflexionen“ stellt insofern immer einen persönlichen Bezug her, ist keine wissenschaftliche Abhandlung, sondern ein Spiegelbild konkreter und geistiger Erlebnisse meiner Lebensabschnitte mit daraus resultierender Nachbearbeitung durch Niederschreiben im „Tagebuch“.

Die Erlebnisse sind bereichert worden durch Begegnungen und Gespräche, Anregungen vielfacher Art und Schriften, die mir seit meiner Schulzeit als wertvolle Begleiter Wege und Gedanken aufzeigten. Die Faszination auf diesem Weg: Die Bereicherungen finden kein Ende, sie schreiten weiter und weiter voran mit der Erkenntnis, dass es keine abschließende Erkenntnis geben wird – gut so. Auch das Niederschreiben dieser Abhandlung ist für mich ein Teil des Weges zur Erkenntnis. Meine Reflexionen sind zwar auch durch die Freimaurerei geprägt, sollen diese jedoch nicht umfassend erklären – dies ist jedoch als Nebenwirkung durchaus beabsichtigt. In vielen Fällen wird der geneigte Leser sich fragen, was dieser oder jener Gedanke mit Freimaurerei zu tun haben mag. Die Antwort ist einfach: Freimaurerei ist lebensnah, sie ist geradezu eine Aufforderung, sich der Vielfalt des Lebens mit Geist und Sinnen zu erfreuen – auch kritisch, denn eine Streitkultur zum Erkämpfen des Besseren und Guten ist Bestandteil eines bewussten Lebens. Auch Niederlagen gehören dazu. Und ich kann für mich etwas Bemerkenswertes feststellen: Mit diesem Bewusstsein geht trotzdem einher eine wachsende innere Ruhe und Zufriedenheit – das Finden des inneren Friedens. Für viele mögen diese als Gegensätze sich darstellenden Einstellungen – Zufriedenheit einerseits und Streitkultur andererseits – unvereinbar sein. Seien Sie versichert: Sie sind es. Sie sind die Energie des Lebens, welches uns durch unseren Schöpfer eingehaucht worden ist; wir bleiben Suchende.

Das „Tagebuch“ kann und soll keinen zeitlichen Ablauf meiner Erkundungen wiedergeben; das wäre widersinnig, denn die Gedanken und Reflexionen stellen sich entwickelnde Bezüge her, die im Laufe der Jahre ausgeweitet worden sind und vor- und zurückschauend ein komplex verwobenes Netzwerk bilden.

