Trip - Eine Reise nach Amerika

Trip - Eine Reise nach Amerika

Band 2 - Das Flugzeug hebt ab

Frodo B. Marks


EUR 21,90
EUR 17,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 384
ISBN: 978-3-99131-835-4
Erscheinungsdatum: 22.02.2023
Von einem Abenteuer ins nächste. Immer dabei: ein Joint und sein guter Freund Harry. Vor ihnen ein Meer aus unendlichen Möglichkeiten. In Amerika erleben sie dessen „grenzenlose Freiheit“ und wollen der Wahrheit über das Erwachsensein ein wenig näherkommen.
Die junge Frau hatte das Tor verschlossen und erklärte ihnen, wie sie sich im Falle eines Absturzes zu verhalten hätten. Sie strahlte eine solche Kraft und Sicherheit aus, wie sie wohl nur Frauen aus dem Norden haben können. Langsam setzte sich das Flugzeug in Bewegung und fuhr zum Ende der nicht sehr langen Landebahn. Die Motoren liefen nun auf Hochtouren, als der Pilot die Bremsen löste. Mit einem Satz stürzte sich die Maschine in die Nacht, wie ein großes Tier, das man endlich von der Leine gelassen hatte. Wie ein alter Drache erhob sie sich jetzt in den schwarzen Nachthimmel, und unter sich sah er nur noch ein paar Lichter, die rasch verschwanden. Die Reise hatte begonnen.
Nach kurzer Zeit hatten sie bereits den Atlantik erreicht, doch konnte er nur eine schwarze Fläche ausmachen, die sich in nichts von dem schwarzen Nachthimmel unterschied. Die Stewardess servierte eine Kleinigkeit zum Essen, und er trank ein kleines Bier, um seine Nerven etwas zu beruhigen. Auf der anderen Seite des Mittelganges saßen zwei junge Frauen, die sich angeregt auf Englisch unterhielten. Es waren wohl Amerikanerinnen und das Lachen, das ab und zu aufblitzte, klang irgendwie anders. Er musste sofort an Daisy Duck denken, oder doch eher Mini Maus? So ganz war er sich nicht sicher, aber vielleicht waren es ja auch beide zusammen, die sich getraut hatten, ohne ihre hoffnungslos verliebten Verehrer nach Paris zu reisen, um endlich den Mann ihrer Sehnsüchte kennenzulernen. Ab und zu guckten sie zu ihm herüber, doch war er ihnen wohl viel zu jung.
Er war bereits etwas eingedöst, als die blonde Wikingerfrau, die als Stewardess verkleidet war, das Mikrofon in die Hand nahm und sie bat sich anzuschnallen. Ein Sturm war aufgezogen, und es könnte wohl etwas turbulent werden. Sie begann alles Geschirr und die Gläser abzuräumen, und sie mussten die kleinen Tische vor ihnen hochklappen. Kurze Zeit später traf bereits die erste Böe das Flugzeug, das auf einmal etwas widerwillig absackte. Jetzt war auf einmal klar, dass sie nicht im Kino saßen, sondern hoch in den Wolken, über einem unfreundlichen, eiskalten Meer.
Die zwei jungen Frauen waren etwas verstummt und sahen auch schon etwas blasser aus. Bestimmt dachten sie bereits, dass es wohl doch besser gewesen wäre, direkt von Paris mit TWA geflogen zu sein. Oder war es vielleicht zu Hause bei Micky und Donald doch nicht so schlecht?
Die Wikingerfrau verteilte unverdrossen Kotztüten, nicht ohne dabei charmant zu lächeln. „Nur für den Notfall“, sagte sie, denn es würde wohl nicht so schlimm werden. Doch es wurde schlimm, und das Flugzeug rüttelte und schüttelte sich gewaltig. Jetzt meldete sich der Pilot zu Wort, er würde wohl einen Umweg fliegen müssen, was zu einigen Verzögerungen führen würde. Unweigerlich begann er an den Untergang der Titanic zu denken, die wohl irgendwo da unten im erbarmungslosen Atlantik versunken war.
