Treppenwitz zur Zeitkultur

Treppenwitz zur Zeitkultur

Sprung in die ,Nach-Corona‘ Glückskultur

Walther Wever


EUR 25,90
EUR 15,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 676
ISBN: 978-3-99107-214-0
Erscheinungsdatum: 10.12.2020
Bernd und Claudia beenden ihr Projekt zur Kulturgeschichte. Im „Treppenwitz zur Zeitkultur“ wird - verpackt in einer Liebesgeschichte - die Entwicklung zu der immer mehr vom Kapitalismus geprägten Gegenwartskultur erzählt.
Wendepunkte zur Jetztzeit

„Wir befinden uns inmitten eines schwindelerregenden Wandels, der unserer Kultur verdammt zusetzt. Vielleicht noch dramatischer als am Ende des Mittelalters.“ „Wenn du meinst. Geht das noch etwas genauer?“ „Wir haben den Beginn der ‚Frühneuzeit‘ im Jahre 1500 – wenn du dich daran noch erinnerst – an zehn und den Anfang der ‚Neuzeit‘ 1850 an fünf Wesensmerkmalen festgemacht. Was läge da nicht näher, um auch für das Jahr 2000 die zehn bedeutsamsten Wendepunkte zu beleuchten?“ Er sieht sie erwartungsvoll an, um dann resignierend zu antworten: „einverstanden.“
„Das Jahr 2000 beginnt mit einer ersten Auktion der Bundesnetzagentur, der sich als erster Wendepunkt der ‚Digitalen Kommunikation‘ entpuppt. Mit der sage und schreibe 50 Milliarden DM in die Staatskasse gespült werden. Leider nicht, um damit eine digitale Infrastruktur zu finanzieren, sondern viele andere Projekte.“ „Ich erinnere mich“, unterbricht Bernd, „mich damals über diese Entwicklung amüsiert zu haben. So viele Milliarden für ein blödes Netz, dachte ich zunächst. Doch da sollte ich komplett schiefliegen.“ „Siehst du, ein untrügliches Zeichen, mein Lieber, dass du alt wirst. 1996 gibt es den ersten globalen Webb-Anbieter, mit dem die Jedermanns eine eigene E-Mail-Adresse anlegen können, kurz vor der Gezeitenwende wird die erste SMS versendet und die WhatsApp ist heute gerade erst einmal zehn Jahre alt.“ „Ist ja echt krass. Habe glatt vergessen, wie wir vorher überhaupt kommunizieren konnten“, stellt Bernd erstaunt fest.
„Im Jahr 2000 gibt es nur schlichte ‚Handys‘. Erst 2007 tauchen die ersten Smartphones mit ‚Touch Screens‘ auf, die unser Leben seither nachhaltig verändern. Zumindest nachdem 2010 die siebenmal schnellere LTE-Technologie zum Einsatz kommt. Wir schießen mit ihnen heute Fotos, drehen Filmsequenzen oder hören dank der 2005/2006 auftauchenden neuen Plattformen YouTube und Spotify Musik. Wir kommunizieren mit ihnen per E-Mails, WhatsApp-Nachrichten, Facebook oder Twitter. Auch nutzen wir Smartphones, um ins Internet zu gehen. Etwa zu der 1997 gegründeten Suchmaschine Google oder dem 2001 ins Leben gerufenen Lexikon Wikipedia. Wir sehen mit Smartphones fern oder erfreuen uns an Online-Spielen. Wir kaufen mit ihnen bei Amazon, Zalando und Otto-online ein, vergleichen mit idealo Preise und bezahlen per Paypal oder anderen WhatsApp-Zahlungssystemen. Wir managen mit ihnen die gesamte Hauselektrik, nutzen sie als medizinischen Begleiter, als Positionsermittler und Echtzeit-Stauwarner, Kompass, Waage, Lupe oder Taschenlampe.“ „Ist schon gut“, unterbricht sie Bernd. „Ich habe verstanden.“ „Bald startet ‚5G‘, um 10 Gigabit je Sekunde bei 90 % geringerem Energieverbrauch versenden zu können. Mit dieser Technologie gehen tiefgreifende Änderungen einher, denn anstelle der bisherigen Hardware von Routern und Firewalls wird die zukünftige Software auch diese überflüssig machen! Womit wir uns darüber im Klaren werden müssen, wie systemrelevant die Software zukünftig ist und ob wir neben Ericsson oder Nokia wirklich auch eine chinesische Huawei-Software einsetzen wollen.
