Tattoogeschichten von Martha

Tattoogeschichten von Martha

Martha Bülow


EUR 24,90
EUR 19,99

Format: 13,5 x 21,5 cm
Seitenanzahl: 98
ISBN: 978-3-99130-206-3
Erscheinungsdatum: 11.10.2022
Verlaufen die ersten Jahre ihres Lebens noch glücklich und unbeschwert, ändert sich mit dem plötzlichen Tod ihres Vaters alles für Martha. Mit dem Einzug ihres Stiefvaters beginnt eine dramatische Zeit für sie, deren Last sie bis zum heutigen Tag tragen muss.
Der Schmetterling mit Stein

Er symbolisiert mein Leben, weil ich mich mittlerweile wie ein Schmetterling sehe, der leicht und glücklich durch das Leben fliegen könnte, wenn er nicht an einen schweren Stein gebunden wäre. Der Stein ist schon auf den ersten Blick viel zu schwer für ihn und er könnte eigentlich gleich aufgeben.
Er fühlt sich oft allein mit der ganzen Last!
Er fühlt sich oft erschöpft vom ganzen Leben!
Er fühlt sich oft so müde von der ganzen Verantwortung!
Er weiß, dass er sich niemals ganz von dem Stein befreien kann, aber er schafft es immer wieder, ihn in Bewegung zu setzen.
Der Stein ist der Stein der Vergangenheit!
Der Stein ist der Stein der grausamen Kindheit!
Der Stein ist der Stein der Lügen und Täuschungen!
Nach dem jahrelangen sexuellen und seelischen Missbrauch werde ich mich nie so ganz von dem Stein befreien können, da sich diese Kindheit tief in mein Herz gefressen hat.
Wenn dir jahrelang eingehämmert wird, dass du wertlos bist und dich eh niemand haben will, macht dies etwas mit dir.
Wenn dein Körper jahrelang nicht dir gehört, sondern dem
Täter, macht dies was mit dir.
Wenn du jahrelang niemanden vertrauen kannst, weil der Täter dein gesamtes Umfeld manipuliert, macht dies was mit dir.
Kindesmissbrauch ist Mord an der Seele!
Und genau so ist es auch!

Die Seele stirbt bei jedem sexuellen Übergriff ein bisschen mehr.
Jedes Mal, wenn dein Körper zur sexuellen Befriedigung benutzt wird und dir niemand helfen kann, gibt sie wieder ein Stück auf.
Jedes Mal, wenn du den Atem des Täters spürst und er dein „nein“ ignoriert, gibt sie wieder ein Stück auf.
Jedes Mal, wenn der Schmerz deinen Körper durchflutet und du denkst, dass du jetzt sterben wirst, gibt sie wieder ein Stück auf.
Jedes Mal, wenn du seine fleischigen, nach Rauch stinkenden Finger auf dir spürst, gibt sie wieder ein Stück auf.
Jedes Mal, wenn du auf einer Brücke stehst und überlegst vor den nächsten Zug zu springen, gibt sie wieder ein Stück auf.

Die Seele stirbt bei jedem emotionalen Übergriff ein bisschen mehr.
Immer wenn deine Gefühle mit Füßen getreten werden, weil die Lust des Täters alles bestimmt.
Immer wenn deine lautlosen Schreie niemand hört, weil niemand bei dir zu Hause die Gefahr sehen kann, der du täglich ausgeliefert bist.
Immer wenn er dir sagt, dass du schlecht bist und die Schuld trägst am Selbstmord deines Vaters, weil er sich umbrachte, weil du nicht lieb zu ihm warst.
Immer wenn du Angst um deinen geliebten Hund hast, weil er bei deiner „Ungehorsamkeit“ damit droht, dass es dem Tier sehr schlecht gehen könnte.
Immer wenn er dich einer Lüge bezichtigt und dich vor andern bloßstellt, indem er auf deine blühende Fantasie aufmerksam macht und alle ihm glauben.
Immer wenn du spürst, wie gut er bei anderen Menschen ankommt, wie leicht er alle um die Finger wickelt und du genau weißt, dass du gegen ihn keine Chance hast.