Er rauchte eine Zigarette nach der anderen und bemühte sich, etwas zu schlafen. Trotzdem fühlte er sich irgendwie glücklich, denn eines hatte er gelernt: Er fühlte sich in der Nähe des Todes immer etwas freier als sonst. Es konnte sozusagen nichts mehr passieren. „Etwas Besseres als den Tod finden wir allemal“, sagten die Bremer Stadtmusikanten, und machten aus sich einfach eine Pyramide. Der Pilot hatte es geschafft, aus den Turbulenzen zu kommen, und sie landeten wenig später in Reykjavík, auf der wilden Insel.
Der Regen peitschte über das Rollfeld, als sie die Maschine verließen und sich in die Wartehalle des kleinen Flughafens flüchteten. Jetzt fehlte nur noch, dass ein Vulkan ausbrechen würde, dachte er sich und sah hinaus in die schwarze sturmgepeitschte Nacht. Vielleicht war es ja auch gar kein Regen, sondern die Gischt meterhoher Wellen, die sich an der kleinen Insel brachen. Jedenfalls würde es noch eine Zeitlang dauern, bis es weitergehen konnte.
Er versuchte, seinen Freund anzurufen, der, nachdem sich eine müde Frauenstimme gemeldet hatte, schlaftrunken an das Telefon kam. Er sagte ihm, dass es wohl eine längere Verspätung geben würde. Sein Freund schien nicht unglücklich darüber zu sein und versprach, ihn rechtzeitig in New York am Flughafen abzuholen.
Sie dösten in den wenigen Sitzen, die in der kleinen Halle aufgestellt waren, als endlich die Stewardess hereinkam und sie aufforderte wieder einzusteigen. Die Wolken hatten sich etwas gelichtet, und im fahlen Licht des herannahenden Morgens konnte er einige hohe Berge ausmachen, auf denen noch einiges an Schnee lag. Da sie der Sonne entgegenflogen, wurde es schnell heller, und sie ließen die graue Wolkenwand bald hinter sich.
Er flog einem strahlenden Tag entgegen. Zum ersten Mal konnte er das weite Meer tief unter sich sehen. Es hatte eine dunkelgrüne Farbe, die nur von einigen wenigen weißen Fäden durchzogen schien. Als sie sich endlich einer undefinierbaren Landmasse näherten, waren sie bereits sechszehn Stunden unterwegs. Das Flugzeug drehte eine Schleife über einem seltsam starr wirkenden Meer aus quadratischen Steinwürfeln und setzte zur Landung an. Jetzt flog die Stadt unter ihnen vorbei, und er konnte bereits Straßen und Autos ausmachen. Dann ein kurzer Ruck und ein leichtes Quietschen, und die Maschine kam zum Stillstand. Wie immer klatschten die Anwesenden glücklich in die Hände, denn sie hatten ihr Ziel erreicht und waren noch am Leben. Diesmal mussten sie nicht über das Rollfeld laufen, sondern konnten über eine Gangway das Flughafengebäude betreten. Erstaunt stellte er fest, dass es auch in dem großen Land der unbegrenzten Freiheit einen festen Boden unter den Füßen gab. Er holte sein Gepäck und begab sich zur Pass- und Zollkontrolle. Der Beamte sah ihn nur etwas erstaunt an und als er das Visum für ein ganzes Jahr sah, begann er zu lächeln. Zum Glück hatte er vergessen, dass er etwas Böses dabeihatte.