Damit kommen wir bereits zu einem mich ständig bewegenden Ansatz: Das Netzwerk von Gedanken und Reflexionen ist eine Erklärung dafür, dass gesprochene und niedergeschriebene Worte größtenteils ungenau verstanden werden, da sie beim Zuhörer bzw. Leser niemals die im Kopf des Vermittelnden zeitgleich ablaufenden Reflexionen und Verknüpfungen widerspiegeln können. Dieser nicht harmonisierende Vorgang – ein unlösbarer Konflikt! – ist Erklärung für viele Missverständnisse, die beim Zuhören und Lesen entstehen und zur vorschnellen Ablehnung der Gedanken des Vermittelnden führen können. Zur Harmonisierung des gegenseitigen Verstehens gehören der Wille zur Wahrnehmung und die Geduld, Erkenntnisse reifen zu lassen. Der wohldosierte Umgang mit der Zeit „in Besinnung“ ist dabei ein stützender Faktor, aber nur, wenn wir dem Treiben widerstehen, welches uns in einer schnelllebigen Zeit vorgegeben wird, weil wir meinen, uns dem immer schneller werdenden Tempo der durch IT-Prozessoren erzeugten Maschinentakte anpassen zu müssen – als Huldigung an den Gott Mammon. Denn: Zeit ist Geld. Welch ein Wahnsinn! Wahrnehmung und Erkenntnis werden bei diesem Vorantreiben zielstrebig dezimiert – methodisch, eiskalt, präzise. Das ist unmenschlich und unnatürlich.
Bin ich spießig (La Rochefoucauld: töricht)? Die Frage stelle ich mir selbstkritisch. Denn die Verhaltensweisen vieler Mitmenschen kommen mir äußerst seltsam vor. Mir begegnen immer häufiger Ignoranten, Egoisten und Rüpel. Sehe ich dies alleine so? Stehe ich mit meinen Beobachtungen allein auf weiter Flur? Die hastende Gesellschaft – unsere Gesellschaft – scheint mir immer mehr aus den Fugen geraten zu sein. Erwarte ich zu viel? Leide ich als zänkischer Alter rückblickend an verzerrten Wahrnehmungen? Über das Phänomen der Wahrnehmung möchte ich nähere Betrachtungen anstellen. Wahrnehmung als Voraussetzung für Erkenntnis ist gleichzeitig ein Schlüssel für Freiheit. Es scheint dringend geboten, diese unsere Freiheit als erquickende Lebensbegleitung in Erinnerung zu rufen. Die Sache hat nur einen Haken: Freiheit funktioniert nur in Verantwortung, mit dem freien Willen zur Selbstbestimmung unter Achtung von Mitmenschen und Umwelt – in Würde und Demut. Also doch spießig? Nun ja, ich bekenne mich mit dieser Schrift zu meinen Erfahrungen und Prägungen – diese können nur eine Anregung sein. Ich bekenne auch: Mein Freiheitsdrang ist stark ausgeprägt. Deshalb bin ich, im Gegensatz zur weitläufigen Auffassung über Menschen im Alter, nicht der „in Weisheit älter und geduldig Werdende“, sondern es treibt mich eine innere Kraft, Änderungen anzustiften. Aus zweierlei Gründen: Zunächst würde ich mich schuldig fühlen, meine persönlichen Überzeugungen zu verschweigen. Ein „Anecken“ bei manchen Zeitgenossen ist dabei nicht zu vermeiden. Zum anderen spüre ich die Verpflichtung, meine gesammelten Erfahrungen und Erkenntnisse weiterzugeben – auch mit dem Wissen, dass es keine allgemeingültigen Erkenntnisse geben kann. Aber ich lebe in der Überzeugung, eine Gesellschaft, die den Anspruch erheben will – sollte! – in einer menschenwürdigen Kultur (welcher?) zu leben, muss den Weg zum Besseren in einem weitgehenden Konsens der Werte und Normen immer wieder suchen und leben. Dies ist ein ewig andauernder Prozess, so wie die Schöpfung nicht ein einmalig abgeschlossener Akt war, sondern als Motor des Lebens weiter voranschreiten will. Wir sind Mitgestalter, sogar Verwalter dieser göttlichen Vorgabe. Damit haben wir eine ungeheure Verantwortung übernommen.

Vorangestellt sei ein mir immer wieder in Erinnerung gebrachtes Erlebnis, welches Wahrnehmung, bzw. die Ausschaltung derselben, recht anschaulich schildert:

An einem sonnigen Herbsttag saß ich im ICE. Von Süddeutschland kommend fuhr dieser in Richtung Berlin. Der Zug erklomm im Bereich der Kasseler Berge die Berghänge, tauchte wiederholt in die Dunkelheit der die Gipfel und Bergrücken durchschneidenden Tunnelröhren ein, kam aber immer wieder in die strahlende Helle des Tages. Das flirrende Licht fing sich in den Bäumen der vorbeiziehenden Wälder. Es funkelte und sprühte; die herbstlichen Farben leuchteten. Ein wunderschöner Anblick! Pure Natur. Ein Erlebnis, bei dem auch wohlige Wärme hautnah durch das Zugfenster drang. Neben mir saß ein junger Mann, der seinen am Vordersitz befestigten Klapptisch heruntergelassen hatte und das übliche „Werkzeug“ wie auch einige andere Mitreisende nutzte, einen Laptop. Die verstöpselten Ohren anderer geistesabwesend dreinschauender Passagiere und die Gruppe der „Nonsens“-Telefonierer sollten ebenfalls erwähnt werden. Mein Nachbar blickte intensiv auf den Bildschirm, ohne Unterbrechung, ohne Beachtung seiner Umgebung: Er betrachtete einen sonnigen Herbstwald. Die Alternative in freier Entscheidung: Bildschirm ausschalten? Warum – diese Frage stelle ich mir immer wieder – wird die verfremdete, virtuelle Welt im eingeengten Guckkasten der realen Welt, die weit mehr zu bieten hat, vorgezogen? Lebendige Wirklichkeit ist, bewusst gelebt, nicht zu überbieten.

