Trotzdem - (m)ein pralles Leben in der DDR
Klaus Hübschmann
EUR 16,90
EUR 10,99
Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 254
ISBN: 978-3-99038-964-5
Erscheinungsdatum: 07.07.2015
Dr. Hübschmann wird Leiter einer renommierten Kinderklinik in der DDR. Trotz heftigen politischen Anfeindungen gelingt es ihm als unangepassten Zeitgenossen, sowohl beruflich als auch privat ein erfülltes Leben zu führen.
Schon mein Geburtsjahr war, wie sich im Nachhinein erweisen sollte, ein Wunder, es war das Jahr 1932. Das Wunder: männliche Angehörige der Jahrgänge 1931 bis etwa 1936 waren, wie sich später herausstellte, die einzigen im gesamten 20. Jahrhundert, die nie der Wehrpflicht unterlagen. Für die Nazi-Wehrmacht waren wir zu jung, beim späteren Beginn der Wiedereinführung der Wehrpflicht nach der Entstehung der beiden großen Weltblöcke und der damit verbundenen neuen Aufrüstung in Ost und West waren wir zu alt. Ich bin also nie auf einem Kasernenhof geschliffen worden und hatte nie in meinem Leben eine Waffe in der Hand – mit einer eher witzigen Ausnahme. Mein Vater, Landarzt in einer Thüringer Kleinstadt, wurde 1940 eingezogen zum Sanitätsdienst in der Wehrmacht. 1942 wurde er wieder entlassen und war nun Reservist. Ende 1943 wurde er erneut „gezogen“, er bekam ein entsprechendes Schreiben, in dem vermerkt war, wo er sich wann mit welchen Unterlagen bzw. Utensilien (Ausweis, Wehrpass, Dienstwaffe etc.) zu stellen habe. Er hatte alles schnell zur Hand, aber, Entsetzen, die Dienstwaffe, eine Pistole, war nicht auffindbar. Er fragte meine Mutter, befragte uns Kinder, alles ohne Erfolg. Der Stichtag rückte immer näher und mein Vater wurde von Tag zu Tag unruhiger, denn der „Verlust“ der Dienstwaffe war damals eine echte Katastrophe mit sehr schlimmen Folgen. Als manchmal vigilantes Kerlchen machte ich mich, der ich die Tragweite dieses Verlustes durchaus zu ermessen in der Lage war, an einem stillen Nachmittag nun meinerseits an die Suche. Nach einem kindlichen Ausflug in die Psychologie der Erwachsenen im Allgemeinen und die meines Vaters im Besonderen kam ich zu dem Schluss, die Waffe könne eigentlich nur in einem für Kinder schwer zugänglichen Teil des elterlichen Kleiderschrankes oder im Herrenschrank liegen. Ein Herrenschrank, damals ein verbreitetes Möbelstück im oberen Mittelstand, war ein Möbelstück deutlich größer als eine Kommode, aber deutlich kleiner als ein Kleider- oder Wäscheschrank, in dem die kleineren Kleidungsstücke des „Herren“ aufbewahrt wurden wie Unterwäsche, Hemden, Pullover, Taschentücher und Ähnliches. Meine Eltern hatten das alles schon einmal intensiv abgesucht, das wusste ich, aber es war für mich eine Herausforderung, alle „geheimen“ Stellen im Hause noch einmal genau zu inspizieren. Meine Eltern hatten im Herrenschrank offenbar zwischen den einzelnen Kleidungsstücken gesucht, ich wählte eine andere Strategie. Mit meiner zarten, kleinen Knabenhand fuhr ich unter die einzelnen Stapel und hob sie an. Unter dem ersten fand ich nichts. Unter dem zweiten fand ich ein Gebinde, das lauter Kondome enthielt (ich glaube mich zu erinnern, diesen Fund mit kindlichem Schmunzeln quittiert zu haben – meinen Eltern habe ich das natürlich nie berichtet). Merkwürdig gruseliger Gedanke heute: Hätte mein Vater in der Nacht meiner Zeugung solch ein Ding benutzt, gäbe es mich gar nicht, hätte es mich nie gegeben.
Unter dem nächsten Stapel dann fand ich schließlich tatsächlich die so wichtige, vermisste Pistole. Ich zog sie hervor und rannte damit aufgeregt und strahlend die Treppe hinunter ins Wohnzimmer, wo ich die Waffe stolz präsentierte und tatsächlich ob dieses Fundes sehr viel Lob und Anerkennung erntete. Wenn nach diesem Ereignis im Hause etwas verschwunden schien und nicht auf Anhieb gefunden werden konnte, hieß es dann: „Kläuslein, such du doch mal, du findest doch immer alles.“ Das Lustige war, dass sie damit viel mehr recht hatten, als sie ahnten. Ich hatte damals vor dem Herrenschrank die obersten, hintersten Partien des Kleiderschrankes abgesucht und dabei die bereits besorgten Weihnachtsgeschenke entdeckt, es waren sogenannte Bleischiffe „Wikingermodelle“, die mein Bruder und ich uns jedes Jahr aufs Neue wünschten, um unsere bereits vorhandene Flotte zu erweitern. Wir waren ja Kinder eines zu dieser Zeit an allen Fronten siegreichen Volkes, vollgedröhnt mit der aufgedonnerten Musik glorreicher Sondermeldungen und völlig ohne tiefere Erkenntnis dessen, was in den von Deutschland eroberten und besetzten Ländern vor sich ging, meine Eltern waren zwar nicht in der NSDAP, aber auch nicht gerade Antifaschisten. Ich erzählte dies meinem Bruder und grotesk, wenn die Eltern nicht zu Hause waren, kramten wir die Schiffe hervor und überlegten, wer wohl den Zerstörer, das U-Boot oder den leichten Kreuzer „Königsberg“ bekäme. Für den Fall, dass die Schiffe dem aus unserer Sicht Falschen zugeteiltwürden, berieten wir schon einmal vorsorglich, wie wir denn Weihnachten dann so tauschen könnten, dass beide zufrieden sein würden.
