Tingeln durch das Land Danach – Band 2

Tingeln durch das Land Danach – Band 2

Erzählungen vom Aufwachsen in einer verstörten Zeit

Eike Borchers


EUR 21,90
EUR 13,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 516
ISBN: 978-3-99107-744-2
Erscheinungsdatum: 04.10.2021
Eike Borchers Forschungsreise in das Land Danach, Nachkriegs-Deutschland, geht weiter. Erlebnisse in der Arbeitswelt, auf dem "Bau" und in Fabriken. Und dann: die Entdeckung der Leidensgeschichten seiner Eltern, die ihm viel über das Leben im Land Davor verraten.
1 Kohle machen!

Der Start
Einer meiner wichtigsten und längsten Alleingänge begann, als ich begriffen hatte, dass meine Kindheit vorbei war und dass ich mein Projekt selbst in die Hand nehmen musste, wenn ich letztlich Erfolg auf meinem Weg haben wollte. Einen Erfolg allerdings, der – von jenem Anfang aus gesehen – weit hinten in einer nebelhaften Zukunft lag. Ich begann meine eigenbrötlerische Aktion an einem Ferientag im Sommer 1958 und natürlich wusste ich nicht, gerade mal am Beginn meines Ausflugs in eine neue Welt, dass das, was ich da ins Rollen brachte, elf Jahre dauern würde. Da war ich fünfzehn.
Ich startete mein Projekt am ersten Montag der Sommerferien, die am Donnerstag der Vorwoche angefangen hatten und in der Regel um die sechs Wochen dauerten. Ich hatte also zwei Tage Ferien gehabt und die restliche Ferienzeit wollte ich dazu nutzen, zu arbeiten und Geld zu verdienen. Eigenes Geld. Ich wollte von nun an einen Teil meiner Existenz selbst finanzieren. Das hatte ich so beschlossen, das war mein Plan. Und den wollte ich jetzt durchziehen.
Ich setzte mich am frühen Vormittag in Hörde in die Straßenbahn und fuhr zum Arbeitsamt Dortmund. Ich hatte mir die Adresse des Amtes aus dem Telefonbuch herausgesucht und fuhr los, ohne jemandem zu verraten, was ich vorhatte. In jener Zeit, 1958, erwartete ich nämlich ganz selbstverständlich, wie alle meine Mitmenschen auch, dass ein Arbeitsamt dazu da ist, den Menschen zu Arbeit zu verhelfen. Warum nicht auch mir, dem Anfänger? Ich fuhr also zum Arbeitsamt durch eine kaputt gebombte graue Stadt, die ich hässlich fand und die ich nicht liebte, eine Stadt, auf die sich oftmals gelbe Schwefelwolken herabsenkten und die dann stank wie faule Eier. Auf dem ganzen Weg war mir ein wenig mulmig zumute, denn ich wusste nicht, was auf mich zukommen würde. Ich war noch ziemlich schüchtern und gehemmt und hatte Angst, dass mein Vorhaben scheitern könnte, weil ich einfach noch zu jung war.
Ich tingelte zögerlich und verhalten durch die Straßen und fand es schließlich: das Arbeitsamt. Ein großes Verwaltungsgebäude, das genauso grau und hässlich war wie die ganze Stadt und das in mir ein Gefühl von Beklemmung auslöste. Ich war noch nie in eine Bürowelt mit einem eigenen Anliegen eingedrungen. Ich war „Gymnasiast“, „Untersekunda“, wie man damals sagte, zehntes Schuljahr, unerfahren in der Welt jenseits der Schule. Die Arbeitswelt, zumal die Arbeitswelt der Fabrik- oder Bauarbeiter, in die ich jetzt eintauchen wollte, war mir fremd, ein völlig unbekanntes Terrain. Eine Zeitlang lungerte ich unschlüssig vor dem Eingang des Amtes herum. Ich hatte Angst hineinzugehen.