Als er durch den schmalen Gang, der in eine andere etwas größere Halle, trat, sah er bereits Harry dastehen, der ihn wie immer schelmisch angrinste. „Na, wie war es?“, fragte er nur trocken. „Dann lass uns mal losfahren.“ Sie verließen die nicht allzu große Halle und traten in die heiße Sommersonne. Erstaunt sah er, dass er sich auf einem endlos großen Platz befand, der eher einer überdimensionalen Weltraumstation glich. Die Abflughalle, aus der er gekommen war und die wohl hauptsächlich für die Flüge aus „Old Europe“ da war, war nur eine von vielen Hallen, die in einem großen Kreis aufgestellt waren. Sie alle waren wesentlich größer und moderner, und davor standen so viele Flugzeuge, dass er gar nicht versuchte, sie zu zählen. „Was sind das für Hallen?“, fragte er seinen Freund etwas aufgeregt. „Das sind die Hallen der verschiedenen Fluggesellschaften“, sagte er. „Die meisten Flüge hier sind eigentlich Inlandflüge, Europa spielt da nicht so eine große Rolle.“ Ein Düsenflugzeug nach dem anderen setzte zur Landung an oder begann zu starten. Er hatte eher den Eindruck eines Bienenstockes.
Zum ersten Mal begriff er, dass er nun auf einem anderen Kontinent war, in einem Land, das so reich und mächtig war wie kein anderes Land auf dieser Welt. Seine Augen begannen etwas zu brennen von den vielen Kerosindämpfen, und sie verließen rasch das geteerte Flugfeld, um zu dem ebenso überdimensionalen Parkplatz zu gelangen. Auch so gut wie alle Autos, die dort standen, waren wesentlich größer, als er es gewohnt war. Auch wenn die Karosserien nicht mehr das Aussehen fliegender Untertassen hatten wie in den Fünfzigerjahren, so sahen sie doch wesentlich interessanter aus, als wie er es gewohnt war. Auch sein Freund hatte einen anderen, etwas lässigeren Gang angenommen, der wohl ausdrücken sollte: „Was kostet die Welt.“ Der Funke begann auf ihn überzuspringen, und sie zündeten sich eine Zigarette an, die sie lässig im Mundwinkel baumeln ließen. Harry zog ein Päckchen Kaugummi aus seiner Jackentasche und bot ihm einen an. Sie gingen zu einem großen Wagen, der seinen Eltern gehörte, und Harry schloss die Tür auf. Der Wagen hatte sich in der prallen Mittagssonne aufgeladen, und er ließ sich auf den weiten weichen Ledersitz fallen. Ja, dachte er, das war ein Auto, und er begann etwas wehmütig an seine kleine „Knutschkugel“ zu denken, in der auf der Rückbank gerade Mariettas Krücken Platz gehabt hatten. „Es wird gleich kühler“, versicherte ihm sein Freund; „das Auto hat natürlich eine Klimaanlage.“ Harry steckte den Schlüssel in das Zündschloss und ließ den Wagen an. Jetzt war er sich ganz sicher, dass er nicht träumte, denn das Geräusch des großen Sechs-Zylinder-Motors gab ihm das Gefühl, in einem Raumschiff zu sitzen. Er war angekommen. Da der JFK-Airport natürlich außerhalb der großen Stadt lag, mussten sie nicht hindurchfahren. Stattdessen fuhren sie über Brücken und Highways, die sich wie Schlangen ineinander zu verknoten schienen. Nur in der Ferne konnte er unter einer braunen Glocke aus metallisch braunem Rauch so etwas wie eine Stadt ausmachen. Da lag sie also, die berühmteste Stadt der Welt, und er war froh, dass sie daran vorbeifuhren. Er bewunderte seinen Freund wieder einmal, wie er diese verschlungenen, vierspurigen Highways meisterte. Geschickt nahm er die richtigen Ausfahrten und ließ keinen Zweifel daran, dass er hier bereits zu Hause war.