Für mich war das Erlebnis mit der Pistole viel mehr als nur die Entdeckung des für meinen Vater so sehr wichtigen Utensils, es war eine wunderbare Befreiung aus einem Albtraum, denn ich galt bis zu diesem Zeitpunkt als „Huck, der Unglücksrabe“ der Familie.
Im Alter von etwa 3 Monaten erkrankte ich an einer sehr schweren Säuglingsdiarrhoe mit so starkem Wasserverlust, dass man mich schon aufgegeben hatte. Im Alter von vier Jahren entwickelte sich bei mir ein Darmverschluss (sog. Invagination) so dramatisch und auch lebensgefährlich, dass ich sofort in die chirurgische Klinik in Erfurt gebracht und durch die angemessene Operation gerettet wurde. Mein Vater hatte sofort die richtige Diagnose gestellt und dadurch wurde sehr früh operiert und der Darm war noch nicht so stark geschädigt, dass man, wie nicht selten in solchen Fällen, kein Stück des Darmes entfernen musste, Vater sei Dank und Dank. Es gibt von mir ein Ölgemälde, das mich als Vierjährigen darstellt. Als junger Mann fragte ich meine Eltern, wieso sie denn mich hätten in Öl malen lassen. Ihre Antwort: Nach dem, was sie alles mit mir durchgemacht hatten, seien sie der Überzeugung gewesen, sehr alt würde ich wohl nicht werden, und wenn ich denn schon relativ früh ins Jenseits abberufen werden würde, wollten sie wenigstens ein buntes, lebensfrohes Bild von mir haben wollen. „Totgesagte leben länger“ heißt es im Volksmund. Die Herstellung dieses Bildes war übrigens eine komplizierte Aktion. Erst einmal musste man eruieren, wo es einen „Kunstmaler“ gäbe, der so ein Porträt per Auftrag anfertigte. Nachdem man ihn ausfindig gemacht hatte, wurde verabredet, dass er uns besuchen kommen und ich in der Kleidung ihm gegenübersitzen würde, die dann auf dem Bild zu sehen wäre – dazu bat er sich ein Schwarz-Weiß-Foto von mir aus. So gerüstet malte er dann den Knaben „in Öl“, versah das Bild mit einem Rahmen und schickte es mit der angemessenen Rechnung den Eltern zu. Da hing ich nun, in bunten Farben trefflich verewigt, zu Hause im Wohnzimmer an der Wand, ich, der Unglücksrabe. Der blieb ich leider auch weiterhin, denn anlässlich einer sonntäglichen Kurzwanderung in ein nahe gelegenes Wäldchen blieb die ganze Familie plötzlich wie angewurzelt stehen und staunte: Aus der Öffnung eines Kaninchenbaues lugte ohne Scheu vor uns ein niedliches Frettchen hervor. Dabei stürzte ich aus dem Stand, nun wirklich ohne erkennbare Ursache, so unglücklich, dass ich mir einen ziemlich komplizierten Bruch des linken Armes zuzog, was meine ungeduldigen Eltern natürlich erst einmal mit großem Unmut registrierten. Der Bruch war auch noch so atypisch, dass sie mit mir zu dem damals einzigen Orthopäden (das immerhin taten sie denn doch) ins 40 km entfernte Arnstadt fuhren zum arrivierten Professor Frosch, der denn dann auch die angemessene Behandlung übernahm. Der nächste Schicksalsschlag traf mich, als ich 14 Jahre alt war. Ich besuchte zu dieser Zeit eine Internatsschule (Schulpforta bei Naumburg) und eines Abends in der Dämmerung ging ich mit einigen Mitschülern in ein nahe gelegenes Ausflugslokal. Wir liefen alle am Rande einer Chaussee entlang, und da ich besonders gute Laune hatte, lief ich einige Schritte rückwärts und gestikulierte dabei fröhlich mit den Armen. Als wir uns am Ende einer scharfen Kurve befanden, kam ein besoffener Russe, der offenbar erst kurz zuvor ein Fahrrad geklaut hatte (damals eine ganz gewohnte Situation der Besatzungstruppen), einen recht steilen Berg herabgeschossen, erwischte aber die Kurve nicht richtig und knallte voll in mich oder an mich, sodass ich wie vom Blitz getroffen auf die Straße schlug und tief bewusstlos liegen blieb. Danach haben offenbar die Mitschüler in der Schule Alarm gegeben, denn als ich am nächsten Morgen wieder zu Bewusstsein kam, lag ich in Naumburg im Krankenhaus. Die Reaktion meiner Eltern kann ich mir lebhaft vorstellen, einerseits natürlich die Sorge um das Leben und um mögliche Folgedefekte nach diesem schweren Trauma (Diagnose: Hirnprellung), andererseits aber auch: wieder der Klaus.
Nach meinem Medizinstudium kam mir dann der folgende Gedanke: mit 4 Monaten fast tot, mit 14 Jahren Gehirnprellung, alles konnte sehr wohl einen Einfluss auf meine mentale Entwicklung gehabt haben. Was wäre womöglich aus mir geworden ohne diese schädigungsträchtigen Ereignisse?