Es war ein grauer, manchmal von Sonnenstrahlen gefleckter, schwül-heißer und leicht faulig riechender Tag. Die meisten meiner Schulfreunde waren im Freibad. Das lag ganz in der Nähe, am Rheinlanddamm. Andere verreisten mit ihren Eltern: Norderney, Schwarzwald und auch schon mal Italien – Lago Maggiore oder Gardasee für die, die es sich bereits leisten konnten. In die Fünfziger Jahre fiel der Beginn eines neuerlichen kraftvollen Aufbruchs der Deutschen in die Welt – im Käfer oder Borgward statt im Panzer oder Stuka wie nur wenige Jahre zuvor. Reisewelle statt Angriffswelle, Ferien statt Krieg. Das war jetzt angesagt.
Ich zögerte und dachte noch einmal über meinen Plan nach. Ich diskutierte meine Bedenken mit mir selbst: eigentlich, eigentlich, eigentlich …
Ja, eigentlich hatte ich doch Ferien, ja, eigentlich wäre auch ich lieber ins Freibad gegangen, ja, eigentlich wäre auch ich gerne da, wo jetzt die anderen waren. Wollte dabei sein in der Clique der Jungs meiner Klasse, wollte da sein, wo die Mädchen waren, an die man am besten im Freibad herankommen konnte. Denn in den Fünfzigern, vor den modernen Zeiten der Koedukation, als Jungen und Mädchen noch sorgfältig in unterschiedliche Schulgebäude sortiert wurden, war das Freibad in den großen Ferien einer der wenigen Orte, wo Mädchen- und Jungscliquen zusammenfanden, frei und ungezwungen, ohne die Aufsicht der Alten. Es war also eine sehr wichtige Institution. Ferien im Freibad war „Kult“, so würde man heute sagen: der Sommerkult der daheim gebliebenen Teenies, also der meisten damals.
Ich zögerte. Ich überdachte noch einmal meinen Entschluss und machte mir zum zigsten Male klar, dass ich gar keine Wahl hatte. Ich hatte nicht das Geld, um meinen Sommer im Freibad zu verbringen – nicht das Eintrittsgeld und nicht einmal das Geld für die Straßenbahnfahrt dorthin, geschweige denn Geld für alles andere, was angesagt ist, wenn Mädchen- und Jungscliquen zusammenfinden. Und würde ich das nötige Geld aus der Haushaltskasse meiner Mutter erbetteln, so hätte ich ein schlechtes Gewissen gehabt. Das Geld hätte anderswo gefehlt.

An der Pforte
Ich ging also hinein in das Amt und alles war ganz einfach. Da war ein Pförtner in einem Glaskabuff und ich erläuterte ihm, was ich vorhatte.
„Aha, Ferienschüler“, sagte der.
Damit hatte er mich klar und eindeutig eingetütet, er hatte sein Klassifikationssystem im Kopf: „Ferienschüler“. Dieses Wort hörte ich hier – an der Pförtnerloge des Arbeitsamtes – zum ersten Mal und dann, im weiteren Verlauf meiner Reisen in die Arbeitswelt, immer wieder. Eigentlich war dieser Begriff falsch, denn er bezeichnete jene Gruppe von Schülern, die in den großen Ferien gerade nicht „Ferien“ machten, sondern arbeiteten, also „malochen“ gingen, wie man in dieser Stadt sagte. Auch das jiddische Wort „Maloche“ statt Arbeit hörte ich in jener Zeit zum ersten Mal und dann immer wieder.
„Maloche“ ist keine bestimmte Arbeit, sondern ganz allgemein der Verkauf der eigenen Lebenskraft gegen Geld, und nur auf das Geld am Ende kommt es an, Schluss. „Maloche“ ist meist harte körperliche Arbeit, die man auf sich nimmt, um „Kohle zu machen“. Geld verdienen, ohne dass man darauf sieht, was man da eigentlich tut. Die Qualität der Arbeit, die Schwere, die körperlichen und seelischen Belastungen, der Dreck, der Lärm, die Demütigungen, Frustrationen und Entwürdigungen: all das hat der Malocher hinzunehmen. Man malocht, um zu überleben. „Ferienmalocher“ wäre mithin das richtige Wort gewesen. Aber solche begrifflichen Reflektionen waren damals fern von mir. Der Pförtner hielt sich an den allgemeinen Sprachgebrauch. Ich war also
ein „Ferienschüler“, genauer: ich wollte erst noch einer werden.