Die Ausblendung der Realität durch die Droge Smartphone führt inzwischen zu akuten Verkehrsgefährdungen; so berichten es mehrfach die Medien und ich selbst kann dies häufig registrieren: Seien es die Autofahrer mit dem Gerät am Ohr oder Fußgänger, die wie Blinde auf die Fahrbahn laufen. Ein Bildbericht aus dem asiatischen Raum zeigt aus einer Großstadt einen breiten Fußgängerweg, dem durch Kennzeichnungen auf dem Boden eine „Fahrspur“ für Fußgänger mit Smartphonenutzung zugewiesen ist, damit die untätigen „normalen“ Fußgänger nicht angerempelt werden. Die Anpassung an die Nichtwahrnehmung wird also unterstützt und damit die Förderung der Dummheit.

Eine weitere Situation schildert die Unfähigkeit, Wahrnehmung zu wollen:

Eine Gruppe von 20 Personen unterhielt sich über verschiedene Lebenssituationen. Einer der Beteiligten, als Personalleiter in einer mittelständischen Firma angestellt, bekannte sich zu einer Beziehung, die er über das Internet aufgebaut hatte. Die virtuelle Beziehung, als solche gepflegt, brachte – sehr selten – auch direkte persönliche Kontakte zustande. Offensichtlich wurde die rein virtuelle Beziehung bevorzugt. Als am Gespräch Beteiligter werde ich die weiteren Äußerungen des Personalleiters wiedergeben: „Gelegentlich telefonieren wir miteinander. Dabei kann es passieren, dass wir uns streiten. Wir einigen uns dann, das Gespräch zu beenden und legen die Telefonhörer auf. Wir wollen aber weiterhin kommunizieren, ohne dabei unsere Stimmen zu hören. Deshalb geht jeder von uns an seinen Computer und wir tauschen auf diesem Wege unsere Gedanken aus.“

Angesichts dieses Bekenntnisses war ich verblüfft. Wie es den anderen Gesprächsteilnehmern erging, konnte ich nur vage vermuten. Von Zustimmung bis Ablehnung waren die Reaktionen, welche ich nur an den Gesichtszügen der Zuhörer meinte ablesen zu können, denn es wagte keiner die Schilderung der virtuellen Kommunikation mit Filterfunktion aufzugreifen und das Für und Wider offen zu diskutieren. Ich wagte dagegen ein Hinterfragen. Reaktion: heftige Abwendungen. Es herrschte bei allen anderen Zuhörern völlige Sprachlosigkeit – bezeichnend für eine Gesellschaft mit stetig wachsender Zahl von Einzelgängern (nichtssagend neudeutsch: Singles) und „eigenverantwortlichen Individualisten“!
An den aufgezeigten Beispielen, die beliebig ergänzt werden können, sollen Hinweise bzw. Fragen aufgeworfen werden, die zur Thematik hinführen sollen, nämlich zu Fragen, die mich ständig, seit Jahren, meist beeinflusst durch mich berührende Ereignisse, beschäftigt haben:

- Was nehmen wir noch wahr? Wie nehmen wir uns wahr? Offensichtlich ist bei vielen Menschen die Wahrnehmungsfähigkeit verkümmert. Warum? Wollen wir noch alles wahrnehmen, oder bevorzugen wir Filterfunktionen als Abschottung und Auslese?
- Wie können wir ohne Wahrnehmungsfähigkeit für uns Entscheidungen treffen? Die Differenzierung von Urteilen und Verurteilen ist dabei einzubeziehen, auch die Thematisierung der Toleranz.
- Wie können wir ohne Wahrnehmungsfähigkeit denken, fühlen und handeln?
- Unterstützt die sogenannte Informationsgesellschaft die Fähigkeit zur Wahrnehmung?
- Wie gestalten sich mitmenschliche Beziehungen bei verminderter Wahrnehmungsfähigkeit?
- Ist ohne Wahrnehmungsfähigkeit Freiheit eine anzustrebende Lebensqualität? Wie steht es mit unserem „freien Willen“? Wie und in welchem Umfang werden wir manipuliert?
- Welche Entwicklungen sind beim Umgang von Mensch zu Mensch zu erwarten?
- Welche Wertvorstellungen sollen wir aufgreifen und entwickeln? Wollen wir eine Hinwendung zu mehr Verantwortung, Selbstbestimmung und Leben in Würde?
- Die Dualität von Haben und Sein, von Geist und Materie muss wieder auf ein „vernünftiges“ Verhältnis gebracht werden. Die Überbetonung des Habens macht uns unzufrieden – raubt uns die Freiheit, ein humanes Leben in Erfüllung und Würde gestalten zu können.
- Der Wille ist Voraussetzung für Erkennen (Wahrnehmung) und Handeln. Erkennen und Handeln kann aber nicht mehr einer zahlenmäßig kleinen Gruppe oder gar dem Einzelnen überlassen werden. Die Gefahren der Welt müssen jeden zum „Besinnen“ auf Wesen und Werte führen.