Obwohl ich eher ein Spätentwickler war, geschah dann etwas, was wahrscheinlich mein Leben in ganz besonderer Weise beeinflusst hat. Mein älterer Bruder wurde im Jahr 1937 eingeschult, er war im April geboren, und da zu dieser Zeit die Einschulung im April erfolgte, war bei ihm der Schulbeginn zeitgerecht. Danach fühlte ich mich zu Hause (trotz einer Schwester, die aber 2 Jahre jünger war als ich) total verlassen und alleine. Da ich im September geboren war, drohte mir der Schulbeginn erst 1939, also zwei Jahre nach meinem Bruder. Ich lag deshalb meinen Eltern dauernd in den Ohren mit dem Wunsch, ich wolle schon ein Jahr früher, als meinem Alter entsprach, eingeschult werden, um der häuslichen Langeweile zu entfliehen. Irgendjemand muss mir dann doch die geistige Schulreife attestiert haben, denn ich kam wie gewünscht 1938 in die 1. Klasse. Heute habe ich zu diesem Ereignis ein sehr gespaltenes Verhältnis. Einerseits halte ich meine Einschulung mit 5 ½ Jahren für zu früh, andererseits hätte ich bei vorgeschriebenem Schulbeginn wohl auch keine bessere Reife vorweisen können, denn Vorschule oder andere anregende Institutionen gab es damals nicht, ich hätte einfach nur zu Hause rumgedödelt. Andererseits hatte ich durch diese vorzeitige Einschulung das völlig unverdiente Glück, als Gymnasiast und auch zur Studienzeit wunderbare Mitschüler bzw. Kommilitonen um mich zu haben, die Klassen und Semesterjahrgänge danach waren beide auch nicht annähernd von gleicher Qualität. In der Grundschule war der „Sohn vom Doktor“ immer mit unter den Besten, es gab keine Probleme. Leider war ich im Fach Rechnen sogar der Beste, was sich eines Tages als katastrophal erwies. Unser Lehrer hatte sich Folgendes ausgedacht. Er kam, es war die dritte oder vierte Stunde, in die Klasse und verkündete uns, er werde uns jetzt eine besonders schwere Rechenaufgabe stellen. Wer diese zuerst und richtig gelöst habe, werde zur Belohnung vom Rest des Unterrichtstages befreit. Ich löste diese Aufgabe als Erster und konnte gehen. Was als Belohnung gedacht war, entwickelte sich zum blanken Horror. Erst einmal war meine Mutter sehr erstaunt, als ich plötzlich zu Hause auftauchte, und fragte mich, wie das denn käme, ob ich etwas ausgefressen hätte. Ich beruhigte sie mit der Schilderung der Rechenstunde. Danach irrte ich traurig und verwirrt durch einige Straßen und Spielplätze unserer Kleinstadt und fühlte mich völlig einsam und verlassen, fast wie ausgegrenzt, die Situation hat sich tief in mein Gedächtnis eingegraben. Der Mann war eben Lehrer, aber kein Pädagoge.
Als ich die 4. Klasse abgeschlossen hatte, war es natürlich klar, dass ich nun das humanistische Gymnasium besuchen sollte – in der nahe gelegenen Stadt Erfurt. Normalerweise hätte dieses Vorhaben scheitern müssen, aber durch einen schier unglaublichen Zufall schaffte ich tatsächlich die Aufnahmeprüfung, und das kam so: Am Tag dieser Prüfung waren meine Eltern verreist und beauftragten unser absolut zuverlässiges Kindermädchen, es solle mit mir mit dem Zug X nach Erfurt fahren. Just an diesem Schicksalstag verschlief aber dieses Mädchen und so konnten wir erst einen Zug später fahren. Als wir in die Schule kamen, hatten die Prüflinge gerade das Diktat absolviert. Rektor und Lehrer überlegten nun, was denn mit mir zu geschehen sei. Sie kamen zu folgendem Schluss: Da der Bruder dieses Knaben ein leidlich guter Schüler sei und die wahre Intelligenz sich eher im Fach Mathematik erweise, solle ich die Prüfung in diesem Fach absolvieren, danach werde man weitersehen. Als versierter Rechner der Grundschulklasse bestand ich diese Prüfung recht gut und man entschied, ich sei in das Gymnasium aufgenommen. Das dicke Ende kam dann in den Jahren danach, ich hatte offenbar, durch die geringen Anforderungen in einer kleinstädtischen Grundschule nie bemerkt, eine echte Lese-Rechtschreibschwäche, denn in den ersten Gymnasialklassen bezog ich in allen Diktaten eine 5 oder auch einmal eine 6, es war erniedrigend und scheinbar hoffnungslos. Da ich in Mathematik immer gute Noten nach Hause brachte, waren Lehrer und Eltern völlig ratlos, es wurde schließlich beschlossen, ich solle Nachhilfeunterricht nehmen bei meinem Onkel, der Lehrer war an der heimatlichen Grundschule. Eine dieser Nachhilfestunden ist mir unauslöschlich in Erinnerung geblieben, denn es passierte Folgendes: Damals schrieb man noch mit Federhalter und Tinte, die sich in einem Tintenfass befand. War dieses leer, wurde es aus einer Vorratsflasche nachgefüllt. Ich hatte das schon mehrfach zu Hause getan und die Erfahrung gemacht, dass manchmal, lange bevor das Tintenfass voll war, sich aus unerklärlichen Gründen auf der Einfüllöffnung eine feine, dünne Tintenblase entwickelte, die man durch leichtes Pusten zerstören und den Füllvorgang fortsetzen konnte. Als nun bei meinem Onkel die Tinte alle war, füllte er das Tintenfass auf, leider bis ganz nach oben hin. Ich nahm an, dies sei die mir geläufige Tintenblase, und machte mich daran, diese zu entfernen, wie ich das gewohnt war, ich pustete einfach ins Tintenfass hinein. Das Ergebnis war eine mittlere Katastrophe, denn es spritzte nun die Tinte aus dem Fass heraus und besudelte alle umliegenden Gegenstände und die blitzsaubere Tischdecke von Tante Änne, der Frau meines Onkels. Er wurde fuchsteufelswild (er kannte ja nicht meine Gedankengänge, die zu dem verhängnisvollen Blasen geführt hatten) und ich war, natürlich wieder der Klaus, einmal mehr völlig am Boden zerstört. Ob es nun diese Nachhilfestunden waren oder die Nachreifung meines Gehirns oder andere Umstände, weiß ich nicht, irgendwann lernte ich dann doch, im Diktat wenigstens ein ausreichend oder genügend zu erreichen.