Er nannte mir die Zimmernummer, die für die „Ferienschüler“ zuständig war, und beendete seine Wegbeschreibung mit einer abfälligen Bemerkung: ob ich nicht doch noch ein wenig zu „unterernährt“ für einen Ferienjob sei und ob ich nicht erst noch mal was essen wollte. So ein Hämelken wie ich sollte doch besser spielen gehen …
Ich ärgerte mich und grinste ein wenig hilflos, da mich seine Frotzeleien beschämten. Sie trafen eine empfindliche Stelle in mir. Ich ahnte es zwar, wollte es aber nicht wahrhaben: dass ich tatsächlich noch wie ein „Milchbubi“ aussah. Ich war fünfzehn, noch nicht ausgewachsen. Ich war am Ende meiner Kindheit angekommen, wie ich deutlich in mir spürte, wirkte aber auf die Erwachsenen wohl noch sehr naiv und linkisch: pubertär eben, unfertig. Irgendwo – tief in mir drinnen – wusste ich das genau. Ja, meine kindliche Erscheinung: die sah ich als das größte Handicap an bei meinem Einstieg in die Arbeitswelt. Ich wandte mich wortlos von dem Pförtner ab, ließ ihn in seinem Glaskasten sitzen und machte mich auf die Suche nach „meiner“ Zimmernummer.

Das Amt
Das Arbeitsamt war ungewöhnlich still und friedlich, beinahe feierlich. Stille Bürokorridore mit ihren vielen Türen links und rechts haben für mich noch heute etwas fast Sakrales an sich, sie kommen mir vor wie Friedhofswege zwischen Gräbern.
Es war angenehm kühl, verglichen mit der schwülen Hitze draußen. Ich sah keine Menschenseele auf den Treppen und in den Gängen. Ich ging einen breiten, langen Korridor entlang, links und rechts Fluchten von Zimmertüren, die allesamt – wegen der sommerlichen Hitze – geöffnet waren und eine leichte Brise auf dem Gang erzeugten. Ich konnte in die Büros hineinsehen. Hinter den üblichen Büroschreibtischen der damaligen Zeit (gelbliches Eichenfurnier) saßen still und friedlich einsame Personen, meist Männer im Alter meines Vaters etwa, die dem Augenschein
nach nichts taten. Sie saßen nur stumm da und rauchten.
Dortmund war Boomtown in jener Zeit, Magnet für Arbeitsmigranten nicht nur aus allen deutschen Landen, einschließlich der „verlorenen“, nein, sie kamen bereits aus Italien, Spanien oder Portugal. Es herrschte Vollbeschäftigung. Ja, die Nachfrage nach Arbeitern war in manchen Regionen sogar größer als das Angebot, vor allem hier im Westen der Republik, in Dortmund. Dieser Zustand, „Vollbeschäftigung“, ein goldenes Zeitalter in der Nachkriegsgeschichte der Stadt, machte nun umgekehrt die Beamten des Arbeitsamtes zu „Lau-Malochern“. Lau-Malocher sind Leute, die ihre Zeit untätig absitzen oder sonst wie träge abklüngeln und dabei auch noch ihr Geld verdienen …
***
Sehr viel später, als ich schon lange nicht mehr in dieser Stadt wohnte, sah ich eine Fernsehdokumentation über die Strukturkrise des Ruhrgebiets. In einer kurzen Sequenz wurde just dieses Dortmunder Arbeitsamt, „mein Arbeitsamt“, gezeigt, exakt jener Korridor, den ich entlang gelaufen war auf der Suche nach „meiner Zimmernummer“.