Infolge dieser neuen Technologie kommunizieren wir anders und sind selbst in Freundesrunden immer mit einem Auge und Ohr im Netz. Um uns in virtuellen Runden auch mit all denjenigen zu verständigen, die nicht anwesend sind. Wir mutieren zu ‚Followern‘, um Bilder bei Instagram zu ‚liken‘. Ausgelöst übrigens im Jahr 2000 durch nichts anderes als das Kleid der Sängerin Jennifer Lopez während der Grammy-Award-Verleihung, bei der einige Google-Manager schlagartig erkennen, wie sehr sich die Jedermanns für Bilder interessieren. Infolge neuer Kommunikationsformen erblickt der ‚Flashmob‘ das Licht der Welt.“ „Das ist doch ein durch Handys veranlasster Menschenauflauf auf öffentlichen Plätzen, oder?“ „Genau, mein Lieber. Inzwischen sind 84 % der Arbeitnehmer auch außerhalb des Büros erreichbar. Wir schalten immer weniger ab, zumal sich die Unsitte großer Verteiler von E-Mails und digitaler Kollaborationsplattformen einbürgert.“ „Irgendwie erinnert mich das an die These vom ‚trojanischen Einfluss‘ der Digitalisierung auf unser Denken, mit der uns der inzwischen verstorbene FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher kurz nach dem Jahrtausendwechsel konfrontiert. Um uns in seinem Werk ‚Payback‘ klarzumachen, ‚warum wir im Informationszeitalter gezwungen sind zu tun, was wir nicht tun wollen, und wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen‘.“ „Mag sein, Claudia. Ist aber doch längst Schnee von gestern.“
„Weiß nicht. Das Mobbing erfährt in unseren Schulen eine neue Wirkmächtigkeit, denn nun wird es recht einfach, andere gleich in einer größeren Community fertig zu machen. Shit-storms erblicken das Licht der Welt. Auch vor Universitäten nicht haltmachend, was der Politikwissenschaftler Herfried Münkler erfährt, nachdem einige seiner Studierenden seine Vorlesungen in ‚watchblocks‘ geschickt zusammenschneiden, um ihn als Rassisten und Sexisten zu beschuldigen. Eine Debatte auslösend, ab wann die bewusste Deduktion auf einzelne Halbsätze eine ‚Denunziation‘ darstellt. Unsere permanente Aufmerksamkeit im Netz führt zum Phänomen der ‚erschöpften Psyche‘. Die Hälfte der heutigen Jedermanns klagt regelmäßig über Schlafstörungen. Auch nehmen psychische Erkrankungen sprunghaft zu, für die sich die Begrifflichkeit des ‚Burn-Outs‘ herausbildet.“ „Stimmt, vor dem Jahr 2000 haben wir das Wort ‚Burn-Out‘ nicht gekannt. Insofern akzeptiere ich deinen ersten Wendepunkt.“
„Mit der Jahrtausendwende beginnt als ‚zweiter Wendepunkt‘ der ‚Dataismus‘.“ „Was soll der denn sein?“ „Algorithmen bestimmen unsere Kommunikation. Sie wählen aus, was uns interessieren könnte, zunehmend nicht nur unser Konsumverhalten bestimmend, sondern auch unsere politische Einstellung. So mischt sich etwa Cambridge Analytics unerlaubt in den US-Wahlkampf 2016 ein, um algorithmenbasiert Meinungen zu polarisieren. Natürlich wurde schon früher um die Wahrheit gekämpft. Doch im Zeitalter des algorithmen-verursachten, sich verstärkenden Meinungsbildungsprozesses unterbleibt eine kollektive Wahrheitssuche. ‚Alternative Fakten‘ bürgern sich in Form plakativer Kurzbotschaften ein.“ „Ich ahne, was das bedeutet“, bemerkt Bernd, ein wenig besorgt dreinblickend.