Das Gymnasium in Erfurt besuchten wir anfangs als „Fahrschüler“, morgens mit dem Zug rein, nachmittags wieder mit dem Zug nach Hause. Außerhalb der Schulzeit war unser liebstes Hobby Feuerwerksunfug aller Art. Einer unserer besten Tricks verlief so: Man nehme die Patrone einer Pistole, entferne mit der Flachzange oben die Kugel und kneife die dadurch entstandene Öffnung zu. Dann nehme man die Patronenhülse eines 2 cm Flakgeschützes, gebe etwas Schwarzpulver hinein und danach das präparierte Pistolengeschoss. Nun platziere man da hinein eine Zündschnur und brenne sie an. Wenn sie runter gebrannt war, entzündete sie das Schwarzpulver, dessen Hitze die Pistolenkugel zur Explosion brachte. Wegen der Wandstärke der 2-cm-Hülse, und da sie ja oben offen war, pflegte diese nicht zu zerplatzen, der Vorgang war also ungefährlich. Einmal nahmen wir dieses Equipment mit nach Erfurt und zündeten es auf dem Weg zur Schule. Zum gleichen Zeitpunkt schlichen zahlreiche Gestalten in Deckung suchender, gebückter Haltung in dieser Gegend herum, wir wussten, es war offenbar eine Übung. Ohne uns darum zu scheren, zündeten wir unseren mitgebrachten Knaller – mit erstaunlicher Wirkung. Die Übungsteilnehmer glaubten offenbar, die Explosion sei Teil der Übung und schmissen sich alle in Deckung, was bei uns natürlich Zufriedenheit und Heiterkeit auslöste. In Erfurt erlebten wir auch einige Fliegeralarme mit, die sich aber immer als harmlos und ungefährlich erwiesen. Gegen Ende des Krieges wurde der Zugverkehr so stark eingeschränkt, dass meine Eltern uns in Erfurt während der Woche bei einer älteren Dame in deren Villa in Pension gaben. Wir Kinder nahmen das alles sehr gelassen hin, lustig war unsere Verköstigung. Es gab ja Lebensmittelmarken, und ein angemessener Teil von ihnen musste der Dame zur Verfügung gestellt werden. Ihr wichtigstes Problem war die gerechte Verteilung des Fleischanteiles am Mittagessen. Sie löste es wahrhaft genial. Sie kaufte für alle Fleischmarken Hackfleisch und produzierte daraus Bouletten. Zum Mittag gab es also immer etwas Gemüse, Kartoffeln und – genau abgemessen – je nach Größe zwei oder drei Scheiben einer Boulette, langweilig, aber einfach und gerecht dosierbar. Im April 1945 wurde mein Heimatstädtchen dann von den Amerikanern besetzt, trotzdem ging unser Kinderleben ohne besondere Ereignisse einfach so weiter, hungern mussten wir zu Hause nie, da mein Vater als Landarzt täglich in den umliegenden Dörfern Besuche machte und Küche, Kammern und Truhen immer gut gefüllt waren. Mit zwei Situationen hatten mein Bruder und ich ein Problem. Das eine war der Umstand, dass wir in gewissen Abständen in das Haus meines Großvaters beordert wurden, um Öl zu mahlen. Der Opa war Mitarbeiter des ortsansässigen Großbetriebes und hat dort wie alle Arbeiter nicht nur für die Fabrik, sondern auch für den Eigenbedarf gearbeitet – wie das alles damals trotz Wärterhäuschen und Taschenkontrollen herausgeschmuggelt werden konnte, bleibt ein Rätsel. Großvater hatte sich (natürlich alles aus Firmenmaterial) eine Ölmühle gebaut und diese im Keller seines Hauses aufgebaut. Leider hatte sie keinen Motor, man musste mit einer langen Handkurbel (Gesetz des Hebelarmes!) drehen, nachdem man den Vorratsbehälter mit Mohnkörnern gefüllt hatte. Die Mühle arbeitete so, dass durch großen Druck die Mohnkörner zerquetscht wurden und dadurch das Öl freigesetzt wurde. Diese Arbeit an der Mühle war langweilig, stumpfsinnig und sehr anstrengend, also nichts für lebhafte Knaben. Die andere Situation war die Folgende: Wir hatten zu Hause in der Bodenkammer eine Holztruhe mit Mohn und eine weitere mit Weizenkörnern. Irgendwann beschlossen die Behörden gegen die sogenannten Hamsterer vorzugehen und es drohten Hausdurchsuchungen. Mein Vater wollte auf Nummer sicher gehen und gebot uns Kindern, wir sollten Ähren lesen gehen (einsammeln von Ähren auf gemähten Stoppelfeldern), ein mühseliges Geschäft. Für solche Sammelaktionen musste man von der Stadt einen Berechtigungsschein zum Ährenlesen holen und diesen wollte mein Vater vorweisen, falls eine Hauskontrolle durchgeführt werden sollte.