„Leider habe ich keine guten Nachrichten“, begann Harry zu sprechen. Es entstand eine Pause, und er hörte nur das etwas nervöse Schmatzen des Kaugummis. „Ich habe für unsere Reise einen alten Triumph-Sportwagen gekauft und ihn bei einer Probefahrt zu schnell gefahren und überhitzt. Jedenfalls haben sich die Kolben gefressen, und ich brauche jetzt neue Zylinderköpfe. Und die mussten erst in England bestellt werden, und das kann noch eine Weile dauern, bis sie ankommen. Und dann müssen wir sie auch noch zusammen einbauen.“ „Und was heißt das jetzt genau?“, fragte er. „Das heißt, wir müssen erst einmal eine Zeit bei meinen Eltern verbringen. Das Haus ist zwar schon fast fertig, aber es gibt noch einiges zu tun, und wir können ihnen etwas dabei helfen. Dafür gibt es was zu essen, und zum Schlafen haben wir einen Wohnwagen für dich aufgestellt. Dort können wir machen, was wir wollen. Das Grundstück ist riesig und besteht aus viel Wald und einigen Wiesen, die auf Hügeln liegen. Meine Eltern haben damit angefangen, ein paar Kälber großzuziehen; die müssen noch mit der Flasche gefüttert werden.“ Er sah ihn erstaunt an. War das noch sein Freund, mit dem er eine wilde Zeit erlebt hatte? Jetzt wollte er Kälber mit Flaschen großziehen. War das der Wilde Westen, den er gesucht hatte? „Ist okay“, sagte er und unterdrückte ein Lachen. „Hört sich erst einmal nach Ferien an, und die kann ich im Moment ganz gut brauchen.“
„Wie viel ‚Shit‘ hast du denn mitgebracht“, fragte Harry jetzt leise, als könnten es seine Eltern bereits hören. „Ach, nur etwa zehn Gramm, müssen halt sparsam damit umgehen.“ „Lass uns erst einmal etwas zwischen die Kiemen schieben“, begann Harry nun aufmunternd, „da vorne gibt es einen ganz guten Diner mit Selbstbedienung, der ist recht billig, und du wirst über die Portionen staunen.“ Er bog von dem Highway ab und parkte ein. Jetzt wusste er, dass die Filme nicht gelogen hatten. Alles war irgendwie größer, viel bunter und strahlte eine lässige Ruhe aus. Jetzt fiel ihm das richtige Wort dafür ein: Alles wirkte wesentlich „jünger“.
Sie betraten das Lokal, das gemütlich und fröhlich wirkte, und er fühlte sich in seine Kindheit versetzt, als er mit aufgeregtem Herzen auf seinem Bett lag und vor sich das neueste Micky-Maus-Heft aufgeschlagen hatte. Auch damals war er in eine Welt eingetaucht, die wesentlich jünger war, und es war seine Welt gewesen. Eines fiel ihm sofort auf: Die Menschen, die hier saßen und sich lautstark unterhielten, machten auf ihn den Eindruck, als wären sie alle gleich. Doch anders als in seinem Land war es nicht künstlich erzeugt, sondern es schien ihre wahre Natur zu sein. Waren sie oder ihre Vorfahren nicht einmal aufgebrochen, um diese Freiheit zu suchen – die Freiheit, einfach sie selbst zu sein, so wie sie eben waren, weder schön noch hässlich, weder reich noch arm, doch jeder mit den gleichen Möglichkeiten ausgestattet.
Er stand mit seinem Freund vor einer riesigen Theke, hinter der ihn ein lustiges Mädchen anlächelte. Sie suchten sich verschieden Sachen aus, und der Teller begann bereits überzuquellen. Nun bemerkte er auch, dass die meisten Menschen um sie herum ebenfalls etwas breiter, um nicht zu sagen, dicker waren, als er es gewohnt war.