Die Bilder, die ich sah, waren deprimierend. Sie hatten nichts Schläfriges, nichts Sakrales mehr an sich. Der Korridor war vollgestopft mit Menschen auf der Suche nach „Maloche“. Graue und schwarze Gestalten, Männer und Frauen mit genervten, freudelosen Gesichtern standen und saßen in dichten Pulks vor diesen Zimmertüren, die nun allesamt geschlossen waren, und in die man nach langem Warten nur hineinkam, wenn man eine Nummer gezogen hatte. Kinder waren dabei, die zusammen mit ihren Eltern diese Tortur überstehen mussten. Im Dortmunder Arbeitsamt wurde zu jener Zeit bereits, also schon in den Achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, nur noch die Arbeitslosigkeit verwaltet, das zeigte
die Dokumentation.
Wir wissen, dass das heute die Hauptaufgabe all unserer „Arbeitsagenturen“ und „Jobcenter“ ist: die Arbeitslosigkeit zu verwalten und das finanzielle und psychische Elend des menschlichen Auswurfs unseres Wirtschaftssystems mit widerwärtigen Schikanen zu steigern. „Lau-Maloche“ in den Büros und hinter den Schreibtischen des Amtes – wie in den goldenen Zeiten jener einsam vor sich hin rauchenden Büromenschen –, das war Geschichte. Stress
war angesagt. Eine traurige, bedrückende Atmosphäre: Strukturkrise im Ruhrpott.
***
Wie gesagt: im Sommer 1958 war das ganz anders. Ich begegnete keiner Menschenseele in den Gängen. Die Sachbearbeiter, die ich durch die geöffneten Türen beobachten konnte, dösten vor sich hin, blätterten in Zeitungen und hatten ihre Zigarette zwischen die Finger geklemmt. In den Fünfzigern wurde hemmungslos geraucht: die Tabakknappheit der ersten Nachkriegsjahre war vorbei und die Lullen waren spottbillig. Schließlich fand ich „mein Zimmer“.
Die Tür stand weit auf, die Fenster waren ebenfalls geöffnet, es war luftig. Von draußen schwappte der wie immer leicht stinkende Dortmunder Sommer in die Amtsstube. Vor mir, hinter dem gelblichen Büroschreibtisch (Eichenfurnier), vor den gelblichen Aktenschränken (Eichenfurnier) mit den klassischen gelblichen Rolltüren, die allesamt geöffnet waren und eine Unmenge Aktenordner zeigten, saß ein Mann mit strähnigen, grau-blonden, glatten, nach hinten gekämmten Haaren, etwa im Alter meines Vaters, also in seinen Vierzigern. Ein blässlicher Typ. Er hatte die Ärmel seines weißen Nylonhemdes hochgekrempelt, hatte seinen Schlips gelockert, sein Glencheck-Jackett hing an einem Ständer neben der Tür auf einem Kleiderbügel. Er rauchte. Mit der Hand, in der die Zigarette eingeklemmt war, wies er auf den Stuhl, der vor seinem Schreibtisch stand. Ich setzte mich auf den Besucherstuhl und sagte ihm, dass ich eine Ferienarbeit suche.
Er sah mich eine Weile nachdenklich an und erklärte mir dann, dass die Arbeiten, die er mir anbieten könne, körperlich schwer seien und ob ich es mir nicht noch einmal überlegen wolle. Ich sähe noch sehr jung aus und – na ja – auch ein wenig schmächtig. Wenn das Taschengeld nicht reiche, ja mein Gott, es kämen auch mal bessere Zeiten. Ich sei ja doch noch sehr jung und könne doch noch ein bisschen warten. Alles zu seiner Zeit … und so weiter und so fort …
Er kam mir ein wenig zu redselig vor und ich spürte, dass er mich von meinem Vorhaben abbringen wollte. Das ging aber nicht. Das konnte ich nicht zulassen. „Mein Projekt“ war sehr dringlich und ich hatte mir nun einmal vorgenommen, es genau jetzt zu starten, Punkt. Ich musste also irgendwie mit ihm klarkommen, denn er hatte die Angebote, an die ich heran wollte, in seinen Aktenschränken.