„Jedenfalls gehen mit dem ‚Dataismus‘ tiefgreifende Verhaltensänderungen einher. Während etwa bisher in den Vorstadtbahnen die Pendler ihre Zeitung studieren, daddeln sie nun auf den Smartphones herum, um sich in algorithmengesteuerten Schlagzeilen in ihrem Weltbild bestätigen zu lassen. Sie scheren sich nicht mehr um das kollektive Abwägen des Für und Wider, um sich gemeinsam – im Habermas’schen Sinne – um die Entwicklung gesellschaftlich anerkannter Wahrheiten zu bemühen. Sondern erfreuen sich an dem sich selbst verstärkenden Prozess der permanenten Bestätigung eigener Thesen. Nun bewahrheitet sich Gustave le Bons ‚Ansteckungstheorie‘, der scharfsinnig die hypnotische Wirkung einer sich aufheizenden Masse auf das Individuum beobachtete. Dank der gefühlten Anonymität des Netzes kommt es zu massenpsychotisch begründbaren Hass-Mails, in denen jegliche Skrupel zwischenmenschlicher Höflichkeit fallen gelassen werden. So viel zum zweiten Wendepunkt.“ „Ist ja echt krass“, unterbricht sie Bernd, „du hast völlig recht, solche Phänomene gab es vor dem Jahr 2000 gar nicht.“
„Als ob wir, mein Lieber, nicht schon genug mit der ‚digitalen Kommunikation‘ und dem ‚Dataismus‘ zu tun gehabt hätten, beginnt im Jahr 2000 zudem ein dritter Wendepunkt. Der des schleichenden Prozesses der ‚künstlichen Intelligenz‘. Welche Fähigkeit diese inzwischen besitzt, kann man an schachspielenden Computern festmachen. 2008 taucht das schachspielende Computerprogramm Stockfish auf, basiert auf dem programmierten Fachwissen der Vergangenheit. Um fortan mühelos jeden Schachweltmeister zu schlagen. Doch schon wenige Jahre später erfahren wir von der Existenz der auf ‚künstlicher Intelligenz‘ fußenden AlphaZero-Software. Das ist ein selbstlernender Algorithmus, der sich nicht nur selbst im ‚learning by doing‘ das Schachspielen beibringt, sondern bald auch Stockfish schlägt. Ich bin mir sicher, ‚künstliche Intelligenz‘ wird immer wirkmächtiger. Maschinelles Lernen wird inzwischen nicht nur bei der Aufdeckung von Steuerstraftaten, sondern auch bei der Anamnese von Krankheiten, bei der Kalkulation von Versicherungsrisiken, bei der Erkennung von Schadsoftware oder beim rechtzeitigen Ein- und Aussteigen an der Börse eingesetzt. Damit führt die ‚künstliche Intelligenz‘ zu einer Gezeitenwende unseres Berufslebens. Nicht nur, weil die Maschinen schneller und zuversichtlicher Daten berücksichtigen als Menschen. Sondern auch objektiver, frei von – im Unterbewusstsein schlummernden – Vorurteilen von Rasse, Geschlecht und Nationalität. Womit wir geneigt sind, uns immer resignativer den maschinellen Entscheidungen zu fügen. Wir werden auch nachlässiger bei dem Überschlagen der Richtigkeit, genauso wie ein Kassierer im Supermarkt, dessen Fähigkeiten zum Kopfrechnen mit dem stumpfen Scannen an der Supermarktkasse kontinuierlich abnehmen.“ Bernd nickt, sein Glas erhebend. „Mensch, du machst mir richtig Angst.“ „Das ist nicht meine Absicht. Nur fürchte ich um die vielen Jedermanns, die sich einfach nur noch abgehängt fühlen.
Damit will ich zum vierten Wendepunkt überleiten. Ich weiß, nun wirst du schmunzeln. Den verbinde ich nämlich mit der rasanten Verbreitung von Videospielen.“ Bernd muss prusten. „So ein Quatsch, was haben denn Spiele mit einer epochalen Gezeitenwende zu tun?“ „Jedenfalls bringt Sony im Jahr 2000 die Spielkonsole ‚Play Station 2‘ heraus, die sich binnen kürzester Zeit zur global meistverkauften Spielkonsole entwickelt. Dank eines neuen Grafikchips realistische Bilder erzeugend, die der realen Welt immer mehr ähneln. Sich damit fundamental von den ersten Videospielen ‚Pong‘ des Jahres 1972 und ‚Pac-Man‘ des Jahres 1980 unterscheidend. Ich denke, dass Spiele einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf unsere Jugend haben.“ „Na und?“, erwidert er. „2001 erscheint mit der ‚vierten Offenbarung‘ erstmals ein deutsches Rollenspiel. Für Survival-, Horror-, Gesellschafts-, Spaß- und Rennspiele etabliert sich ein mehr als 2 Milliarden € umfassender Markt, sodass die Kölner Messe ‚Gamescom‘ in diesem Jahr schon zwölf Jahre alt wird.