Wir beiden Jungen mussten uns also missgelaunt mit einem Leinensäckchen auf irgendeinen Acker begeben und Ähren lesen, obwohl wir etwa 1–2 Zentner Weizen in der Bodenkammer wussten, das muss man pubertierenden Knaben in unserem Alter erst einmal klarmachen. Es gab zu dieser Zeit im Ort eine große Wassermühle und eine kleine, privat betriebene Elektromühle, deren Besitzer ein Patient meines Vaters war. Er mahlte tagsüber normales Mehl nach staatlicher Vorschrift (mit einem hohen Ausmahlungsgrad = hohe Ausbeute), am Abend aber für gute Freunde und Bekannte aus dem ihm übergebenen Weizen dann weißes Mehl, (schwarz gemahlen), Feinmehl mit niedrigerem Ausmahlungsgrad zur Herstellung von Kuchen, Torten und edlerem Gebäck. Wenn zu Hause wieder Nachschub an solchem Mehl gebraucht wurde, begab sich meine Mutter mit meinem älteren Bruder in diese Mühle und belieferte sie mit Weizen aus unserem Vorrat, am nächsten Abend konnten wir dann unser Feinmehl dort abholen.Wie viele andere Produkte auch gab es damals kein Kuchenmehl, durch die Pfiffigkeit und den Einfallsreichtum der Unternehmer und Handwerker aber eben doch, wie ja überhaupt die Wirtschaft nach dem Krieg an Staat und SMA-Befehlen vorbei wieder angekurbelt wurde. Eine Schlüsselrolle spielten dabei die damals sogenannten „Großschieber“, die für die Wiederaufnahme der Produktion eine zwar fragwürdige, aber zentrale Rolle spielten. Klassisches diesbezügliches Beispiel: Wir hatten vor dem Krieg einen Chauffeur, den Hans Tuphorn. Dieser stieg nach 1945 in besagtes Geschäft ein und von ihm erfuhren wir sehr detailliert, wie das seinerzeit alles ablief. Er hatte sich irgendwie einen alten Lastwagen besorgt und tätigte damit Geschäfte im ganz großen Stil. Es gab nahe bei meinem Heimatstädtchen einen Ort mit einer sehr großen, leistungsfähigen Zuckerfabrik. Diese konnte aber nur in sehr begrenztem Umfang produzieren, da es an einem ganz speziellen, für die Zuckerproduktion unverzichtbaren Filterstoff mangelte. H. T. begab sich nach entsprechenden Vorverhandlungen in der Fabrik nach Chemnitz, der Zentrale der Stoffproduktion in der Ostzone. Er handelte mit einer der Webereien folgenden Deal aus: Ihr produziert für mich 20 Ballen Filterstoff und bekommt dafür 6 Doppelzentner Zucker. Der Chef dort ging auf den Handel ein und H. T. erklärte dem Leiter der Zuckerfabrik, er könne ihm 20 Ballen Filterstoff besorgen für den Preis von 7 Doppelzentnern Zucker, auch dieses Geschäft wurde bestätigt. Er lud also 7 Sack Zucker auf und fuhr damit nach Chemnitz, wo er 6 Säcke Zucker anlieferte (Sack 7 war sein Gewinn). Dort belud er seinen LKW mit dem Filterstoff und beförderte diesen in die Zuckerfabrik – hört sich einfach an, war aber sehr kompliziert und sehr gefährlich. Da den Behörden der Großschmuggel bekannt war, gab es auf den Straßen immer wieder Kontrollen der Ladung, des Lieferscheines etc., allein schon solche Fahrten bargen also ein erhebliches Risiko.
Unter dem nächsten Stapel dann fand ich schließlich tatsächlich die so wichtige, vermisste Pistole. Ich zog sie hervor und rannte damit aufgeregt und strahlend die Treppe hinunter ins Wohnzimmer, wo ich die Waffe stolz präsentierte und tatsächlich ob dieses Fundes sehr viel Lob und Anerkennung erntete. Wenn nach diesem Ereignis im Hause etwas verschwunden schien und nicht auf Anhieb gefunden werden konnte, hieß es dann: „Kläuslein, such du doch mal, du findest doch immer alles.“ Das Lustige war, dass sie damit viel mehr recht hatten, als sie ahnten. Ich hatte damals vor dem Herrenschrank die obersten, hintersten Partien des Kleiderschrankes abgesucht und dabei die bereits besorgten Weihnachtsgeschenke entdeckt, es waren sogenannte Bleischiffe „Wikingermodelle“, die mein Bruder und ich uns jedes Jahr aufs Neue wünschten, um unsere bereits vorhandene Flotte zu erweitern. Wir waren ja Kinder eines zu dieser Zeit an allen Fronten siegreichen Volkes, vollgedröhnt mit der aufgedonnerten Musik glorreicher Sondermeldungen und völlig ohne tiefere Erkenntnis dessen, was in den von Deutschland eroberten und besetzten Ländern vor sich ging, meine Eltern waren zwar nicht in der NSDAP, aber auch nicht gerade Antifaschisten. Ich erzählte dies meinem Bruder und grotesk, wenn die Eltern nicht zu Hause waren, kramten wir die Schiffe hervor und überlegten, wer wohl den Zerstörer, das U-Boot oder den leichten Kreuzer „Königsberg“ bekäme. Für den Fall, dass die Schiffe dem aus unserer Sicht Falschen zugeteiltwürden, berieten wir schon einmal vorsorglich, wie wir denn Weihnachten dann so tauschen könnten, dass beide zufrieden sein würden.
Für mich war das Erlebnis mit der Pistole viel mehr als nur die Entdeckung des für meinen Vater so sehr wichtigen Utensils, es war eine wunderbare Befreiung aus einem Albtraum, denn ich galt bis zu diesem Zeitpunkt als „Huck, der Unglücksrabe“ der Familie.