Ich erzählte ihm, dass ich nicht mein Taschengeld aufbessern wollte, sondern dass ich das Geld meiner Mutter geben würde, um das Haushaltseinkommen aufzubessern, was dringend nötig sei, da wir sehr arm seien. Dass ich von nun an gewissermaßen mein eigenes Leben – soweit wie nur irgend möglich – selbst finanzieren wollte – und musste, so fügte ich hinzu, um alles dringlicher zu machen: wegen der finanziellen Notlage meiner Familie.
„Wir stecken in einer finanziellen Misere“, formulierte ich ein wenig hochtrabend.
Der Begriff war mir nämlich von klein auf geläufig. Die „finanzielle Misere“: das war die Standardklage meiner Mutter und bezeichnete die Knappheit, die Armut, manchmal gar hart an der Grenze zum Elend, in der wir alle steckten und immer gesteckt hatten, soweit ich zurück denken konnte. „Wir alle“, das hieß: meine vier Geschwister und ich und meine Mutter. Mein Vater hatte nicht nur seine Strategien, sich dieser „ewigen finanziellen Misere“ zu entziehen. Mehr noch: durch sein Verhalten verursachte er Tag für Tag zu einem Gutteil diesen Krampf, die nicht enden wollende Geldknappheit mit all ihren unglückseligen Folgen.
„Und dein Vater?“, fragte der Mann hinter dem Schreibtisch prompt.
Darauf war ich gefasst und ich antwortete in den Kürzeln, die ich mir zurechtgelegt hatte, wenn ich mit fremden Leuten über dieses Thema sprach.
„Krank“, sagte ich, was auch stimmte.
Er schwieg und schaute mich wieder nachdenklich an. Ich schob ein weiteres und – wie ich damals bereits wusste – sehr wirksames Kürzel nach:
„Krieg“, sagte ich, was ebenfalls stimmte.
Das war das Stichwort.
Ich bin mir sicher, dass ich das Wort „Krieg“ damals mit voller Absicht in unser Gespräch einbrachte. Er wollte mir mein Projekt ausreden, so spürte ich deutlich, und zwar aus einer durchaus ehrenwerten Verantwortung diesem Milchbubi gegenüber, das da vor ihm saß und der offensichtlich seine Kräfte überschätzte. Daher musste ich ihn in ein Gespräch ziehen, ihn irgendwie einwickeln, weich, willfährig machen, so dass er „mein Projekt“ nicht durch ein hehres Gefühl väterlicher Verantwortung, das durch
meine äußere Erscheinung aktiviert worden war, behinderte.
Das Stichwort „Krieg“ war in jener Zeit dafür besonders gut geeignet, das wusste ich seit langem. Und es klappte auch diesmal. Er fing sofort Feuer und fing an zu erzählen. Vom großen Krieg im Allgemeinen – das war immer die Einleitung – dann seine eigenen Geschichten vom Kriege: von „seinem“ Krieg also, wobei er sich in seinem Bürostuhl zurücklehnte und die Erinnerungen hochkommen ließ. Er schwelgte in seinen Döntjes und ich hörte ihm geduldig zu.
Es war ein eigenartiger Automatismus, dem wir Jüngeren da ausgesetzt waren. Wir kamen gar nicht darum herum, uns die Kriegsberichte anhören zu müssen, die uns viele der Älteren ablieferten. Im Gegenteil: wir entwickelten Tricks, mit denen wir unsere Lehrer zum Erzählen ihrer Kriegsgeschichten bringen konnten, wenn uns der Unterricht langweilte. Denn das Erzählen vom Kriege, ihrem „ganz persönlichen“ Krieg, war eine Sucht, die bei den Erwachsenen, zumal den erwachsenen Männern um uns herum, leicht zu triggern war.