Welche dramatische Wirkung diesem Wendepunkt innewohnt, lässt sich vordergründig an dem übertriebenen Spielverhalten der Jugend festmachen. Unsere Ärzte attestieren ihnen immer mehr Schlafstörungen, Halluzinationen und Konzentrationsschwächen. Infolge des Bewegungsmangels der Spielenden kommt es immer häufiger zu Haltungsschäden, Leistungsversagen und Nervosität. Manche hocken mehr als 24 Stunden vor dem Bildschirm, um sich mit ‚Gaming-Boostern‘ kokainhaltiger Getränkepulver wachzuhalten. In Extremfällen führt dies zur Epilepsie und – wie wir leider wissen – zum Tod. Etwas hintergründiger verbinden wir mit der Plattform der Videospiele die sich immer mehr durchsetzende Erkenntnis, dass unsere Psyche keinen gesunden Körper benötigt. Kinder spielen lieber mit ihrer Computerkonsole vor riesigen Bildschirmen als in der realen Natur. Unsere Gehirne eignen sich nämlich großartig dazu, die Grenzen zwischen realem und virtuellem Leben verschwimmen zu lassen. Filme wie ‚Avatar‘ lassen neue Phantasien aufkeimen, in denen selbst Gelähmte wieder Freude am Sport und an der virtuellen Bewegung erfahren. Denn unsere Gehirne schütten bei Computerspielen die gleichen Endorphine aus wie beim Sport in der realen Welt.“ „Nun bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als dir auch in diesem Punkt zuzustimmen“, befindet Bernd.
„Ein fünfter Wendepunkt betrifft die ‚Cobotisierung‘ unserer Welt. 1996 entwickeln zwei amerikanische Forscher einen ersten Cobot, der als Manipulator direkt mit einer Person interagiert.“ „Na, nun übertreibst du aber mit dieser Erfindung.“ „Ne, mein Lieber. Auch die Cobots verändern unser Leben dramatisch. Spätestens seit 2004 die Augsburger Firma Kuka die ersten deutschen Cobots verkauft, die sie zusammen mit dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt entwickelt. Dann überrascht die Münchener Firma Franka Emika mit dem Bau kollaborierender Cobots. Auch wird die ‚Munich School of Robotics and Machine Intelligence‘ gegründet.“ „Wie muss ich mir die Schule denn vorstellen?“ „Erst lehrt ein Münchener Wissenschaftler einen Cobot, mit einem Schlüssel ein Türschloss zu öffnen. Kaum gelingt dies, bringt der kleine Cobot diese Fähigkeit zwei weit davon entfernt aufgestellten Cobots in München und Düsseldorf per WLAN bei. Auch entwickeln pfiffige Start-Ups eine Standardsoftware zur einfachen Umprogrammierung inflexibler Industrieroboter.“ „Davon habe ich ja noch nie was gehört.“ „Da siehst du mal, was dabei rumkommt, wenn man immer nur auf einem Boot abhängt. Immer mehr Jedermanns akzeptieren diese Cobots. Sei es als Hilfen im Haushalt, sei es als Dienstleister in der Pflege oder als Kollaborateure am Arbeitsplatz. Während sie Jüngere als Spielkameraden nutzen, erleben einsame Ältere die Freude an einem vertrauten Ansprechpartner, mit dem sie nicht nur ihre Sorgen und Nöte teilen, sondern ihn auch für häusliche Dienste hemmungslos herumkommandieren können.“ „Ist ja echt krass“, befindet Bernd.