Im Alter von etwa 3 Monaten erkrankte ich an einer sehr schweren Säuglingsdiarrhoe mit so starkem Wasserverlust, dass man mich schon aufgegeben hatte. Im Alter von vier Jahren entwickelte sich bei mir ein Darmverschluss (sog. Invagination) so dramatisch und auch lebensgefährlich, dass ich sofort in die chirurgische Klinik in Erfurt gebracht und durch die angemessene Operation gerettet wurde. Mein Vater hatte sofort die richtige Diagnose gestellt und dadurch wurde sehr früh operiert und der Darm war noch nicht so stark geschädigt, dass man, wie nicht selten in solchen Fällen, kein Stück des Darmes entfernen musste, Vater sei Dank und Dank. Es gibt von mir ein Ölgemälde, das mich als Vierjährigen darstellt. Als junger Mann fragte ich meine Eltern, wieso sie denn mich hätten in Öl malen lassen. Ihre Antwort: Nach dem, was sie alles mit mir durchgemacht hatten, seien sie der Überzeugung gewesen, sehr alt würde ich wohl nicht werden, und wenn ich denn schon relativ früh ins Jenseits abberufen werden würde, wollten sie wenigstens ein buntes, lebensfrohes Bild von mir haben wollen. „Totgesagte leben länger“ heißt es im Volksmund. Die Herstellung dieses Bildes war übrigens eine komplizierte Aktion. Erst einmal musste man eruieren, wo es einen „Kunstmaler“ gäbe, der so ein Porträt per Auftrag anfertigte. Nachdem man ihn ausfindig gemacht hatte, wurde verabredet, dass er uns besuchen kommen und ich in der Kleidung ihm gegenübersitzen würde, die dann auf dem Bild zu sehen wäre – dazu bat er sich ein Schwarz-Weiß-Foto von mir aus. So gerüstet malte er dann den Knaben „in Öl“, versah das Bild mit einem Rahmen und schickte es mit der angemessenen Rechnung den Eltern zu. Da hing ich nun, in bunten Farben trefflich verewigt, zu Hause im Wohnzimmer an der Wand, ich, der Unglücksrabe. Der blieb ich leider auch weiterhin, denn anlässlich einer sonntäglichen Kurzwanderung in ein nahe gelegenes Wäldchen blieb die ganze Familie plötzlich wie angewurzelt stehen und staunte: Aus der Öffnung eines Kaninchenbaues lugte ohne Scheu vor uns ein niedliches Frettchen hervor. Dabei stürzte ich aus dem Stand, nun wirklich ohne erkennbare Ursache, so unglücklich, dass ich mir einen ziemlich komplizierten Bruch des linken Armes zuzog, was meine ungeduldigen Eltern natürlich erst einmal mit großem Unmut registrierten. Der Bruch war auch noch so atypisch, dass sie mit mir zu dem damals einzigen Orthopäden (das immerhin taten sie denn doch) ins 40 km entfernte Arnstadt fuhren zum arrivierten Professor Frosch, der denn dann auch die angemessene Behandlung übernahm. Der nächste Schicksalsschlag traf mich, als ich 14 Jahre alt war. Ich besuchte zu dieser Zeit eine Internatsschule (Schulpforta bei Naumburg) und eines Abends in der Dämmerung ging ich mit einigen Mitschülern in ein nahe gelegenes Ausflugslokal. Wir liefen alle am Rande einer Chaussee entlang, und da ich besonders gute Laune hatte, lief ich einige Schritte rückwärts und gestikulierte dabei fröhlich mit den Armen. Als wir uns am Ende einer scharfen Kurve befanden, kam ein besoffener Russe, der offenbar erst kurz zuvor ein Fahrrad geklaut hatte (damals eine ganz gewohnte Situation der Besatzungstruppen), einen recht steilen Berg herabgeschossen, erwischte aber die Kurve nicht richtig und knallte voll in mich oder an mich, sodass ich wie vom Blitz getroffen auf die Straße schlug und tief bewusstlos liegen blieb. Danach haben offenbar die Mitschüler in der Schule Alarm gegeben, denn als ich am nächsten Morgen wieder zu Bewusstsein kam, lag ich in Naumburg im Krankenhaus. Die Reaktion meiner Eltern kann ich mir lebhaft vorstellen, einerseits natürlich die Sorge um das Leben und um mögliche Folgedefekte nach diesem schweren Trauma (Diagnose: Hirnprellung), andererseits aber auch: wieder der Klaus.
Nach meinem Medizinstudium kam mir dann der folgende Gedanke: mit 4 Monaten fast tot, mit 14 Jahren Gehirnprellung, alles konnte sehr wohl einen Einfluss auf meine mentale Entwicklung gehabt haben. Was wäre womöglich aus mir geworden ohne diese schädigungsträchtigen Ereignisse?
Obwohl ich eher ein Spätentwickler war, geschah dann etwas, was wahrscheinlich mein Leben in ganz besonderer Weise beeinflusst hat. Mein älterer Bruder wurde im Jahr 1937 eingeschult, er war im April geboren, und da zu dieser Zeit die Einschulung im April erfolgte, war bei ihm der Schulbeginn zeitgerecht. Danach fühlte ich mich zu Hause (trotz einer Schwester, die aber 2 Jahre jünger war als ich) total verlassen und alleine. Da ich im September geboren war, drohte mir der Schulbeginn erst 1939, also zwei Jahre nach meinem Bruder. Ich lag deshalb meinen Eltern dauernd in den Ohren mit dem Wunsch, ich wolle schon ein Jahr früher, als meinem Alter entsprach, eingeschult werden, um der häuslichen Langeweile zu entfliehen. Irgendjemand muss mir dann doch die geistige Schulreife attestiert haben, denn ich kam wie gewünscht 1938 in die 1. Klasse. Heute habe ich zu diesem Ereignis ein sehr gespaltenes Verhältnis. Einerseits halte ich meine Einschulung mit 5 ½ Jahren für zu früh, andererseits hätte ich bei vorgeschriebenem Schulbeginn wohl auch keine bessere Reife vorweisen können, denn Vorschule oder andere anregende Institutionen gab es damals nicht, ich hätte einfach nur zu Hause rumgedödelt. Andererseits hatte ich durch diese vorzeitige Einschulung das völlig unverdiente Glück, als Gymnasiast und auch zur Studienzeit wunderbare Mitschüler bzw. Kommilitonen um mich zu haben, die Klassen und Semesterjahrgänge danach waren beide auch nicht annähernd von gleicher Qualität. In der Grundschule war der „Sohn vom Doktor“ immer mit unter den Besten, es gab keine Probleme. Leider war ich im Fach Rechnen sogar der Beste, was sich eines Tages als katastrophal erwies. Unser Lehrer hatte sich Folgendes ausgedacht. Er kam, es war die dritte oder vierte Stunde, in die Klasse und verkündete uns, er werde uns jetzt eine besonders schwere Rechenaufgabe stellen. Wer diese zuerst und richtig gelöst habe, werde zur Belohnung vom Rest des Unterrichtstages befreit. Ich löste diese Aufgabe als Erster und konnte gehen. Was als Belohnung gedacht war, entwickelte sich zum blanken Horror. Erst einmal war meine Mutter sehr erstaunt, als ich plötzlich zu Hause auftauchte, und fragte mich, wie das denn käme, ob ich etwas ausgefressen hätte. Ich beruhigte sie mit der Schilderung der Rechenstunde. Danach irrte ich traurig und verwirrt durch einige Straßen und Spielplätze unserer Kleinstadt und fühlte mich völlig einsam und verlassen, fast wie ausgegrenzt, die Situation hat sich tief in mein Gedächtnis eingegraben. Der Mann war eben Lehrer, aber kein Pädagoge.