Der Mann vom Arbeitsamt jedenfalls hatte sein Stichwort und so hörte ich mir eine lange, lange halbe Stunde lang seinen ganz persönlichen Bericht vom „Frankreich-Feldzug“ an. Bei ihm war es „der Franzose“, der Singularfranzose, der denkbar schlecht weg kam. Der Feind war in seiner Sicht ein Schwächling, den sie in wenigen Wochen „wegputzten“ auf dem Weg nach Paris. Die Pluralfranzösinnen im eroberten Paris dann aber kamen bedeutend besser bei ihm weg – mit dem entsprechenden Augenzwinkern von Mann zu Mann …
Ich ließ ihn gewähren. Plötzlich, nachdem er sich in Stimmung geredet hatte und genügend aufgewärmt war, schien er wieder in der Gegenwart aufzutauchen. Er schwang sich angeregt auf seinem Bürodrehstuhl (gelbliches Holz, Eichenfurnier) nach hinten: in Richtung seiner Rollschränke mit den vielen Aktenordnern. Darauf hatte ich gelauert.
Er griff sich aber nun nicht etwa einen der Ordner, wie ich erwartet hatte, sondern brachte einen verbeulten großen Pappkarton zum Vorschein, in den er dutzende von Karteikarten und Zettel zusammengestopft hatte – unordentlich und unübersichtlich, wie es aussah. Das war also der Schatz, an den ich heran musste. Ich sagte: „Bau oder Gartenbau, habe ich mir so gedacht.“
Er wühlte in dem Zettelkram herum, zog irgendetwas heraus, las es, steckte es wieder zurück. So ging das mehrere Male. Ich wartete.
„Ich glaube, das hier könnte was für dich sein“, sagte er schließlich und legte eine Karte vor sich auf den Schreibtisch. „Gartenbau.“
Er nahm einen Zettel und notierte darauf die Adresse der Firma und die Telefonnummer. Den gab er mir.
„Sie arbeiten jetzt alle für die Bundesgartenschau. Am Westfalendamm. Gut zu erreichen. Gartenbau: ich glaube, das ist nicht schlecht für dich.“ Nein, das war nicht schlecht.

Fünf Mark sechsundsiebzig
Im nächsten Jahr, 1959, sollte in Dortmund die Bundesgartenschau stattfinden. Ein Konjunkturschubs für Gartenbaubetriebe, Gärtnereien und viele andere Unternehmen. Auf einem riesigen Gelände – heute der „Westfalenpark“ – wurde gebuddelt, gescharrt, gekratzt, planiert, gepflanzt. Genau so etwas hatte ich mir als Arbeit vorgestellt. Ich stellte mir vor, dass Gartenarbeit nicht zu schwer für mich sei, dass ich sie bewältigen konnte. Körperliche Arbeit an der frischen Luft … ist doch gut, ist doch gesund, redete ich mir ein. Ich nahm meinen Zettel, den er noch formvollendet mit einem Stempel versehen hatte, bedankte mich, verabschiedete mich und ging.
Vor dem Amt stand eine Telefonzelle. Eine Frauenstimme sagte mir: ja, ich könne sofort anfangen. Ich solle mich auf dem Gelände der Bundesgartenschau bei dem und dem Bauwagen einfinden und meine Papiere abgeben. Arbeitsbeginn sei sieben Uhr. Wann ich denn anfangen wolle, fragte sie. Ich sagte: „Morgen!“
Am Dienstag stand ich schon vor sechs Uhr auf. Ich hatte mir abgelegte alte Klamotten herausgesucht, die ich zur Arbeit tragen wollte: sie saßen eng und ein wenig doof, weil ich eigentlich aus ihnen herausgewachsen war. Sie sahen wirklich blöde aus, aber ich hatte nun mal nichts anderes. Meine Mutter stand mit mir auf in der Frühe, während der Rest der Familie noch schlief. Sie kochte für mich eine dicke Haferflockensuppe mit zerschmolzenen Margarineflocken und Zucker und Zimt, was zusammen eine krosse, knirschende Schicht auf der Oberfläche des Haferbreis bildete. Das mochte ich sehr. Sie begründete damit eine Tradition für uns beide. In den folgenden zehn Jahren, in denen ich mich mehr als tausendmal als „Ferienmalocher“ auf den Weg machte, stand sie stets mit mir auf und bereitete mir dieses Essen. Das war dann die Power für die erste Hälfte der Schicht, bis zur Pause. Sie packte mir Butterbrote ein und füllte Tee mit Zitrone in eine Bierflasche mit Bügelverschluss. Das gab mir den Saft für die zweite Hälfte der Schicht, also bis zum Feierabend.