Als sie sich in einer dieser ausgepolsterten Nischen gesetzt hatten, trat sofort eine Bedienung mit durchaus ansehnlichem Oberteil an sie heran, und sie bestellen noch einen Kaffee. Harry begann, ihn aufzuklären. „Weißt du, hier bei uns zahlst du nur die erste Tasse, dann kannst du so viel trinken, wie du willst.“ Das gefiel ihm sehr, und er dachte, dass das wohl der erste Schritt zum Paradies sein könnte. Jetzt wollte er auch so sein wie die. Immer einen flapsigen Spruch auf den Lippen, und vor allen Dingen „cool“. Dass auch die Frauen „cool“ waren, gefiel ihm sehr. Auch er wollte schnell all das Alte hinter sich lassen und nur noch „cool“ sein.
Als sie gegessen und mehrere Tassen Kaffee in sich hineingekippt hatten, gingen sie wieder hinaus, in einen strahlenden Sommertag. Er versank in dem weichen Beifahrersitz und war rundum zufrieden. Der enorme Zeitunterschied und der viele Kaffee hatten ihn in eine euphorisierende Stimmung versetzt. Harry bog auf den Highway in Richtung Boston ein. Er war überrascht, dass die vierspurige Autobahn, die sich wie ein breites Band an der Küste entlang wand, so leer war. Oder kam es ihm nur so vor? Niemand schien einen anderen von der Straße drängen zu wollen, so wie er es von seinem Land gewohnt war.
„Wieso fahren die alle so langsam?“, fragte er seinen Freund. „Die haben doch alle so große und starke Autos.“ Harry grinste. „Hier gibt es eine strikte Geschwindigkeitsbegrenzung von etwa 110 Stundenkilometern, an die sich auch alle halten, denn wer diese überschreitet, muss mit hohen Strafen rechnen.“ Ach deswegen hatte er den Eindruck, als wäre niemand auf der Straße. Auch diese Art von Gleichheit gefiel ihm sehr. Man schien es nicht nötig zu haben, den anderen mit dem Gaspedal davon überzeugen zu müssen, wer der Bessere und Stärkere ist. „Aber ist es nicht frustrierend, einen so dicken Motor zu haben und dann so dahinschleichen zu müssen?“, fragte er noch mal nach. „Am Anfang für uns Europäer auf jeden Fall, doch man gewöhnt sich daran; auf die Dauer ist es jedenfalls sehr entspannend. Aber ich hätte schon Lust, mal das Gaspedal durchzudrücken und mit 200 Sachen dahin zu brettern, aber dafür gibt es Crash-Car-Rennen, wo jeder mitmachen kann, und da geht es wirklich aufs Ganze.“
Er merkte, dass er wohl noch lange brauchen würde, dieses Land zu verstehen, falls das überhaupt möglich war. Manchmal sah er in weiter Ferne etwas von dem Meer aufblitzen, auf dessen anderer Seite der alte Kontinent lag, von dem sie alle einst aufgebrochen waren. Die an Gott geglaubt hatten und wegen ihres tiefen Glaubens verfolgt worden waren, genauso wie die, die wohl manchmal nur noch mit knapper Not dem Galgen oder dem Schafott eines launischen Herrschers entkommen waren. Sie alle hatten wohl die Hoffnung, endlich das gelobte Land gefunden zu haben, das als Wunsch wohl in jedem Herzen zu schlummern schien. Leider trafen sie dann auf seltsame Menschen, die schon im Paradies zu leben schienen und wohl nicht sehr erfreut waren über die seltsamen bis an die Zähne bewaffneten Gestalten, die sich wohl angesichts der halb nackten bemalten Gestalten fast in die Hose machten. Doch auch sie waren „Wilde“, sie hatten es nur vergessen. Hier würde es sich einst entscheiden, ob eine neue Welt, die nur noch von „Menschen“ besiedelt war, entstehen könnte. Aber die Sehnsucht danach war da, das konnte er deutlich spüren.