„Wir erleben sechstens mit der Einführung des ‚digitalen Kapitals‘ eine weitere Gezeitenwende. Die Schweden wechseln als Erste von herkömmlichen Geldzahlungen selbst bei Kleinbeträgen zur Zahlung per Kreditkarte oder Handy. Getrieben von dem Ziel, ‚Hawala-Transaktionen‘ zu unterbinden, mit denen bisher illegale Händler mit ihrem nicht dokumentierten Geldtausch eine immer dreistere Geldwäsche betreiben. Dann tauchen 2009 erste ‚Kryptowährungen‘ in Form der Bitcoins auf, allein basierend auf Blockchains ohne jegliche staatliche Kontrolle. Schließlich richtet die EZB selbst Bitcoin-Konten ein. Damit wird das Ende der positiven wie negativen Zinsen eingeläutet und verlieren die Staatsbanken die Kontrolle über das Geld. Erst allmählich beschleicht uns ein ungutes Gefühl, angesichts der viralen Verwundbarkeit der virtuellen Welt damit in eine noch unsicherere Welt abzugleiten. Nicht zuletzt, weil sich ausgerechnet globale Konzerne als die größten Nutznießer dieses neuen Megatrends erweisen.“ „O. k., auch dieser Wendepunkt überzeugt mich.“
„Der siebte Wendepunkt betrifft den Einsatz von ‚Cyber-Waffen‘. Sowohl jener, die auf einer weitgehenden Computersteuerung beruhen, als auch solcher, die auf die virtuelle Welt abzielen. 1999 setzen erstmals hochfrequente Mikrowellenstrahlen der NATO serbische Flugabwehrsysteme außer Kraft. 2003 folgt im Irak-Krieg der erste europäische Einsatz der Airbus Marschflugkörper ‚Storm Shadow‘ seitens der britischen Air Force. Natürlich gibt es vorher schon Marschflugkörper, im Grunde genommen sogar seit 1915, als Siemens erstmals Heeresluftschiffe herstellt, aus denen ferngesteuerte ‚Torpedogleiter‘ starten. Doch letztlich setzt die Wende erst mit vorprogrammierten, elektronisch gesteuerten Systemen ein. Zudem tauchen Drohnen auf, die nicht nur im Bodenkampf die Lage ausspähen, sondern aktiv – allein auf Basis künstlicher Intelligenz – als kleine Hubschrauber in Bodenkämpfe eingreifen. Nur langsam dämmert uns, die Atombombe ist nicht der traurige Endpunkt kreativer Zerstörungsszenarien. Seit 2007 beobachten wir zudem ‚Cyber-Attacken‘ auf unsere Netze. Jedenfalls legen 2007 erstmals russische ‚Hacker-Angriffe‘ estische Behörden und Banken lahm, nachdem Estland beschließt, ein russisches Soldatendenkmal zu verlegen. Der Österreicher Marc Elsberg veröffentlicht wenig später seinen Bestseller ‚Blackout – Morgen ist es zu spät‘. In diesem Technik-Thriller beschreibt er die Folgen eines europäischen Blackouts. Schon nach fünf Tagen kommt es infolge Läden plündernder, hungernder Menschen zu apokalyptischen Zuständen. Längst gehören Hacker-Angriffe zu unserem Alltag, sei es auf den Bundestag, auf die wochenlang lahmgelegte Uni Gießen, Krankenhäuser, Kraftwerke oder Trinkwasserversorger. So viel zu sieben, elektronisch bedingten Wendepunkten.“ „Auch hier stimme ich dir zu“, räumt Bernd ein.
„Abschließen möchte ich mit drei Wendepunkten, die nicht in direktem Zusammenhang mit der elektronischen Revolution stehen. Sondern vornehmlich auf unserem eigenen Sosein beruhen.“ „Das klingt kompliziert.“ „Ist es aber nicht. Der achte Wendepunkt betrifft die globale ‚Überbevölkerung‘.“ „Was geschieht denn da im Jahr 2000?“, will Bernd erstaunt wissen. „Leider nichts, mein Lieber. Denn schon 1999 leben auf unserem Planeten sechs Milliarden Menschen. 2012 sind es bereits sieben Milliarden und nächstes Jahr voraussichtlich acht. Manche Prognosen gehen von einem sich nun abflachenden Wachstum aus. Andere hingegen sind davon überzeugt, dass hier der Wunsch Vater des Gedankens ist. Zumindest gibt es bis heute keine Anzeichen für eine Trendwende. Sieht man einmal nur auf die Entwicklung 1964, 2000 und 2020 in China, Indien und Afrika, da wird einem schlecht. Die chinesische Bevölkerung steigt von 0,7 Milliarden auf zunächst 1,2 Milliarden und inzwischen 1,4 Milliarden Menschen an.“ „Ich dachte, da gibt es eine ‚Ein-Kind-Politik‘?“ Seit 2004 wird diese Regel Stück für Stück aufgeweicht, inzwischen gilt eine ‚Zwei-Kind-Politik‘. In Indien leben zunächst 0,4 Milliarden Menschen, um auf 1,0 Milliarden und inzwischen 1,4 Milliarden Menschen anzuwachsen. Und in Afrika springt die Bevölkerungsanzahl von 0,3 Milliarden über 0,8 Milliarden auf inzwischen 1,3 Milliarden Menschen.