***
In der Baubude traf ich auf einen mürrischen, wortkargen Mann. Er prüfte mein Erscheinungsbild missbilligend. Mir war das ein wenig peinlich und ich hatte gleich ein ungutes Gefühl. Ja, die alten Klamotten passten nicht mehr richtig, ich fühlte, dass ich lächerlich aussah. Zu kindlich eben. Aber es war nun mal so: alles, was noch passte, waren meine „guten“ Klamotten, die waren tabu für solche Zwecke, die brauchte ich für die Schule.
Der Miesepeter in seiner Baubude wies mir eine Arbeit an, gab mir die entsprechenden Geräte und ich legte los. Da buddelte schon ein anderer „Ferienschüler“, ein dicklicher, stämmiger Junge in meinem Alter, nicht größer als ich, aber bedeutend feister. Der hatte das Klamottenproblem schlicht so gelöst, dass er eine kurze Hose, seine Turnhose, trug. Ich erinnere mich an seine dicken, rosigen Bollen. Wir beide hatten ein bestimmtes Gelände zu planieren und einzuebnen, fuhren Schubkarren mit Erde dorthin, wo welche fehlte, in die Dellen und Löcher, und ebneten kleine Hügel ein. Wir zogen gemeinsam eine schwere Planierwalze über die von uns bearbeitete Erde. Wir sollten eine plane Fläche herstellen, die eingesät oder sonst wie bepflanzt werden würde. Wir beide machten exakt die gleiche Arbeit. Keiner von uns beiden drückte sich irgendwie heimlich oder versuchte, dem anderen mehr Arbeit aufzuhalsen, als man selber tat. Und dennoch …
Nach der Schicht rief mich der mürrische Vorarbeiter zu sich in seine Baubude und eröffnete mir: das war’s, ich brauche nicht noch einmal wieder zu kommen. Ich war maßlos enttäuscht und wütend und fragte: Warum? Und immer wieder: Warum? Warum? Warum?
Ich fing an zu argumentieren, mit ihm zu diskutieren. Er blieb stumm. Er guckte mürrisch. Er sagte gar nichts. Er setzte sich hin und rechnete mir meinen Lohn für den Tag aus: acht Stunden mal 72 Pfennig, das machte 5 Mark und 76 Pfennige, gab mir das Geld und gab mir meine Papiere zurück.
Ich war traurig und wütend zugleich. Ich war auch erschöpft von der Arbeit des Tages, schließlich kannte ich körperliche Arbeit, einen ganzen Achtstundentag lang, noch nicht. Immer wieder fragte ich penetrant nach: „Warum?“, „Warum ich?“, „Warum dann nicht auch der Dicke, wenn schon?“ „Wir haben die gleiche Arbeit gemacht.“ „Es ist nicht fair.“ … usw.
Mit ihm war nicht zu reden. Er schwieg. Er sagte einfach gar nichts. Er guckte so, wie er immer guckte: dumpf, mürrisch, abweisend. Um unser „Gespräch“ zum Abschluss zu bringen, machte er schließlich eine wedelnde Handbewegung – so, wie man einen Hund verscheucht.
Ich gab auf, griff mir meine alte Aktentasche mit meinen seltsamen Arbeitsklamotten und der leeren Bierflasche und haute ab. Aus gebührender Entfernung schrie ich hilflos „Arschloch“ in Richtung Baubude. Die blieb aber geschlossen. Das Arschloch rührte sich nicht.
Das war mein erster Arbeitstag. Das war mein erster Lohn. Das war eine herbe Niederlage.

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