Die Seele stirbt jedes Mal, wenn du Angst hast, nach Hause zu kommen.
Wenn du in der Schule so lange wie möglich bleibst und freiwillig alles aufräumst, weil du auf keinen Fall nach Hause willst.
Wenn du genau weißt, dass der Täter schon lustvoll auf dich wartet, um wieder über dich herzufallen, bis er befriedigt ist und oft darüber hinaus, weil er sehr kurz danach schon wieder Lust auf dich hat.
Wenn du weißt, dass du mit ihm noch stundenlang allein sein musst, weil deine Mutter drei Jobs hat, damit ihr über die Runden kommt.
Wenn du nachts selten durchschlafen kannst, weil er sich zu dir ins Bett schleicht und du seinen ekelhaften Körper auf dir spüren musst.
Wenn du niemals entspannt duschen kannst, weil er immer mindestens einmal ins Badezimmer kommt, um dich mal kurz intim zu berühren oder auch mal mehr.
Wenn du dich noch nicht einmal kurz im Badezimmer oder in deinem Zimmer einschließen kannst, weil er schon längst alle Schlüssel versteckt hat.
Wenn du wieder einmal nicht zu deinen Freundinnen darfst, weil er schon Pläne mit dir hat.
Wenn du stundenlang keinen Atemzug machen kannst, weil du in dem verrauchten Zimmer an seiner Seite sein musst und das Nikotin deine Lungen durchströmt, dass du dich fast übergeben musst.
Wenn du Filme gucken musst, wo Kinder Sex mit Erwachsenen haben, während er sich an deinem Körper befriedigt.
Wenn er dich vor seinen Freunden als seine Prinzessin präsentiert und erzählt, wie viel Spaß ihr zusammen habt.
Wenn er seinen Freunden erlaubt dich überall zu berühren und sie dich gemeinsam missbrauchen.

Die Last des Steines wird mich immer begleiten!
Als Überlebende, als Opfer von Kindesmissbrauch, bin ich stolz, dass ich mich ins Leben zurück gekämpft habe. Aber auch wenn ich ein normales Leben führe, werde ich die Demütigungen niemals wirklich vergessen! Als ich sieben Jahre war, begann mein Alptraum! Viele Jahre konnte ich kaum eine Nacht durchschlafen, weil mein Täter meinen Körper missbrauchte.
Viele Jahre habe ich mit der Angst gelebt, dass lieben Menschen etwas „Schlimmes“ passiert, wenn ich nicht funktioniere und mich seinen Gelüsten verweigere.
Viele Jahre hatte ich absolut keine Privatsphäre, weil mein Körper dem Täter gehörte. Nie werde ich sein Lachen vergessen, wenn ich ihm mutig verkündete, dass ich zur Polizei gehen werde und alles erzähle. Dann müsste er wieder ins Gefängnis! Er lachte darüber so laut und meinte: „Selbst, wenn ich tatsächlich ins Gefängnis müsste, was nie passieren wird, da ich ja nichts verbrochen habe, würde ich ganz schnell wieder rauskommen! Dann möchte ich nicht in deiner Haut stecken, weil du dann alles verlieren wirst, das du liebst.“ Er meinte, mein Hund würde sterben und der ganzen Familie würde es schlecht ergehen. Ich wüsste ja, wie schnell Unfälle passieren!
Die Demütigungen sind das eine Problem, das andere große Problem ist, Menschen je wieder wirklich zu vertrauen! Oberflächlich klappt es mittlerweile recht gut, aber wenn es in die Tiefe geht und Gefühle intensiv werden, kommen die Ängste wieder hoch und die Liebe wird auf eine harte Probe gestellt. Besteht der geliebte Mensch tatsächlich meine Vertrauensproben und das Glück zieht ein, kommen die nächsten Ängste!

Verlustängste! Das Vertrauen auf Glück ist nicht vorhanden! Immer wenn ich glücklich bin, sagt mein inneres Kind: „Pass auf! Wenn du etwas Schönes in deinem Leben hast, musst du dafür bezahlen und etwas abgeben, an dem dein Herz hängt!“ Du weißt, wie das Schicksal dich aus der Bahn werfen wird, und rechnest immer mit dem Schlimmsten. Du kennst die menschlichen Abgründe! Du siehst die Lüge hinter den freundlichen Gesichtern. Du siehst, wie der freundliche Nachbar seine pädophilen Sexfantasien auslebt, und alles kann durch einen Geruch, eine Stimme, ein Gesicht, die einem der Täter ähnlich sind, ausgelöst werden. Es wirft dich augenblicklich aus der Bahn. Gerade hast du noch fröhlich mit deinen Freunden gelacht und im nächsten Augenblick bist du wie versteinert.