Seit Gründung des Weltklima-Rates in den Achtzigerjahren macht die Weltgemeinschaft einen großen Bogen um ausgerechnet diese Schlüsselproblematik, darauf hinweisend, dass die medizinisch bedingte ‚Revolution der rückläufigen Sterblichkeitsrate‘ von der bildungsbezogenen ‚Revolution der abnehmenden Fertilität der Frauen‘ zu einem ausgleichenden Effekt führt. Doch seit 2004 wissen wir, dass selbst China diesen Trend nicht mehr politisch stoppen kann. Gleichwohl gilt bereits die Thematisierung der steigenden Weltbevölkerung als Tabubruch. Während die UNO bis 2050 von 11 Milliarden Menschen ausgeht, was bedeutet, in den nächsten 30 Jahren kämen noch einmal so viele Menschen dazu, wie 1975 auf unserem Globus siedelten, gibt es sehr viel pessimistischere Einschätzungen. Aber selbst bei nur dem derzeitigen Wachstum der Weltbevölkerung wären wir – in knapp 800 Jahren – bei 10 Menschen je Quadratmeter Landfläche angelangt.“ „Das geht doch nicht.“ „Ach was. Da gleichzeitig die Wüsten klimabedingt wachsen und der Meeresspiegel ansteigt, reduziert sich zu allem Überfluss die bewohnbare Fläche. Als Folge nehmen nicht nur Pandemien zu, sondern werden wir immer mehr von globalen Migrantenströmen heimgesucht. Nicht nur zieht es Kriegsflüchtende aus Syrien zu uns, sondern auch Wirtschaftsflüchtlinge aus Zentralafrika, Pakistan und Afghanistan. Und vermutlich kommen demnächst vor Pandemien Flüchtende aus Indien dazu.“ „Stimmt, mit einem Einknicken der Chinesen ausgerechnet bei der heiklen Ein-Kind-Politik setzt ein Wendepunkt ein, der uns politisch beunruhigen sollte“, befindet Bernd kleinlaut.
„Der neunte Wendepunkt betrifft den immer deutlicher erkennbaren ‚Klimawandel‘. Mit geradezu dramatischen Auswirkungen, die ich an zwei Beispielen festmachen will. Schon kurz vor der Jahrtausendwende zeichnet sich mit dem Auftauchen von Ozonlöchern eine erste globale Herausforderung ab. Es gelingt der Weltgemeinschaft, sich mit dem Montrealer Protokoll 1998 auf geeignete Maßnahmen zum globalen FCKW-Verbot zu verständigen. Mit der erfreulichen Folge, dass wir erstmals 2012 einen Rückgang der Ozon-Löcher erleben. Gleichzeitig wird das CO2-Thema immer drängender. Wirbelstürme, Hitzewellen, ausgedörrte Felder, gigantische Waldbrände und Überschwemmungen rütteln die Jedermanns wach, egal, ob sie letztlich menschen- oder naturveranlasst sind. Anstatt entgegenzusteuern, fokussiert sich die Weltgemeinschaft allein auf den Streit um die Ursachen, was das Kyoto-Protokoll 1997 widerspiegelt. Erst 2015 taucht beim Pariser Klimaschutzabkommen ein Hoffnungsschimmer auf, wenn auch fußend auf einer freiwilligen Selbstverpflichtung der Mitgliedsstaaten. Doch dann geschieht das Unfassbare. Während sich die meisten Staaten wie die Europäische Union dazu verpflichten, ihre Treibhausgase zu senken, gibt es andere wie ausgerechnet die USA, Brasilien und Australien, die diese Selbstverpflichtung ostentativ über Bord schmeißen. Womit der sich selbst verstärkende Aufwärmprozess dank des abtauenden Permafrostes und Rückgangs des arktischen wie antarktischen Eises beschleunigt. Während wir zudem tatenlos zusehen, wie immer mehr Regenwaldflächen von Menschenhand abgefackelt werden. Zugegeben, in den letzten 100 Jahren stieg der Meeresspiegel ‚nur‘ um 15 Zentimeter. Doch nun besteht die Gefahr, dass er um weitere 90 Zentimeter anschwillt. Während der amerikanische Präsident den menschengemachten Klimawandel negiert, stellt sich ausgerechnet die amerikanische Navy auf ihn ein, indem sie weltweit ihre Hafenkaimauern um 60 Zentimeter erhöht.“ „Ist ja krass, dann haben die sich längst auch damit abgefunden?“ „Ich fürchte schon.“ „Das erscheint mir auch ein Wendepunkt der neuen Epoche zu sein.“

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