Als ich die 4. Klasse abgeschlossen hatte, war es natürlich klar, dass ich nun das humanistische Gymnasium besuchen sollte – in der nahe gelegenen Stadt Erfurt. Normalerweise hätte dieses Vorhaben scheitern müssen, aber durch einen schier unglaublichen Zufall schaffte ich tatsächlich die Aufnahmeprüfung, und das kam so: Am Tag dieser Prüfung waren meine Eltern verreist und beauftragten unser absolut zuverlässiges Kindermädchen, es solle mit mir mit dem Zug X nach Erfurt fahren. Just an diesem Schicksalstag verschlief aber dieses Mädchen und so konnten wir erst einen Zug später fahren. Als wir in die Schule kamen, hatten die Prüflinge gerade das Diktat absolviert. Rektor und Lehrer überlegten nun, was denn mit mir zu geschehen sei. Sie kamen zu folgendem Schluss: Da der Bruder dieses Knaben ein leidlich guter Schüler sei und die wahre Intelligenz sich eher im Fach Mathematik erweise, solle ich die Prüfung in diesem Fach absolvieren, danach werde man weitersehen. Als versierter Rechner der Grundschulklasse bestand ich diese Prüfung recht gut und man entschied, ich sei in das Gymnasium aufgenommen. Das dicke Ende kam dann in den Jahren danach, ich hatte offenbar, durch die geringen Anforderungen in einer kleinstädtischen Grundschule nie bemerkt, eine echte Lese-Rechtschreibschwäche, denn in den ersten Gymnasialklassen bezog ich in allen Diktaten eine 5 oder auch einmal eine 6, es war erniedrigend und scheinbar hoffnungslos. Da ich in Mathematik immer gute Noten nach Hause brachte, waren Lehrer und Eltern völlig ratlos, es wurde schließlich beschlossen, ich solle Nachhilfeunterricht nehmen bei meinem Onkel, der Lehrer war an der heimatlichen Grundschule. Eine dieser Nachhilfestunden ist mir unauslöschlich in Erinnerung geblieben, denn es passierte Folgendes: Damals schrieb man noch mit Federhalter und Tinte, die sich in einem Tintenfass befand. War dieses leer, wurde es aus einer Vorratsflasche nachgefüllt. Ich hatte das schon mehrfach zu Hause getan und die Erfahrung gemacht, dass manchmal, lange bevor das Tintenfass voll war, sich aus unerklärlichen Gründen auf der Einfüllöffnung eine feine, dünne Tintenblase entwickelte, die man durch leichtes Pusten zerstören und den Füllvorgang fortsetzen konnte. Als nun bei meinem Onkel die Tinte alle war, füllte er das Tintenfass auf, leider bis ganz nach oben hin. Ich nahm an, dies sei die mir geläufige Tintenblase, und machte mich daran, diese zu entfernen, wie ich das gewohnt war, ich pustete einfach ins Tintenfass hinein. Das Ergebnis war eine mittlere Katastrophe, denn es spritzte nun die Tinte aus dem Fass heraus und besudelte alle umliegenden Gegenstände und die blitzsaubere Tischdecke von Tante Änne, der Frau meines Onkels. Er wurde fuchsteufelswild (er kannte ja nicht meine Gedankengänge, die zu dem verhängnisvollen Blasen geführt hatten) und ich war, natürlich wieder der Klaus, einmal mehr völlig am Boden zerstört. Ob es nun diese Nachhilfestunden waren oder die Nachreifung meines Gehirns oder andere Umstände, weiß ich nicht, irgendwann lernte ich dann doch, im Diktat wenigstens ein ausreichend oder genügend zu erreichen.
Das Gymnasium in Erfurt besuchten wir anfangs als „Fahrschüler“, morgens mit dem Zug rein, nachmittags wieder mit dem Zug nach Hause. Außerhalb der Schulzeit war unser liebstes Hobby Feuerwerksunfug aller Art. Einer unserer besten Tricks verlief so: Man nehme die Patrone einer Pistole, entferne mit der Flachzange oben die Kugel und kneife die dadurch entstandene Öffnung zu. Dann nehme man die Patronenhülse eines 2 cm Flakgeschützes, gebe etwas Schwarzpulver hinein und danach das präparierte Pistolengeschoss. Nun platziere man da hinein eine Zündschnur und brenne sie an. Wenn sie runter gebrannt war, entzündete sie das Schwarzpulver, dessen Hitze die Pistolenkugel zur Explosion brachte. Wegen der Wandstärke der 2-cm-Hülse, und da sie ja oben offen war, pflegte diese nicht zu zerplatzen, der Vorgang war also ungefährlich. Einmal nahmen wir dieses Equipment mit nach Erfurt und zündeten es auf dem Weg zur Schule. Zum gleichen Zeitpunkt schlichen zahlreiche Gestalten in Deckung suchender, gebückter Haltung in dieser Gegend herum, wir wussten, es war offenbar eine Übung. Ohne uns darum zu scheren, zündeten wir unseren mitgebrachten Knaller – mit erstaunlicher Wirkung. Die Übungsteilnehmer glaubten offenbar, die Explosion sei Teil der Übung und schmissen sich alle in Deckung, was bei uns natürlich Zufriedenheit und Heiterkeit auslöste. In Erfurt erlebten wir auch einige Fliegeralarme mit, die sich aber immer als harmlos und ungefährlich erwiesen. Gegen Ende des Krieges wurde der Zugverkehr so stark eingeschränkt, dass meine Eltern uns in Erfurt während der Woche bei einer älteren Dame in deren Villa in Pension gaben. Wir Kinder nahmen das alles sehr gelassen hin, lustig war unsere Verköstigung. Es gab ja Lebensmittelmarken, und ein angemessener Teil von ihnen musste der Dame zur Verfügung gestellt werden. Ihr wichtigstes Problem war die gerechte Verteilung des Fleischanteiles am Mittagessen. Sie löste es wahrhaft genial. Sie kaufte für alle