Versagensängste! Was habe ich in der Kindheit gelernt? Ich habe gelernt zu funktionieren! Ich habe gelernt meine Gefühle auszuschalten! Ich habe gelernt, dass meine Gefühle nicht wichtig sind, oft sogar falsch sein sollten. Ich habe gelernt, dass etwas Dramatisches passieren wird, wenn ich nicht funktioniere. Wenn ich versage, bricht alles auseinander, wie ich mich um alles kümmern muss! Weil es keine andere Person machen kann. Jede Freude, jedes Geschenk, jeder kurze glückliche Moment, hat seinen Preis, den ich zu bezahlen habe.



Das Auge

Das Auge überschattet das Kind. Der rote Ballon und das rote leicht verblasste Kleid zeigen den letzten Funken von kindlicher Unbeschwertheit, der noch übergeblieben ist. Das Mädchen verliert diese Unbeschwertheit mit dem Tod des geliebten Vaters. Hineingeboren wurde sie in eine liebevolle Umgebung und die ersten Jahre war sie glücklich und geborgen. Bis zu diesem Tag, an dem das Unfassbare passierte! Der Tag sollte der bis dahin glücklichste Tag in Marthas Leben werden. Ihr Vater seit ein paar Wochen krank gewesen und nun war er wieder so gesund, dass er zur Arbeit gehen wollte. Darum wollte er diesen letzten Tag zu Hause mit Martha verbringen und sie schon zum Mittagessen aus dem Kindergarten, wo auch ihre Mutter arbeitete, abholen. Martha war schon den ganzen Vormittag sehr aufgeregt, weil die Vierjährige noch niemals zuvor von ihrem Vater abgeholt worden war. Sie war so aufgeregt und übermütig! Weil sie mit ihrer ganzen Power nicht so richtig umgehen konnte, geriet sie immer wieder mit Kindern aneinander. So geschah es, dass sie zum allerersten Mal richtig Ärger mit ihrer Erzieherin bekam, weil sie einem Jungen eine Ohrfeige gab und der sich natürlich gleich heulend beschweren lief. Sie versuchte sich noch in der großen Verkleidungskiste zu verstecken, aber wurde umgehend entdeckt und bekam einen Riesenärger und musste sich auch noch bei dem Blödmann entschuldigen. Aber sie durften weiter in dem Verkleidungsraum spielen! Das war cool, da sie dort ohne Erzieherinnen spielen konnten. Der Junge nahm die Entschuldigung an, aber wollte nicht mehr mitspielen. Nun war sie endlich mit ihrer besten Freundin Sabine allein. Der Schreck über den Ärger saß ihr in den Knochen und sie zitterte noch vor Anspannung. Nach einer Weile ging es wieder besser und Sabine meinte: „Komisch, dass deine Mutter gar nicht nach uns schaut.“ Dann spielten sie aber weiter, bis Martha plötzlich innehielt und zum großen Fenster starrte. Sie spürte einen dicken Kloß in ihrem Hals und wurde ganz unruhig. „Was ist denn mit dir?“, wollte Sabine wissen. „Ich weiß nicht, ich glaube, es ist etwas Schlimmes passiert!“ Martha starrte aus dem Fenster. „Wie? Was passiert? Was meinst du?“ Sabine war sichtlich verwirrt. „Mein Papa, mein Papa wollte mich doch abholen!“ – „Der kommt schon noch.“ –„Nein, nein, es ist was Schlimmes passiert!“ – „Was ist nur mit dir? Es ist doch alles wie immer!“ – In diesem Moment hörten sie Polizeisirenen, immer mehr. Krankenwagen, Polizeiwagen, immer lauter, immer lauter. „Mein Papa, ich will zu meinem Papa!“ Da Martha mit ihrer Familie dicht beim Kindergarten wohnte, konnte sie das Blaulicht durch die Häuserreihen wahrnehmen und spürte eine nie dagewesene Angst. Sie kannte den Weg nach Hause gut und beschloss aus dem Kindergarten abzuhauen, um nach ihrem Vater zu sehen. Sie kletterte auf die große Fensterbank und versuchte vergeblich das Fenster zu öffnen. „Martha, was machst du da?“, schrie Sabine aufgeregt. „Hilf mir doch, Hilf mir doch, bitte! Mein Papa, mein Papa!“ Verzweifelt kauerte sie sich schließlich in die Ecke und weinte. Sabine kam das alles sehr komisch vor und sie holte lieber die Kindergärtnerin. Diese setzte sich neben Martha und nahm sie liebevoll in den Arm. Ohne zu fragen, was los ist, sagte sie: „Es wird alles wieder gut!“ – „Nichts wird gut!“, weinte Martha weiter, „nichts wird wieder gut!“ Das Mädchen spürte ganz genau, dass sich ihr Leben gerade dramatisch verändert hatte. „Kann ich dir irgendwie helfen?“ Martha schüttelte ihren Kopf und so ging die Kindergärtnerin wieder. Sabine setzte sich zu ihr und sie schwiegen gemeinsam, bis irgendwann Hanna, die Mutter von Martha, kam. Als sie ins Zimmer kam, bat sie Sabine, schon mal in die Gruppe zu gehen, weil sie mit Martha etwas besprechen musste. Jetzt hatte auch Sabine einen dicken Kloß im Hals. Hanna hatte rot verweinte Augen und ging mit schweren Schritten auf ihre Tochter zu. Sie nahm sie auf den Arm und sagte: „Es ist etwas ganz Schlimmes passiert!“ – „Ich weiß!“, unterbrach sie Martha. „Ich weiß, Papa ist tot!“