Ein Schlüsselbegriff wird wie ein roter Faden die Kapitel durchziehen: Wahrnehmung. Wahrnehmung (will heißen: Wahrheit aufnehmen! Mit allen Sinnen!) ist Offenbarung einer Vielfalt, die durch Vernetzung der Sinngehalte (das ist Bedingung!) Erkenntnis schafft und damit die Basis für Wollen und Handeln – und Freiheit. Und: Vernetzte Vielfalt ist Fundament der Philosophie, der – in der Übersetzung – „Liebe zur Weisheit“.

Wahrnehmung als Schlüsselbegriff bedarf einer sich bereits aus Vorgesagtem notwendigen Eingrenzung: Unter Wahrnehmung ist im folgenden Kontext nicht die Wahrnehmung des anderen (im Sinne eines gegenseitigen Erkennens selbstverständlich notwendig), sondern meine eigene Wahrnehmung angesprochen. Nur sie ist maßgebend für die Frage: „Was bin ich?“ und die daraus mögliche Schlussfolgerung: Erkenne dich selbst! Dies ist eine typisch freimaurerische Grundhaltung, ja sogar Voraussetzung, um in sogenannten Erkenntnisstufen (Graden) auch tatsächlich Erkenntnisse erlangen zu können, die eigenen Willen und eigene Handlungen hilfreich leiten, und zwar als individuelle Außenwirkung, nicht als Präsentation von Freimaurerei. Dies ist das Hauptziel des Arbeitens am „rauen Stein“, der wir im maurerischen Terminus selber sind. Die Ausrichtung auf die alleinige Wahrnehmung anderer (die sollen sehen: mein neues Auto …, meinen Besuch in der Kirche …, mein Mobiltelefon) ist kontraproduktiv und fördert nicht die eigene Erkenntnis – im Gegenteil: nur Eitelkeit, Selbstsucht und innere Leere.