Sein Freund war auf einen schmaleren Highway in Richtung Hartford abgebogen, und aus dem Autoradio war eine fröhliche Frauenstimme zu hören. Die sich allerdings etwas nach Minnie Maus anhörte. Die Musik hörte sich für ihn soweit ganz gut an – etwas Swing, etwas Country –, bis ihn sein Freund aufklärte, dass dies eigentlich die totale Spießermusik sei, die wohl alle gerne hörten. Ihm war es egal, denn er war da, wo er immer hinwollte, in einem Land der Zukunft, so weit und so groß, das man es wohl nie ganz kennenlernen konnte.
Nun bog Harry nochmals ab, und sie fuhren auf einer normalen Landstraße durch dicht belaubte Wälder und Hügel. Nur selten kamen sie an einem Haus oder einem einzelnen Gehöft vorbei. Manchmal gab es eine Tankstelle oder einen kleinen Laden. Harry bog ab. „Ich muss noch ein paar Sachen im Supermarkt besorgen“, rief er und fuhr in Richtung eines kleinen Städtchens, dessen Name er längst vergessen hatte. Er rieb sich fast die Augen, als sie vor der Halle eines riesigen Supermarktes standen. „Hier wohnen alle ziemlich verstreut, weit auseinander, und das hier ist fast der einzige Treffpunkt, es sei denn, du willst in eine der Kirchen gehen, die es hier gibt.“ Das wollte er nicht unbedingt, und so betraten sie die wahre Kirche, den Tempel des Konsums, den es bald auf der ganzen Welt geben würde. Einwandfrei war das der Tempel der Zukunft, aus dem alle glücklich herauskommen würden, nachdem sie all ihre Bedürfnisse befriedigen konnten. „Wow“, sagte er, als er den riesigen kühlen Raum betrat. Auch hier schien alles doppelt so groß zu sein wie sonst irgendwo auf der Welt. Alles gab es in Hülle und Fülle, und darüber schallte sanfte Engelsmusik, die nur ab und zu von einer liebevollen Stimme unterbrochen wurde, die einen auf besondere günstige Angebote aufmerksam machen wollte.
Harry schob einen großen Einkaufswagen, in dem er leicht Platz gefunden hätte, durch die breiten Reihen, an dessen Seiten sich meterhoch Waren aller Art befanden. Das musste das Schlaraffenland sein, von dem er in seiner Kindheit gehört hatte. Harry hatte den Wagen mit vielen ihm fremden Dingen beladen, unter anderem auch Trockenmilch, die man im Wasser auflösen konnte und die er an die kleinen Kälber verfüttern sollte. Jetzt fuhren sie noch einen Hügel hinauf und durch einen Ahornwald. Sie hielten an einem mit Sand aufgeschütteten Parkplatz.
Ein schmaler Pfad aus ausgetrockneter Erde führte zu einem nicht ganz fertigen Haus, an dessen Ende eine sehr junge blonde Frau stand und ihnen fröhlich zuwinkte, als hätte sie ihn bereits erwartet. An einer Leine hielt sie einen großen Bernhardiner, der sich, als er seinen Freund sah, losriss und auf sie zustürmte. Er war sofort bei ihnen und stieg an seinem Freund hoch, um ihm über das Gesicht zu schlecken. Dann tat er es auch bei ihm, wobei er einiges an Speichel absonderte und seine fast noch weiß gebliebenen Kleider mit klebrigem Sand überzog. Nun hatte auch das Mädchen sie erreicht; sie hieß Susi und sah ihn mit himmelblauen Augen fröhlich an. Sie war erst fünfzehn Jahre alt und Harrys Schwester. Er hatte sich sofort etwas in sie verliebt, auch wenn sie noch einiges an „Babyspeck“ um sich hatte. Jetzt sah er auch Harrys Mutter oben stehen. Sie sah aus wie eine etwas ältere Ausgabe seiner Schwester. Sie gingen langsam den Hügel hinauf und schüttelten sich die Hände.