Was war geschehen?
Georg, der Vater von Martha, hatte sich das Leben genommen!
Er war längere Zeit krank zu Hause gewesen, weil er einen Selbstmordversuch unternommen hatte, bei dem er von Hannas Bruder Paul gerade noch rechtzeitig gerettet worden war. Dieser schlug spontan mit seiner schwangeren Freundin Mia bei ihm auf, weil er wusste, dass er Urlaub hatte und auf dem Bau arbeiten würde (sie bauten gerade an ihrem Eigenheim). Eigentlich wollten sie seinen Rat einholen, aber stattdessen fanden sie Georg am Balken hängend und retteten sein Leben. Nachdem er aus dem Krankenhaus zurück war, schien er langsam wieder Lebensfreude zu entwickeln. Er hatte Pläne und blickte positiv in die Zukunft. Allerdings sprach er nicht über seinen Selbstmordversuch und niemand traute sich ihn darauf anzusprechen. Damals, Anfang der siebziger Jahre, waren die Menschen noch nicht so gut über das Thema Depressionen aufgeklärt. Es war ein absolutes Tabuthema für die meisten Menschen. Daher sprach ihn niemand darauf an, weil sie hofften, dass alles von allein gut werden würde. Wie sehr sie sich irrten, wurde jetzt deutlich. Diesmal hatte er alles besser geplant, er wollte seine Tochter aus dem Kindergarten abholen! Das hatte er noch nie gemacht! Er hatte den Nachmittag mit seiner Tochter verplant und schmiedete mit ihr Pläne. Er war fröhlich. Die Tage zuvor hatten sie so entspannt und glücklich wie selten zuvor verbracht. Wahrscheinlich wollte er so einen Überraschungsbesuch verhindern, der ihm eventuell nochmal sein Leben retten würde. Aber das sind nur Vermutungen, auf die wir niemals eine Antwort bekommen würden.



Das Leben ohne Papa!