Wenn von Wahrnehmung die Rede ist, gehört also auch als Folge der Begriff Erkenntnis dazu. Diese ist, wie bereits angedeutet, eine häufig genutzte Begrifflichkeit in der Freimaurerei. Erkennen hat im Vergleich zum Kennen den Charakter des Neuen, des Hinführens zu weiterem Wissen und Verstehen. Auch ist in der neuzeitlichen Philosophie Erkenntnis ein Grundbegriff – zu Recht, denn Philosophie kennzeichnet sich insbesondere durch Offenheit und Einbeziehung vieler Wissensgebiete. Es existiert keine einheitliche Definition des Begriffs Erkenntnis. In erster Annäherung kann man Erkenntnis als den Prozess und als Ergebnis eines durch Einsicht oder Erfahrung gewonnenen Wissens bezeichnen. Aspekt der Erkenntnis ist Wirklichkeit, welche das Wissen aus dem Bewusstsein (Bereiche: Verstehen, Urteile, Begriffe, Erinnerung, Erscheinung, Introspektion) und Unterbewusstsein (Bereiche: Einbildung, Fantasie, Träume, Intuition, Aufmerksamkeit) schöpft. Der Begriff der Erkenntnis umfasst das Ergebnis (das Erkannte) und den Prozess des Erkennens (den Erkenntnisakt). Erkenntnis kann sich nicht isoliert einstellen, sie beinhaltet immer die Beziehung zwischen einem erkannten Subjekt und etwas Erkanntem (Objekt). Erkenntnis kann sich ebenso auf einen Sachverhalt wie auf einen Prozess beziehen. Ähnlich wie Wissen ist Erkenntnis mit dem Anspruch der Richtigkeit verbunden. Erkenntnisse sind subjektiv betrachtet immer wahre Erkenntnisse. Sie beinhalten das Verstehen von Zusammenhängen. Diese Definitionen im Vorwort erschienen mir bedeutsam, sollen aber nicht wissenschaftlich vertieft werden, da die Wissenschaft immer kontroverse Definitionen aufwirft. Dies gilt auch für weitere in den Kapiteln auftauchende Begriffe wie Wille, Geist, Vernunft, Materie, Tat und Handlung. In den nach Lösungen greifenden Schlusskapiteln wird auch der für mich wichtige Begriff Mystik aufgenommen. In diesem Zusammenhang kommen wir auf den Mystiker Meister Eckhart, der zwar als Mystiker bezeichnet wird, dem aber von einigen Geisteswissenschaftlern diese Einstufung heftig aberkannt wird. Dispute dieser Art will ich nicht aufgreifen, sie entsprechen nicht meinen Zielsetzungen. Vielmehr sollen – ganz im Sinne von Meister Eckhart – praktisch nachvollziehbare Ansätze dargestellt werden, die konkret in unser Leben eingreifen müssen. Genau dieser Anspruch ist in vielen wissenschaftlichen Erörterungen (Dispute des Selbstzwecks) zu vermissen. Diese vergängliche Selbstzweckwissenschaft, auch als Pseudowissenschaft unter anderem in Medien verbreitet, ist aus der gesellschaftlichen Zerrissenheit, auf die noch eingegangen wird, ein deutlich nachvollziehbares (Spiel-)Feld kontroverser Diskussionen. Das Unheilvolle: Diese Art „Wissenschaft“ ist Ursache und Wirkung gleichermaßen: Ursache deshalb, weil unsere Gesellschaft der Nährboden ist und Wirkung deshalb, weil eine derartige „Wissenschaft“ weitere gesellschaftliche Zerrissenheit zusätzlich fördert – ein Teufelskreis. Und: Die Wissenschaft in Freiheit ist ohne Verantwortung im Konsens von Werten und Ordnungen auch den Gefahren des Missbrauchs unterworfen.

Wenn von Erkenntnis die Rede ist, ist auch Gnosis einzubeziehen – auch hier gilt: im wissenschaftlichen Sinne wie häufig kontrovers interpretiert. Gnosis bezeichnet als religionswissenschaftlicher Begriff verschiedene religiöse Lehren, die von den „Gnostikern“ des Altertums bis zu gnostischen Elementen im Mittelalter und Wesenszügen im 19. und 20. Jahrhundert reicht – auch nicht christlichen. Von Bedeutung ist für die folgenden Betrachtungen vor allem die Feststellung, dass die Suche nach Erkenntnis ein uraltes Anliegen ist, ein Lebensprinzip, welches niemals aufgegeben werden darf. Nur auf dieser Basis ist im allumfassenden Sinne ein Überleben möglich. Ohne Erkenntnis sind wir verblendet und ohnmächtig, richtige Entscheidungen zu treffen und vernünftig zu handeln. Wahrnehmung und Erkenntnis müssen als grundlegende Basis für Entscheidungen und Handlungen wieder in den Mittelpunkt unseres Lebens gestellt werden. Wir sind auf dem besten Wege, das Lebensprinzip Erkenntnis als Prinzip für die gesamte Gesellschaft aufzugeben und an wie immer geartete Mechanismen, die uns beherrschen wollen und unseren Planeten Erde der Zerstörung preisgeben, abzutreten.

Im Vorfeld und während des Niederschreibens des „Tagebuches“ habe ich viele Gespräche geführt und musste mir gelegentlich die Meinung anhören, meine Darstellungen seien zu „anspruchsvoll und nicht für jedermann verständlich“. Diese Auffassung mag richtig sein. Aber: Meine Thesen in dieser Schrift finden damit eine Bestätigung. Eine weitere Beobachtung: Beim Lesen meiner Konzepte klang gelegentlich durch sicherlich wohlmeinende Kritiker der Hinweis an, die niedergeschriebenen Zeilen „fördern nur den eigenen Frust und zeigen die eigene Verdrängung“.

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