Hier war er also. Irgendwo auf einem anderen Kontinent, in einem einsamen Wald, wo auf den nächsten zehn Kilometern niemand anzutreffen war. Er war heimgekommen. Als er oben bei dem Haus angekommen war, um das herum noch einiges an aufgeworfenen Steinen und Sand, der unübersehbar noch mit Resten getrockneten Mörtels versehen war, lag, hatte er einen wunderbaren Ausblick über das weite hügelige Land. Außer endlosweiten Wäldern war nichts zu sehen. Unterhalb des Hauses waren ein paar hügelige Wiesen, auf denen drei kleine Kälbchen friedlich weideten, und ein kleiner Stall, neben dem Harrys Sportwagen stand. Weiter links, ebenfalls auf einer Wiese stand ein kleiner weißer Wohnwagen, der wohl die nächste Zeit sein Zuhause sein würde.
Ein älterer Mann war inzwischen aus der Tür getreten und schüttelte ihm lächelnd die Hand. „Das ist unser Opa“, stellte ihn Sabine, Harrys Schwester, vor. „Er wollte nicht mehr in die alte Heimat zurück.“ Nun betrat er das Haus, das von innen wesentlich größer wirkte, als er vermutet hatte. Alles war ein einziger großer Raum, der fast bis unter das Dach ging. Der Mittelpunkt schien ein breiter offener Kamin zu sein, vor dem ein riesiger Esstisch stand. An der Seite waren die Küche und die Badezimmer untergebracht, während man über eine Holztreppe in das erste Stockwerk gelangen konnte, wo die Schlafzimmer untergebracht waren. Irgendwo kam ihm alles bekannt vor. Hatte er nicht ähnliche Häuser in zahlreichen Western und in den Fernsehserien wie „Fury und Lassie“ gesehen? Alles strahlte eine offene, einladende Haltung aus. Jeder schien hier willkommen zu sein.
Nun führte ihn sein Freund den kleinen Hügel hinab zu seinem Wohnwagen. Er war schlicht und einfach, doch konnte man etwas kochen und auch eine enge Toilette benutzen. „Das muss wohl fürs Erste langen“, sagte Harry, der nun etwas unsicher wirkte, als hätte er ihm zu viel versprochen und die Wirklichkeit war nun doch eine ganz andere. Er ließ ihn allein, und er packte seine Sachen aus. Kurz durchzog ihn ein Schmerz, als er an seine alte Heimat dachte. Wie einer der ersten Siedler sah er sich nun von einer undurchdringlichen Wildnis umgeben. Gab es hier noch wilde Tiere? Er würde seinen Freund fragen müssen.
Er packte das schwere, dicke unbeschriebene Buch aus, das er mitgenommen hatte. Er wollte nämlich Schriftsteller werden und ein Buch über seine hoffentlich abenteuerliche Reise schreiben. Er legte sich auf das Bett und schlug es zum ersten Mal auf. Die Linien störten ihn etwas, sie schienen etwas von ihm zu verlangen, was er ihnen wohl so schnell nicht bieten konnte. Er nahm einen Bleistift und überlegte, wie er wohl anfangen konnte, als sein Blick auf eine Straße kleiner Ameisen fiel, die in den Wohnwagen eingedrungen waren, wohl auf der Suche nach etwas Essbarem. Ja, mit ihnen würde er sein Buch beginnen, denn so wie er waren sie aus einer anderen Welt, die anderen Gesetzen unterworfen war. Für sie war er wohl ein bedrohlicher Außerirdischer, falls sie ihn überhaupt wegen seiner Größe wahrnehmen würden. Er begann über die Sinnhaftigkeit oder Sinnlosigkeit jeglicher Existenz zu philosophieren, und wieder kam ihm ein Spruch aus seiner Kindheit in den Sinn von dem großen Meister deutschen Humors, Wilhelm Busch: „Diogenes der Weise aber kroch ins Fass und sprach: Ja, ja, das kommt von das!“

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