Als Hanna und Martha nach Hause kommen, fahren Paul, Oma und Mia gerade auf den Hof. Mia nimmt Martha auf den Arm und meint lächelnd zu ihr: „Komm, wir gehen zu Rex.“
Rex ist ihr Schäferhund, den Martha abgöttisch liebt. Oma nimmt Hanna fest in den Arm: „Der Herr allein weiß den Sinn von allem.“ Alle sind sichtlich betroffen und sprachlos. Sie gehen zusammen ins Haus. „Wo hat er sich denn erhängt?“, fragt Paul zaghaft. „Auf dem Dachboden im neuen Haus“, kann Hanna gerade noch antworten, bevor sie unter Tränen zusammenbricht. Der Notarzt hatte ihr zwar Beruhigungsmittel verabreicht, aber sie zeigten im Anbetracht dieser Tragödie nur geringe Wirkung. Die Tage vergingen gedrückt langsam. Sie hatten jede Freude verloren. Mit Oma, Mia und Paul fühlte Martha wenigstens noch einen Hauch von Geborgenheit. Sie spielten mit Martha und kümmerten sich um den Haushalt, um Rex und die Mahlzeiten. Aber natürlich mussten sie irgendwann auch wieder in ihren Alltag zurück und die beiden waren allein. Irgendwann hatte sich ihr Alltag halbwegs eingespielt, aber der Schleier der Traurigkeit hing schmerzhaft über den beiden. Abend für Abend stand Martha am Fenster und wartete auf die Wolke, die sie und ihre Mutter hinauf zum geliebten Vater bringen sollte. Ihre Mutter brachte sie von dort aus ins Bett und kuschelte mit ihr, bis sie eingeschlafen war. Wenn sie am Morgen ihre Augen aufschlug, lag Hanna neben ihr, bis der Wecker beide in den Tag drängte. So war es immer, bis zu dieser einen Nacht! Wie gewohnt war Martha in Hannas Armen eingeschlafen, aber als sie dieses Mal aufwachte, war es stockfinster und gespenstisch still. Vorsichtig tastete sie neben sich das Kissen ab. „Mama!“, flüsterte sie. „Mama!“ Sie rief lauter und lauter, bis ins panische Schreien. „Mama, Mama!“ Niemand antwortete. Es war totenstill! Martha konnte ihr Herz pochen hören, so still war es im Haus. Wo ist Mama? Angst stieg in ihr hoch. Wenn ihr jetzt auch was Schlimmes passiert war! Dann war sie allein! Vorsichtig stieg sie aus dem großen Bett auf und knipste das Licht an. Sie öffnete die Schlafzimmertür und blinzelte in den ebenso dunklen Flur. Zitternd ging sie Schritt für Schritt weiter bis zur Haustür, legte sachte ihre Hand auf die Türklinke und drückte sie runter, um sie aufzuziehen. Aber die Tür ließ sich nicht öffnen. Sie drückte und zog nach Leibeskräften, aber sie blieb verschlossen. Links neben der Tür ging es in die Küche, das Kind ging rein, schaltete das Licht an und entdeckte ein großes Fenster, das auf Kippe stand. Von draußen waren Geräusche zu hören. Ein Klopfen, Hämmern und leise Stimmen. Martha zog sich einen Stuhl zum Fenster, kletterte hinauf und versuchte dieses Fenster, das dreimal so groß war wie sie selbst, irgendwie aufzubekommen. Nach einer gefühlten Ewigkeit war es endlich offen und sie sprang mutig von der Fensterbank in die Dunkelheit. Einen Moment verharrte sie vor dem Fenster, bevor sie sich langsam die Stufen runtertastete, immer das Geländer fest umklammert. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an die Finsternis und sie sah das neue Haus, das sich ja auf demselben Grundstück befand und schon sein Richtfest gefeiert hatte. Es war von innen hell erleuchtet und bot den einzigen Lichtpunkt weit und breit. Schritt für Schritt näherte sie sich dem Eingang. Rex bellte aus seinem Zwinger, der von der Dunkelheit verschlungen schien. Zitternd setzte Martha einen Fuß auf die erste Stufe, die zweite und die dritte, dann endlich die letzte. Plötzlich spürte sie den Ärger, der gleich folgen würde. Die Tür war verschlossen. „Mama! Mama“, rief sie, so laut sie konnte. Nichts! „Mama!“ Jetzt entdeckte sie die Klingel. Sie klingelte Sturm! Jemand drückte den Türsummer. Martha stemmte sich gegen die schwere Tür und gelang endlich ins Haus. Das Treppenhaus schien riesig, mit seiner Betontreppe noch ohne Geländer. „Mama! Mama! Martha!“, rief Marta und guckte von ganz oben runter. „Ich komme.“ Erleichterung! Hanna rannte die erste Etage runter, wurde dort von Papas Schwester abgefangen. „Mach weiter, ich bringe sie schnell wieder ins Bett.“ Mit lauten Schritten stampfte sie die Treppe runter und zog Martha wutschnaubend hinter sich her, steckte sie wieder ins Bett und ließ sie im dunklen Haus allein zurück. Von nun an folgten viele solcher Nächte. Nur dass Martha nicht mehr nachts aus dem Fenster kletterte, sondern Nacht für Nacht im verschlossenen Haus regungslos im Bett lag und darauf wartete, endlich von ihrem Vater geholt zu werden, um auf einer Wolke in den Himmel zu fliegen. Denn sie gab sich die Schuld für seinen Tod! Sie dachte, es sei ihre Strafe, weil sie den Jungen im Kindergarten geärgert hatte und ihr deswegen der Papa weggenommen worden war. Davon war sie überzeugt! Sie beschloss, nie wieder in ihrem Leben böse zu sein!

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