Fleischmarken Hackfleisch und produzierte daraus Bouletten. Zum Mittag gab es also immer etwas Gemüse, Kartoffeln und – genau abgemessen – je nach Größe zwei oder drei Scheiben einer Boulette, langweilig, aber einfach und gerecht dosierbar. Im April 1945 wurde mein Heimatstädtchen dann von den Amerikanern besetzt, trotzdem ging unser Kinderleben ohne besondere Ereignisse einfach so weiter, hungern mussten wir zu Hause nie, da mein Vater als Landarzt täglich in den umliegenden Dörfern Besuche machte und Küche, Kammern und Truhen immer gut gefüllt waren. Mit zwei Situationen hatten mein Bruder und ich ein Problem. Das eine war der Umstand, dass wir in gewissen Abständen in das Haus meines Großvaters beordert wurden, um Öl zu mahlen. Der Opa war Mitarbeiter des ortsansässigen Großbetriebes und hat dort wie alle Arbeiter nicht nur für die Fabrik, sondern auch für den Eigenbedarf gearbeitet – wie das alles damals trotz Wärterhäuschen und Taschenkontrollen herausgeschmuggelt werden konnte, bleibt ein Rätsel. Großvater hatte sich (natürlich alles aus Firmenmaterial) eine Ölmühle gebaut und diese im Keller seines Hauses aufgebaut. Leider hatte sie keinen Motor, man musste mit einer langen Handkurbel (Gesetz des Hebelarmes!) drehen, nachdem man den Vorratsbehälter mit Mohnkörnern gefüllt hatte. Die Mühle arbeitete so, dass durch großen Druck die Mohnkörner zerquetscht wurden und dadurch das Öl freigesetzt wurde. Diese Arbeit an der Mühle war langweilig, stumpfsinnig und sehr anstrengend, also nichts für lebhafte Knaben. Die andere Situation war die Folgende: Wir hatten zu Hause in der Bodenkammer eine Holztruhe mit Mohn und eine weitere mit Weizenkörnern. Irgendwann beschlossen die Behörden gegen die sogenannten Hamsterer vorzugehen und es drohten Hausdurchsuchungen. Mein Vater wollte auf Nummer sicher gehen und gebot uns Kindern, wir sollten Ähren lesen gehen (einsammeln von Ähren auf gemähten Stoppelfeldern), ein mühseliges Geschäft. Für solche Sammelaktionen musste man von der Stadt einen Berechtigungsschein zum Ährenlesen holen und diesen wollte mein Vater vorweisen, falls eine Hauskontrolle durchgeführt werden sollte.
Wir beiden Jungen mussten uns also missgelaunt mit einem Leinensäckchen auf irgendeinen Acker begeben und Ähren lesen, obwohl wir etwa 1–2 Zentner Weizen in der Bodenkammer wussten, das muss man pubertierenden Knaben in unserem Alter erst einmal klarmachen. Es gab zu dieser Zeit im Ort eine große Wassermühle und eine kleine, privat betriebene Elektromühle, deren Besitzer ein Patient meines Vaters war. Er mahlte tagsüber normales Mehl nach staatlicher Vorschrift (mit einem hohen Ausmahlungsgrad = hohe Ausbeute), am Abend aber für gute Freunde und Bekannte aus dem ihm übergebenen Weizen dann weißes Mehl, (schwarz gemahlen), Feinmehl mit niedrigerem Ausmahlungsgrad zur Herstellung von Kuchen, Torten und edlerem Gebäck. Wenn zu Hause wieder Nachschub an solchem Mehl gebraucht wurde, begab sich meine Mutter mit meinem älteren Bruder in diese Mühle und belieferte sie mit Weizen aus unserem Vorrat, am nächsten Abend konnten wir dann unser Feinmehl dort abholen.Wie viele andere Produkte auch gab es damals kein Kuchenmehl, durch die Pfiffigkeit und den Einfallsreichtum der Unternehmer und Handwerker aber eben doch, wie ja überhaupt die Wirtschaft nach dem Krieg an Staat und SMA-Befehlen vorbei wieder angekurbelt wurde. Eine Schlüsselrolle spielten dabei die damals sogenannten „Großschieber“, die für die Wiederaufnahme der Produktion eine zwar fragwürdige, aber zentrale Rolle spielten. Klassisches diesbezügliches Beispiel: Wir hatten vor dem Krieg einen Chauffeur, den Hans Tuphorn. Dieser stieg nach 1945 in besagtes Geschäft ein und von ihm erfuhren wir sehr detailliert, wie das seinerzeit alles ablief. Er hatte sich irgendwie einen alten Lastwagen besorgt und tätigte damit Geschäfte im ganz großen Stil. Es gab nahe bei meinem Heimatstädtchen einen Ort mit einer sehr großen, leistungsfähigen Zuckerfabrik. Diese konnte aber nur in sehr begrenztem Umfang produzieren, da es an einem ganz speziellen, für die Zuckerproduktion unverzichtbaren Filterstoff mangelte. H. T. begab sich nach entsprechenden Vorverhandlungen in der Fabrik nach Chemnitz, der Zentrale der Stoffproduktion in der Ostzone. Er handelte mit einer der Webereien folgenden Deal aus: Ihr produziert für mich 20 Ballen Filterstoff und bekommt dafür 6 Doppelzentner Zucker. Der Chef dort ging auf den Handel ein und H. T. erklärte dem Leiter der Zuckerfabrik, er könne ihm 20 Ballen Filterstoff besorgen für den Preis von 7 Doppelzentnern Zucker, auch dieses Geschäft wurde bestätigt. Er lud also 7 Sack Zucker auf und fuhr damit nach Chemnitz, wo er 6 Säcke Zucker anlieferte (Sack 7 war sein Gewinn). Dort belud er seinen LKW mit dem Filterstoff und beförderte diesen in die Zuckerfabrik – hört sich einfach an, war aber sehr kompliziert und sehr gefährlich. Da den Behörden der Großschmuggel bekannt war, gab es auf den Straßen immer wieder Kontrollen der Ladung, des Lieferscheines etc., allein schon solche Fahrten bargen also ein erhebliches Risiko.